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Literatur
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (16)
Im Donaudelta
Von Harry Popow

Große Abwechslung in der Zeit vom 24. Mai bis zum 28. Mai 1982. Eine Woche vor Pfingsten: Dienstreise mit einer Minister-Militärdelegation nach Rumänien. Henry wurde von der Chefredaktion beauftragt, als Reporter die Berichterstattung zu übernehmen. Gleich nach der Ankunft in Bukarest sollte er den Ankunftsbericht an die Redaktion in Berlin schicken und den ständigen ADN-Korrespondenten in Bukarest um Hilfe bitten, den Artikel per Fernschreiben zu übersenden. Ansonsten soll Henry – so sein Auftrag - eine ganze Seite bei Rückkehr liefern. Schwüle Hitze in Bukarest, 30 Grad! Zuerst beziehen die Delegationsleute Quartier. Tolles Appartement. Henry schaut auf die Uhr – noch zwei Stunden Zeit bis zur Abfahrt zum Empfang beim rumänischen Verteidigungsminister. Er legt seine neue Uniformbluse zurecht, auch die dazugehörigen nagelneuen Schulterstücke, sitzt im Unterhemd am Tisch, klappt die Schreibmaschine auf, beginnt in aller Ruhe den leicht vorgefertigten Text der Ankunft zu präzisieren und Bildunterschriften zu formulieren. Wenn nur die verdammte Hitze nicht wäre.

Plötzlich stürmisches Klopfen an seiner Zimmertüre. Der Bildreporter: „Mensch, die fahren gleich ab, komm runter, beeile dich!“ Henry ist die Ruhe in Person. Er zeigt auf seine Armbanduhr. Noch viel Zeit. Constantin schüttelt den Kopf. Nun fährt dem Reporter der Sekundenschreck in die Glieder. Verdammter Mist! Er hatte vergessen, im Flugzeug die Uhr um eine Stunde zu verstellen. Schnell die Schulterstücke auf die neue, extra im Ministerium empfangene, beigefarbene Bluse geknöpft. Die Hände zittern. Jetzt zählen Sekunden. Wenn die ohne mich abfahren, schießt es Henry durch den Kopf, kann ich meinen Artikel nicht losschicken, eine Katastrophe, denn die in Berlin warten darauf. Er muss ihn außerdem dem allerobersten Politchef, der der Delegation angehört, noch vor dem Absenden vorlegen. So geschwitzt hat er lange nicht mehr ... Unten am Bus großes Aufatmen. Alle sitzen in ihren Sesseln, bereit zur Abfahrt, aber der Verteidigungsminister fehlt noch ... So ein Glück! Dessen kleine Unpünktlichkeit ist des Reporters Rettung. Ein Dacapo in dieser Art darf es einfach nicht mehr geben – so sein innerer Schwur. Alles weitere verläuft wie vorausgedacht, die Unterschrift vom General, das Übersenden per Fernschreiben. Na bitte!

Die folgenden Tage: Gemeinsame Sitzungen mit den Gastgebern, kilometerlange Autofahrten und Flüge mit kleinen Transportmaschinen. Einmal großer Empfang beim rumänischen Verteidigungsminister. Die Abgesandten aus der DDR erhalten Auszeichnungen – auch Henry. Es ist ein „Vladimireskow-Orden“ Damit gehört auch er zu den tapferen rumänischen Kämpfern gegen die Türkenherrschaft in den vergangenen Jahrhunderten!! Der Höhepunkt der Reise: das Donaudelta, zu dem man am 26.5. von der Hafenstadt Tulcea aus aufbricht. Henry ist aufnahmebereit für all das Schöne und Außergewöhnliche dieser Reise. Über zwei Tage mit dem Dampfer unterwegs. Schlammiges, grau-braunes Wasser. Fischer auf kleinen Inselchen in uralten Hütten. Pelikane. Fisch gibt es zu Mittag, zum Abend. Mal gebraten, mal gekocht, mal geräuchert, mal eingelegt. Die „Oberen“ nehmen ordentliche Schlucke dazu, Henry, der dienstbeflissene Reporter, mag’s nicht, hält lieber die Augen offen. Constantin schießt auch von ihm ein Foto auf dem Deck des Dampfers.

Übernachtung im „Weißen Schwan“, weit draußen im Delta, wo die Stille nur von surrenden Mückenschwärmen unterbrochen wird. Henry bekommt ein kleines wunderschönes Zimmer mit schneeweißen Möbeln und blauen Gardinen, am Fenster aber ein feinmaschiges Gitternetz, wegen der kleinen Quälgeister ... Das Frühstück am nächsten Morgen: Mehrere Milch- und Joghurtsorten, Wurst die Fülle, alles erlesene Sachen. Später das Mittagsmenü: Saure Fleischklößchensuppe, Hausen vom Grill, Tournedo mit Champignons (Gemüsebeilage und Gemischter Salat), Eis, Obst, Kaffee, Wodka, Jidvei Riesling, Cabernet, Valea Calgareasca, Murfatlar Weinbrand.

Rückflug in die DDR. Dem Journalisten ist schlecht. Einige Tabletten halten ihn aufrecht. Die anderen Mitglieder der Delegation dürfen von diesem Übel nichts merken, denn sonst hätte die ganze Truppe zu Quarantänemaßnahmen im Lande bleiben müssen, befürchtet der Reporter. Er schweigt also still vor sich hin und leidet. Es ist seltsam ruhig im Flugzeug, irgendwie gedrückt ist die Stimmung, aber vielleicht ist das nur seine Empfindung, ihm ist ja alles so wurscht ...

Endlich Landung auf dem Regierungsflughafen Marxwalde. Nur ein paar Kilometer bis Friedrichshagen – Henry ist endlich zu Hause. „Mäusel“, haucht er zu seinem Fraule und verschwindet blass und krank schleunigst im Bett. Am nächsten Tag – ein Sonnabend – steigt das Fieber auf 40 Grad. Wie soll das bloß werden, die ganze Seite muss noch geschrieben werden, Abgabe sofort. Der Oberstleutnant ruft seinen Chefredakteur an, versichert, dass er trotz Fieber den Termin halten werde. Eine Notärztin, Cleo hat sie per Telefon gerufen, kann mit ein paar Tabletten nur wenig helfen. Verdacht auf Ruhr? Im Bett liegend ordnet der Journalist seine Aufzeichnungen, Sonntag schreibt er - mit viel Mühe die Notizen durchforstend - , Pfingstmontag diktiert er alles seiner sehr hilfsbereiten und verständnisvollen Cleo in die Schreibmaschine (Manuskriptbogen hat er stets zu Hause, für alle Fälle), gegen 12 Uhr Mittag haucht er den letzten Satz der wohl insgesamt etwa 200 Schreibmaschinenzeilen der Cleo entgegen, da klingelt es an der Wohnungstür. Ein Kurier von der Redaktion. Er verstaut das Manuskript – und ab damit in die Druckerei, wo es von einem der Chefs noch einmal durchgesehen wird. Constantin hat indessen sicherlich die Fotos geliefert.

Am späten Nachmittag wiederum ein nervöses und lästiges Klingeln an der Gartenpforte. Was ist denn nun schon wieder? Soldaten stehen unten auf der Straße mit einem Sankra. Was soll denn das? Die überbringen – in aller Höflichkeit – einen Befehl: Henry muss mit seinem Sohn Patrick, weil es ihm ebenfalls nicht gut geht, ins Armeelazarett nach Bad Saarow. Der Rest der Familie darf die Wohnung nicht verlassen. Srenge Quarantäne. „Na fein,“ sagt da Cleo, „und wer kauft für uns ein?“ „Das übernehmen die Mediziner!“ „Dann ist ja alles gut“, meint Cleo. Pati und Henry steigen in den Sankra, ab durch die Mitte. Im Armeelazarett hat sich indessen die gesamte Delegation eingefunden. Alle mit Ruhrverdacht! Und keiner hatte dem anderen zuvor auch nur ein Wort geflüstert, denn übel war sicherlich fast allen. Ein freundliches Krankenzimmer für den Oberstleutnant und seinen Sohn. Er erfährt, in der Nähe ist auch der Fotoreporter Constantin untergebracht. Dieser schreibt ihm einen Zettel: „Lieber Henry! Jetzt haben sie uns völlig eingesperrt. Rufe doch bitte meine Frau an und teile ihr mit, wie es hier steht. Wir dürfen nichtmal die Toilette oder das Bad benutzen. (...) Ich liege auf der MED. III. Rufe doch mal Z. an und teile ihm mit, wie sie uns verladen haben. Sage außerdem, dass ich die s/w Filme von Oberst Sch. entwickelt im Trockenschrank hängen ließ. (...) Bis dann.“

Tage darauf liest Henry in der neuen VA-Ausgabe 23/82, die Seite ist gedruckt, ohne Änderungen. Über die Ursache der Erkrankung wurde nie etwas verlautet. Vermutlich verdorbener Fisch, irgendwie ... Letztendlich wurden nach und nach alle Mitglieder der Delegation aus dem Lazarett entlassen – Ruhr hat sich nicht bestätigt!

Bezeichnend für den Chefredakteur: Persönlich hat er sich für Henrys vollen Einsatz (trotz dessen Krankheit) niemals bedankt. Dafür gratuliert humorvoll Mama Tamara: „Lieber Colonel Poporesku! Eure Gnaden haben bei Eure unwürdige Mutter Euren wohlverdienten Orden vergessen. Er wird natürlich mit gebührender Hochachtung aufbewahrt. Was für eine großartige und einmalige Tat, das Land befreit von den Türken! Salute!“


Harry Popow: „Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten“



Druck und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, 500 Seiten, 26,99 Euro, Bestellen hier


Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 glücklich verheiratet.



Siehe auch:

Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
NRhZ 692 vom 13.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25625

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (2)
Weiße Armbinden
NRhZ 700 vom 10.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25802

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (3)
Träumender Trommler
NRhZ 701 vom 17.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25821

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (4)
Bei Präsident Pieck
NRhZ 702 vom 24.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25839

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (5)
Steinkohlen-Zeit: Der Autor als Berglehrling
NRhZ 703 vom 01.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25860

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (6)
Geologen-Zeit: Der Autor als Kollektor
NRhZ 704 vom 08.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25877

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (7)
Knobelbecher-Zeit
NRhZ 705 vom 15.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25903

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (9)
Tee mit Rum
NRhZ 706 vom 22.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25923

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (9)
Parade in Berlin: Der Autor als Offiziersschüler
NRhZ 707 vom 29.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25940

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (10)
Sekt in der Badewanne: Der Autor wird  Unterleutnant
NRhZ 708 vom 05.06.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25961

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (11)
Kopfarbeit gegen Herzschmerz
NRhZ 709 vom 12.06.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25979

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (12)
Nasse Füsse contra Kulturschande: Der Autor als Ausbilder
NRhZ 710 vom 19.06.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26002

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (13)
Contra Wortgeklingel: Der Autor als Politarbeiter
NRhZ 711 vom 26.06.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26020

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (14)
"Götter-Ohren" an Soldaten-Herzen
NRhZ 712 vom 03.07.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26039

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (15)
Der Reporter in Moskau
NRhZ 713 vom 17.07.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26059

Online-Flyer Nr. 714  vom 31.07.2019

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