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Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
Von Harry Popow
Kindheits- und Jugenderinnerungen der Mutter Tamara, und nicht nur ihre ... Henry erinnert sich (von Schweden will er viele Seiten später berichten): Ja, da war jenes Dorf Stemmnitz in Pommern, von dem seine Mutter schrieb. Es war ein kleines Dorf an der Wipper, nördlich von Schlawe, heute Slavno, das Henry und seine Geschwister Sophia, Alexander und Berno in den Jahren 1942/43 kennenlernen sollten. Sie wohnten in Berlin-Schöneberg in der Wartburgstraße. Berlin lag wohl schon zunehmend unter dem Bombenhagel der Allierten. Jedenfalls wurden Frauen mit Kindern evakuiert. Die Eltern wählten Stemmnitz, da dort Verwandte des Vaters lebten. Eines Nachts mussten die Kinder sehr früh aus den Betten. Etwa um zwei Uhr. Knapp drei Stunden später sollte der Zug nach Stettin fahren. Ein Taxi brachte die Familie, auch Oma Emma, zum Stettiner Bahnhof: Regennässe. Kopfsteinpflaster. Ein verdunkeltes Bahnhofsgebäude. Zugqualm. Pfeiftöne. Müdigkeit. Man fror. Endlich Abfahrt. Umsteigen in Stettin.
Wie lange waren sie unterwegs? Henry weiß es nicht mehr. Nur soviel, daß sie auf einem sehr abgelegenen kleinen Bahnhof ausstiegen. Soweit er sich erinnern kann, stand mitten im Dorf eine weiße Kirche mit einem hohen und schlanken Turm, die Straße führte rechts und links vorbei. Bauernhäuser mit riesigen Gehöften, mit Stallungen und großen Misthaufen. In der Nähe eine alte Windmühle. Die Familie kam auf einem Bauernhof in den oberen zwei Zimmern unter. Kopfsteinpflaster auf dem großen Hof, Kuhgebrüll, Schweinegekreische und Hühnergegacker. Auf der anderen Straßenseite haben Verwandte ihren Hof, ebenfalls Ziebells. Deren Tochter heißt Ruht und der Sohn Herrmann, der etwa siebzehn Jahre alt ist. Der nimmt den oft verträumten aber neugierigen Jungen mit zum Angeln an die Wipper. Einmal soll der Siebenjährige die Fische zum Hof bringen. Der spürt die Wichtigkeit dieses Auftrages und hofft, bald einen Abnehmer zu finden, um sich der Verantwortung zu entledigen. Aber im Hause des Onkels rührt sich nichts. Was tun? Henry kommt ein rettender Gedanke. Er legt die Fische auf ein umgedrehtes Holzfaß. Er sieht nur seine Aufgabe, übersieht aber die in der Nähe schnatternden und aufgeregten Gänse. Sein Fehler? Nein, seine erste Erfahrung. Nämlich umsichtig sein. Für alle Fälle! Denn kaum kehrt der Stadtjunge ihnen den Rücken, fallen sie auch schon über die reiche Beute her. Sein großer Freund Herrmann hat später geschimpft, und der Kleine bekommt zur Strafe abends keinen Fisch ab.
Überhaupt, Henry und seine Geschwister – sie fühlen sich als Stadtkinder sehr wohl auf dem Dorf, denn da riecht es –laut Henry - so gut nach Dung und Heu. Sehr wohl fühlt sich auch seine Schwester Sophia, denn sie wandert oft und gerne und man muss sie manchmal suchen. Wo treibt sie sich herum? Das hört Henry seine Mutter fragen. Man findet das eigenwillige Mädchen auf dem Friedhof, da hat sie sich die Blümchen auf den Grabstellen angesehen. Was sich besonders eingeprägt hat – das herrliche Vesper am Feldrand während der Ernte. Da gibt es immer Kaffee und Kuchen, meist Streußelkuchen. Im September muß Henry zur Schule, wie unangenehm. Eine Schiefertafel wurde besorgt und mehrere Griffel zum Schreiben. Der Gänsekiel, mit dem Henry so gerne geschrieben hätte, war nur für die größeren Kinder vorgesehen. Der Lehrer ist klein und dicklich, ein Herr Pommerening. Gelbe Uniform und Hakenkreuz am Ärmel, ein Ortsgruppenführer, wie aus den Reden der Eltern zu hören ist, und es klingt nicht gut.
Eines Tages im Unterricht fragt er den Henry-Knirps, wer Hitler sei. Der erschrickt. Er weiß es so genau nicht. Das war kein Thema zu Hause. Und rund heraus gesteht er seine Unwissenheit. Da hat er plötzlich eine Ohrfeige im Gesicht, dann noch eine zweite auf die andere Wange. „Raus!“, brüllt der Dicke. Der gedemütigte Junge muss den Unterricht verlassen. Mama und eine Bekannte – Papa arbeitet in einem anderen Ort und ist selten zu Hause - schauen sich bedeutungsvoll an, sagen, dass es nicht so schlimm sei, den Namen dieses Hitler nicht zu wissen, und der Schuljunge, der tief beleidigte, denn Schläge sind den Ziebellkindern eine unbekannte Größe, atmet erleichtert auf. Irgendwann taucht der kleine Hakenkreuzmensch – es ist bereits abends - bei den Ziebells zu Hause auf. „Frau Ziebell, ich habe keine Nachricht von meinem Sohn an der Ostfront, haben sie keine Verbindung mit ihren Landsleuten ...?“ Mama ist schlau und auf der Hut. Sie zuckt mit den Schultern, sagt nichts. Wie auch, das wäre lebensgefährlich für sie gewesen, weiß Henry später.
Inzwischen ist es Winter geworden. Tiefer Schnee, große Kälte. Henry hat einen Traum. Ein eigener Schlitten für uns Kinder, das wäre schön. Papa redet mit dem Stellmacher des Ortes. Der verspricht, einen Holzschlitten zu bauen, so wie er Zeit hat. Also schleicht er immer öfter an der Schmiede vorüber, aber der Mann schüttelt immer wieder den Kopf, zuviel andere Sachen habe er zu stellmachern. Doch zu Weihnachten steht der Schlitten unter dem Weihnachtsbaum. Beim Spielen fällt Henrys vier Jahre jüngerer Bruder Alexander auf den Hinterkopf. Er wird mit dem Pferdefuhrwerk nach Schlawe (heute Slawno) ins Kreiskrankenhaus gefahren. Mama legt heimwärts die Hälfte der Strecke (etwa zehn Kilometer) mit einem Fuhrwerk zurück, den Rest zu Fuß. Drei Tage Todeskampf um das Leben des Bruders. Drei Tage Tränen der Mutter. Dann kommt die Nachricht per Telefon: Alexander ist gerettet. Mama nimmt Henry mit ins Krankenhaus. Alexanders erste Worte: „Apfel haben ...“ Äpfel! Woher nehmen? Henry weiß es nicht mehr, ob Mama Äpfel besorgen konnte. Unvergesslich aber für Henry: Die kriegsgefangenen Franzosen – sie hausen im Stall des Vermieters, denn sie helfen der Familie Ziebell, wie schon so oft, mit allerlei guten Sachen. Eines Tages fährt ein alter Mann auf der Dorfstraße mit dem Fahrrad. Er sieht Mama, klingelt und ruft ganz aufgeregt: „Frau Ziebell, sofort zum Ortsgruppenführer!“ Der herrscht sie mit hochrotem Kopf und hasserfüllt an: „Innerhalb einer Woche hat ihre Familie das Dorf zu verlassen!“
Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“
Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3
Zum Inhalt:
Ausgangssituation ist Schweden und das Haus, in dem die Popows wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Beginn und dem erfolgreichen Abschluss der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verstoßen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich falsche Schlussfolgerungen zieht.
Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen neue politische Ungereimtheiten und Dummheiten ihn mitunter aufbringen – trotz seiner sehr glücklichen Ehe. Das „Nur Private“ ist nichts für ihn – er bleibt ein Suchender!
Online-Flyer Nr. 692 vom 13.02.2019
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Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
Von Harry Popow
Kindheits- und Jugenderinnerungen der Mutter Tamara, und nicht nur ihre ... Henry erinnert sich (von Schweden will er viele Seiten später berichten): Ja, da war jenes Dorf Stemmnitz in Pommern, von dem seine Mutter schrieb. Es war ein kleines Dorf an der Wipper, nördlich von Schlawe, heute Slavno, das Henry und seine Geschwister Sophia, Alexander und Berno in den Jahren 1942/43 kennenlernen sollten. Sie wohnten in Berlin-Schöneberg in der Wartburgstraße. Berlin lag wohl schon zunehmend unter dem Bombenhagel der Allierten. Jedenfalls wurden Frauen mit Kindern evakuiert. Die Eltern wählten Stemmnitz, da dort Verwandte des Vaters lebten. Eines Nachts mussten die Kinder sehr früh aus den Betten. Etwa um zwei Uhr. Knapp drei Stunden später sollte der Zug nach Stettin fahren. Ein Taxi brachte die Familie, auch Oma Emma, zum Stettiner Bahnhof: Regennässe. Kopfsteinpflaster. Ein verdunkeltes Bahnhofsgebäude. Zugqualm. Pfeiftöne. Müdigkeit. Man fror. Endlich Abfahrt. Umsteigen in Stettin.
Wie lange waren sie unterwegs? Henry weiß es nicht mehr. Nur soviel, daß sie auf einem sehr abgelegenen kleinen Bahnhof ausstiegen. Soweit er sich erinnern kann, stand mitten im Dorf eine weiße Kirche mit einem hohen und schlanken Turm, die Straße führte rechts und links vorbei. Bauernhäuser mit riesigen Gehöften, mit Stallungen und großen Misthaufen. In der Nähe eine alte Windmühle. Die Familie kam auf einem Bauernhof in den oberen zwei Zimmern unter. Kopfsteinpflaster auf dem großen Hof, Kuhgebrüll, Schweinegekreische und Hühnergegacker. Auf der anderen Straßenseite haben Verwandte ihren Hof, ebenfalls Ziebells. Deren Tochter heißt Ruht und der Sohn Herrmann, der etwa siebzehn Jahre alt ist. Der nimmt den oft verträumten aber neugierigen Jungen mit zum Angeln an die Wipper. Einmal soll der Siebenjährige die Fische zum Hof bringen. Der spürt die Wichtigkeit dieses Auftrages und hofft, bald einen Abnehmer zu finden, um sich der Verantwortung zu entledigen. Aber im Hause des Onkels rührt sich nichts. Was tun? Henry kommt ein rettender Gedanke. Er legt die Fische auf ein umgedrehtes Holzfaß. Er sieht nur seine Aufgabe, übersieht aber die in der Nähe schnatternden und aufgeregten Gänse. Sein Fehler? Nein, seine erste Erfahrung. Nämlich umsichtig sein. Für alle Fälle! Denn kaum kehrt der Stadtjunge ihnen den Rücken, fallen sie auch schon über die reiche Beute her. Sein großer Freund Herrmann hat später geschimpft, und der Kleine bekommt zur Strafe abends keinen Fisch ab.
Überhaupt, Henry und seine Geschwister – sie fühlen sich als Stadtkinder sehr wohl auf dem Dorf, denn da riecht es –laut Henry - so gut nach Dung und Heu. Sehr wohl fühlt sich auch seine Schwester Sophia, denn sie wandert oft und gerne und man muss sie manchmal suchen. Wo treibt sie sich herum? Das hört Henry seine Mutter fragen. Man findet das eigenwillige Mädchen auf dem Friedhof, da hat sie sich die Blümchen auf den Grabstellen angesehen. Was sich besonders eingeprägt hat – das herrliche Vesper am Feldrand während der Ernte. Da gibt es immer Kaffee und Kuchen, meist Streußelkuchen. Im September muß Henry zur Schule, wie unangenehm. Eine Schiefertafel wurde besorgt und mehrere Griffel zum Schreiben. Der Gänsekiel, mit dem Henry so gerne geschrieben hätte, war nur für die größeren Kinder vorgesehen. Der Lehrer ist klein und dicklich, ein Herr Pommerening. Gelbe Uniform und Hakenkreuz am Ärmel, ein Ortsgruppenführer, wie aus den Reden der Eltern zu hören ist, und es klingt nicht gut.
Eines Tages im Unterricht fragt er den Henry-Knirps, wer Hitler sei. Der erschrickt. Er weiß es so genau nicht. Das war kein Thema zu Hause. Und rund heraus gesteht er seine Unwissenheit. Da hat er plötzlich eine Ohrfeige im Gesicht, dann noch eine zweite auf die andere Wange. „Raus!“, brüllt der Dicke. Der gedemütigte Junge muss den Unterricht verlassen. Mama und eine Bekannte – Papa arbeitet in einem anderen Ort und ist selten zu Hause - schauen sich bedeutungsvoll an, sagen, dass es nicht so schlimm sei, den Namen dieses Hitler nicht zu wissen, und der Schuljunge, der tief beleidigte, denn Schläge sind den Ziebellkindern eine unbekannte Größe, atmet erleichtert auf. Irgendwann taucht der kleine Hakenkreuzmensch – es ist bereits abends - bei den Ziebells zu Hause auf. „Frau Ziebell, ich habe keine Nachricht von meinem Sohn an der Ostfront, haben sie keine Verbindung mit ihren Landsleuten ...?“ Mama ist schlau und auf der Hut. Sie zuckt mit den Schultern, sagt nichts. Wie auch, das wäre lebensgefährlich für sie gewesen, weiß Henry später.
Inzwischen ist es Winter geworden. Tiefer Schnee, große Kälte. Henry hat einen Traum. Ein eigener Schlitten für uns Kinder, das wäre schön. Papa redet mit dem Stellmacher des Ortes. Der verspricht, einen Holzschlitten zu bauen, so wie er Zeit hat. Also schleicht er immer öfter an der Schmiede vorüber, aber der Mann schüttelt immer wieder den Kopf, zuviel andere Sachen habe er zu stellmachern. Doch zu Weihnachten steht der Schlitten unter dem Weihnachtsbaum. Beim Spielen fällt Henrys vier Jahre jüngerer Bruder Alexander auf den Hinterkopf. Er wird mit dem Pferdefuhrwerk nach Schlawe (heute Slawno) ins Kreiskrankenhaus gefahren. Mama legt heimwärts die Hälfte der Strecke (etwa zehn Kilometer) mit einem Fuhrwerk zurück, den Rest zu Fuß. Drei Tage Todeskampf um das Leben des Bruders. Drei Tage Tränen der Mutter. Dann kommt die Nachricht per Telefon: Alexander ist gerettet. Mama nimmt Henry mit ins Krankenhaus. Alexanders erste Worte: „Apfel haben ...“ Äpfel! Woher nehmen? Henry weiß es nicht mehr, ob Mama Äpfel besorgen konnte. Unvergesslich aber für Henry: Die kriegsgefangenen Franzosen – sie hausen im Stall des Vermieters, denn sie helfen der Familie Ziebell, wie schon so oft, mit allerlei guten Sachen. Eines Tages fährt ein alter Mann auf der Dorfstraße mit dem Fahrrad. Er sieht Mama, klingelt und ruft ganz aufgeregt: „Frau Ziebell, sofort zum Ortsgruppenführer!“ Der herrscht sie mit hochrotem Kopf und hasserfüllt an: „Innerhalb einer Woche hat ihre Familie das Dorf zu verlassen!“
Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“
Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3
Zum Inhalt:
Ausgangssituation ist Schweden und das Haus, in dem die Popows wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Beginn und dem erfolgreichen Abschluss der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verstoßen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich falsche Schlussfolgerungen zieht.
Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen neue politische Ungereimtheiten und Dummheiten ihn mitunter aufbringen – trotz seiner sehr glücklichen Ehe. Das „Nur Private“ ist nichts für ihn – er bleibt ein Suchender!
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