NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

zurück  
Druckversion

Kultur und Wissen
Den Menschen zur Natur zurückführen. Paul Thiry d’Holbach
Die Menschen müssen die Wahrheit erfahren
Von Rudolf Hänsel

„Der Mensch ist nur darum unglücklich, weil er die Natur verkennt. Sein Geist ist durch Vorurteile derart verseucht, dass man glauben könnte, er sei für immer zum Irrtum verdammt: er ist mit dem Schleier der Anschauungen, den man von Kindheit an über ihn breitet, so fest verwachsen, dass er nur mit der größten Mühe daraus gelöst werden kann.“ (1) Dies schrieb vor rund 250 Jahren der französische Aufklärer und Enzyklopädist Baron Paul-Henry Thiry d’Holbach im Vorwort seines vom französischen Klerus als „gotteslästerlich und aufrührerisch“ diskreditieren Buches „System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt“. Am Vorabend der Französischen Revolution im Jahre 1789 starb d‘Holbach.

Lebten die Menschen im Mittelalter noch in einer magischen Welt, in der die Naturvorgänge scheinbar übernatürlichen Gewalten unterworfen waren, so hat sich mit Anbruch der Neuzeit im europäischen Leben und Denken eine entscheidende Wandlung angebahnt: Die Menschen besannen sich auf sich selbst und begannen, ihre Stellung im Weltganzen zu erkennen und zu gestalten. Die Autorität der Bibel – bis anhin die einzige Quelle der Weisheit – trat mehr und mehr in den Hintergrund und die Forscher begannen, die Natur selber zu befragen, im großen Buche der Natur zu lesen.

Zunächst waren es kühne Einzelne, die der Forschung den Weg bahnten und die Selbständigkeit ihres Denkens manchmal mit ihrem Leben bezahlten. Deshalb erschienen auch d‘Holbachs Bücher „System der Natur“ (1770) und „Der gesunde Menschenverstand oder das religiöse Testament des Pfarrers Meslier aus Étrépigny“ („LE BONS SENS DU CURE MESLIER“) (1772) unter fingierter Autorenschaft (2).

Mit seinen Werken will d’Holbach nach eigener Aussage den Menschen zur Natur zurückführen, ihm Achtung vor der Vernunft und Ehrfurcht vor der Tugend wiedergeben und die Schatten vertreiben, die ihm den einzigen Weg verbergen, der ihn sicher zu jener Glückseligkeit führen kann, die er erstrebt. Er verfolge damit keine andere Absicht als das Glück seiner Mitmenschen. Aus Ehrgeiz will er auch den Beifall „der kleinen Zahl von Parteigängern der Wahrheit“ und von „rechtschaffenen Menschen, die sie aufrichtig suchen“. (3)

Der Mensch ist nur darum unglücklich, weil er die Natur verkennt.

Im Vorwort des 1770 erschienenen Schlüsselwerks der militant-bürgerlichen Aufklärung „System der Natur“ schreibt d’Holbach:
    „Der Mensch missachtete das Studium der Natur, um Phantomen nachzulaufen, die ihn wie die Irrlichter, die der Wanderer des Nachts erblickt, erschreckten, ihn blendeten und ihn vom einfachen Wege des Wahren abbrachten, ohne den er nicht zum Glück gelangen kann.
    Es ist also wichtig, dass man sich bemüht, die Blendwerke zu zerstören, die nur geeignet sind, uns irrezuführen. Es ist an der Zeit, gegen die Übel, welche die Schwärmerei über uns gebracht hat, Heilmittel aus der Natur zu schöpfen: die von der Erfahrung geleitete Vernunft muss endlich die Vorurteile, denen das Menschengeschlecht so lange verfallen ist, an der Wurzel packen. Es ist an der Zeit, dass die ungerechtfertigterweise herabgesetzte Vernunft den kleinmütigen Ton aufgibt, der sie zum Mitschuldigen der Lüge und des Irrsinns macht.

    Es gibt nur eine Wahrheit: sie ist für den Menschen notwendig, sie kann ihm niemals schaden, ihre unbesiegbare Macht wird sich früher oder später offenbaren. Daher muss sie dem menschlichen Geschlecht enthüllt werden; ihre Reize müssen ihm gezeigt werden, (…).

    Versuchen wir also, die Nebel zu verscheuchen, die den Menschen daran hindern, mit sicherem Schritt auf seinem Lebensweg voranzuschreiten, flößen wir ihm Mut und Achtung vor seiner Vernunft ein; er lerne sein Wesen und seine legitimen Recht erkennen; er frage die Erfahrung um Rat und verzichte auf die Vorurteile seiner Kindheit; er gründe seine Moral auf seine Natur, seine Bedürfnisse, seine wirklichen Vorteile, welche die Gesellschaft ihm gewährt; er wage es, sich selbst zu lieben, er arbeite für sein eigenes Glück, indem er dasjenige der anderen fördert; mit einem Wort: er sei vernünftig und tugendhaft, um hier auf dieser Erde glücklich zu sein, und beschäftige sich nicht mit gefährlichen und unnützen Träumereien!

    Wenn er Hirngespinste braucht, so erlaube er wenigstens den anderen, dass sie sich eigene zusammenspinnen, die sich von den seinigen unterscheiden; er überzeuge sich schließlich davon, dass es für die Bewohner dieser Erde sehr wichtig ist, gerecht, wohltätig und friedliebend zu sein, und dass nichts belangloser ist, als über Dinge nachzudenken, die der Vernunft unzugänglich sind.“ (4)
Den Menschen die Wahrheit zeigen

In seinem zwei Jahre später – im Jahr 1772 – erschienenen Buch „Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier“ schreibt d’Holbach bereits in der Einleitung (Orthographie, Interpunktion und Satzstellung wurden unverändert übernommen):
    „Es ist vergebene Mühe, die Menschen von ihren Lastern heilen zu wollen, wenn man nicht mit der Heilung ihrer Vorurtheile beginnt. Man muss ihnen die Wahrheit zeigen, damit sie ihre theuersten Interessen kennen lernen, und die wahren Motive, welche sie der Tugend und ihrem wahren Glück zuführen.

    Die Volkslehrer haben lange genug ihre Augen zu dem Himmel erhoben; möchten sie endlich sie der Erde zuwenden! Gebeugt durch die unbegreifliche Theologie, durch lächerliche Fabeln, durch undurchdringliche Mysterien, durch kindliche Ceremonien, möchte der Mensch doch endlich sich mit natürlichen Dingen, mit verständlichen Gegenständen, mit sichtbaren Wahrheiten, mit nützlichen Kenntnissen befassen ! Man beseitige die eitlen Chimären, welche die Menschen in Fesseln halten; und die vernünftigen Gedanken werden gleichsam von selbst in den Köpfen Wurzel fassen, von denen man glaubte, sie seine für ewigen Irrthum bestimmt.

    (…)

    Um die wahren Prinzipien der Moral zu entdecken, bedarf der Mensch weder der Theologie, noch einer Offenbarung, noch eines Gottes; er bedarf bloss eines gesunden Verstandes; er braucht nur in sich selbst zu blicken, seine eigene Natur zu erforschen, seine Vortheile zu berücksichtigen, den Zweck der Gesellschaft und aller ihrer Mitglieder zu betrachten, und er wird leicht zur Einsicht kommen, dass die Tugend glücklich und das Laster unglücklich macht.

    Sagen wir den Menschen, dass sie gerecht sein sollen, wohltätig, mäßig und gesellig, nicht weil es ihre Götter verlangen, sondern weil man seinen Nebenmenschen zu gefallen suchen muss; sagen wir ihnen, dass sie sich der Sünde und des Lasters enthalten sollen, nicht weil man in einer andern Welt gestraft wird, sondern weil sich das Böse schon in diesem Leben bestraft. (…).

    Die Wahrheit ist einfach; der Irrthum ist compliziert, unsicher in seinem Gange und von Abwegen umgeben. Die Stimme der Natur ist verständlich; die der Lüge ist zweideutig, räthselhaft, mysteriös. Der Weg der Wahrheit ist gerade, jener des Betruges ist krumm und finster. Diese Wahrheit ist allen Menschen nothwendig, und wird von allen Gerechten gefühlt. Die Lehren der Vernunft sind für alle Jene, die redlichen Gemütes sind. Die Menschen sind unglücklich, weil sie unwissend sind; sie sind unwissend, weil sich alles gegen ihre Aufklärung verschwört, und bloss darum schlecht, weil ihre Denkkräfte nicht hinreichend entwickelt.“ (5)

Fussnoten:

(1) d’Holbach, P.-H.T. (1978). System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Frankfurt am Main, S. 11
(2) d‘ Holbach, P.-H. T. (1976). Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier. Kritische Gedanken über die Religion und ihre Auswirkung auf die kulturelle Entwicklung. Vita Nova Verlag. Zürich
(3) d’Holbach, P.-H.T. (1978). System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Frankfurt am Main, S. 13
(4) A. a. O., S. 11 ff.
(5) d‘ Holbach, P.-H. T. (1976). Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier. Kritische Gedanken über die Religion und ihre Auswirkung auf die kulturelle Entwicklung. Vita Nova Verlag. Zürich, S. 4 ff.


Siehe auch:

Den Menschen zur Natur zurückführen. Paul Thiry d’Holbach (Teil II)
Das Wesen des Menschen besteht darin, zu empfinden, zu denken und zu handeln
Von Rudolf Hänsel
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28333




English version:
Bringing People Back to Nature. Paul Thiry d'Holbach
People need to know the truth

By Dr. Rudolf Hänsel

"Man is unhappy only because he misjudges nature. His mind is so contaminated by prejudices that one could believe he is condemned to error forever: he is so firmly grown together with the veil of views which is spread over him from childhood that he can only be released from it with the greatest difficulty." (1) This was written some 250 years ago by the French Enlightenment philosopher and encyclopaedist Baron Paul-Henry Thiry d'Holbach in the preface to his book System of Nature or of the Laws of the Physical and Moral World, which was discredited by the French clergy as "blasphemous and seditious". D'Holbach died on the eve of the French Revolution in 1789.

While people in the Middle Ages still lived in a magical world in which natural processes were apparently subject to supernatural powers, a decisive change in European life and thought began with the dawn of the modern age: people became aware of themselves and began to recognise and shape their position in the world as a whole. The authority of the Bible – until then the only source of wisdom – receded more and more into the background and researchers began to question nature itself, to read the great book of nature.

At first, it was bold individuals who paved the way for research and sometimes paid for the independence of their thinking with their lives. This is why d'Holbach's books "System of Nature" (1770) and "Common Sense or the Religious Testament of Father Meslier from Étrépigny" ("LE BONS SENS DU CURE MESLIER") (1772) were published under fictitious authorship (2).

With his works, d'Holbach says he wants to lead man back to nature, to restore respect for reason and reverence for virtue, and to dispel the shadows that hide the only path that can lead him safely to the happiness he seeks. He pursues no other intention than the happiness of his fellow men. Out of ambition he also wants the applause of "the small number of partisans of the truth" and of "righteous people who sincerely seek it". (3)

Man is only unhappy because he misjudges nature.

In the preface to the key work of the militant-bourgeois Enlightenment, System of Nature, published in 1770, d'Holbach writes:
    "Man disregarded the study of nature in order to run after phantoms which, like the will-o'-the-wisps which the wanderer sees at night, frightened him, dazzled him, and led him away from the simple path of truth, without which he cannot attain happiness.

    It is therefore important to endeavour to destroy the dazzling works which are only capable of misleading us. It is time to draw remedies from nature against the evils that enthusiasm has brought upon us: reason, guided by experience, must finally get to the root of the prejudices to which the human race has so long fallen prey. It is time for reason, which has been unjustly disparaged, to abandon the pusillanimous tone that makes it complicit in lies and madness.

    There is only one truth: it is necessary for man, it can never harm him, its invincible power will reveal itself sooner or later. Therefore, it must be revealed to the human race; its charms must be shown to it, (...).

    Let us try, then, to dispel the mists which prevent man from advancing with a sure step on his path of life, let us instil in him courage and respect for his reason; let him learn to recognise his nature and his legitimate right; let him ask the advice of experience and renounce the prejudices of his childhood; let him base his morality on his nature, his needs, his real advantages which society affords him; let him dare to love himself, let him work for his own happiness by promoting that of others; in a word: let him be sensible and virtuous in order to be happy here on this earth, and do not occupy himself with dangerous and useless reveries!

    If he needs fantasies, let him at least allow others to spin up their own, which are different from his own; finally, let him convince himself that it is very important for the inhabitants of this earth to be just, charitable, and peace-loving, and that nothing is more trivial than to think about things inaccessible to reason." (4)
Showing people the truth.

In his book "The Common Sense of the Reverend Meslier", published two years later – in 1772 – d'Holbach already writes in the introduction (orthography, punctuation and sentence order have been adopted unchanged):
    "It is a vain effort to try to cure people of their vices if one does not begin by curing their prejudices. They must be shown the truth, so that they learn to know their dearest interests and the true motives that lead them to virtue and their true happiness.

    The teachers of the people have long enough raised their eyes to heaven; would they at last turn them to earth! Bowed down by incomprehensible theology, by ridiculous fables, by impenetrable mysteries, by childish ceremonies, let man at last concern himself with natural things, with intelligible objects, with visible truths, with useful knowledge ! Remove the vain chimeras which hold men in bondage; and sensible thoughts will, as it were, take root of their own accord in the minds of which one believed they were destined for eternal error.

    (...)

    To discover the true principles of morality, man needs neither theology, nor revelation, nor God; he needs only a sound mind; he has only to look within himself, to investigate his own nature, to consider his advantages, to consider the purpose of society and of all its members, and he will easily come to the conclusion that virtue makes happy and vice makes unhappy.

    Let us tell men to be just, charitable, temperate, and sociable, not because their gods demand it, but because one must seek to please one's fellow men; let us tell them to abstain from sin and vice, not because one will be punished in another world, but because evil already punishes itself in this life. (...).

    Truth is simple; error is complicated, uncertain in its course and surrounded by deviations. The voice of nature is intelligible; that of falsehood is ambiguous, enigmatic, mysterious. The path of truth is straight, that of deceit is crooked and dark. This truth is necessary to all men, and is felt by all the righteous. The teachings of reason are for all those who are of an honest mind. Men are unhappy because they are ignorant; they are ignorant because everything conspires against their enlightenment, and are bad merely because their powers of thought are not sufficiently developed." (5)

Footnotes:

(1) d'Holbach, P.-H.T. (1978). System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Frankfurt am Main, p. 11
(2) d' Holbach, P.-H. T. (1976). The common sense of the priest Meslier. Critical thoughts on religion and its effect on cultural development. Vita Nova Publishers. Zurich
(3) d'Holbach, P.-H.T. (1978). System of Nature or of the Laws of the Physical and Moral World. Frankfurt am Main, p. 13
(4) op. cit., p. 11 ff.
(5) d' Holbach, P.-H. T. (1976). The common sense of the priest Meslier. Critical thoughts on religion and its impact on cultural development. Vita Nova Publishers. Zurich, p. 4 ff.


See also:

Returning Man to Nature. Paul Thiry d'Holbach (Part II)
The essence of man is to feel, to think and to act
By Dr. Rudolf Hänsel
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28333


Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Lehrer (Rektor a. D.), Doktor der Pädagogik (Dr. paed.) und Diplom-Psychologe (Dipl.-Psych.). Viele Jahrzehnte unterrichtete er und bildete Fachkräfte fort. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und pädagogisch-psychologischen Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zum Gemeinsinn und zum Frieden. Sein Lebensmotto (nach Albert Camus): Geben, wenn man kann. Und nicht hassen, wenn das möglich ist.

Dr. Rudolf Lothar Hänsel is a teacher (retired rector), doctor of education (Dr. paed.) and graduate psychologist (Dipl.-Psych.). He taught and trained professionals for many decades. As a retiree, he worked as a psychotherapist in his own practice. In his books and educational-psychological articles, he calls for a conscious ethical-moral values education as well as an education for public spirit and peace. His motto in life (after Albert Camus): Give when you can. And not to hate, if that is possible.




Online-Flyer Nr. 800  vom 02.11.2022

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE