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Lokales
Eine Artikelserie anlässlich des Einsturzes des Historischen Archivs der Stadt Köln vor 10 Jahren
Das Gewissen von Köln (Teil 3)
Von Tanya Ury

Vor zehn Jahren, genau am 3. März 2009, stürzte das Historische Archiv der Stadt Köln ein. Betroffen davon ist auch Tanya Ury, eine in Großbritannien aufgewachsene Jüdin, die in den frühen 90er Jahren als Künstlerin nach Deutschland gezogen ist, um den Holocaust und ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten, aber auch um zu beobachten, wie Deutschland sich nach Auschwitz und nach der Wende entwickelt. Seit vielen Jahren ist sie Mitglied der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost". Vor zehn Jahren hat Tanya Ury anlässlich des Archiveinsturzes eine Folge von vier Artikeln geschrieben und in einer Kölner Tageszeitung veröffentlicht. 2019 – zehn Jahre später – ist aufgrund ihrer aktuellen Erfahrungen mit der Stadt Köln ein fünfter Artikel hinzugekommen, den die NRhZ in Ausgabe 694 veröffentlicht hat. Es folgen die vier 2009 entstandenen Artikel – hier der dritte der vier.


Neulich telefonierte ich mit Herrn Schelenz, der für die Stadt Köln im Dezernat für Kunst und Kultur die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für den Oberbürgermeister gestaltet; es ging um einen Besuchstermin für das so genannten „EVZ“, das Erstversorgungszentrum in Porz, nicht weit vom Flughafen entfernt; dort werden Archivalien, die in den Ruinen des eingestürzten Historischen Archivs gefunden wurden, vorübergehend gelagert. Schelenz hat mir keine direkte Adresse mitgeteilt, aber kurz nach unserem Gespräch erhielt ich eine Email mit einer Wegbeschreibung, die ich nicht weitergeben sollte. Ich bin einer jener Unglücklichen, die ihren Familiennachlass in diesem Archiv deponiert hatten.

Anfang Juni, waren wir „Depositare“ zum ersten Mal eingeladen, die Lagerhalle zu besuchen, um den Stand der Dinge zu betrachten – die Rettungsaktionen von Dokumenten nach der Sintflut. Zweimal machte ich in letzter Zeit den langen Weg zu der Geheimadresse, auch als Pressereferentin mit speziellem Interesse – die Presse darf dokumentieren, aber keine Hinweise auf den Ort oder genaue Details über die Besitzer der Archivalien veröffentlichten.

Dabei scheint es, dass die involvierten Behörden endlich ihre Unsicherheit zeigten - nach der schon eingetretenen Katastrophe, die doch hätte vermieden werden sollen, fürchten sie, dass jetzt weitere unglückselige Ereignisse geschehen könnten: Depositare könnten klagen, wenn etwas von den Nachlässen in der Öffentlichkeit zu sehen - oder schlimmer noch - etwas gestohlen wäre.

Aber wie sollte man genau erkennen, wenn Stücke gestohlen sind? Wenn es sich um Bücher, Magazine oder Briefe handelt, die nicht deutlich beschriftet/adressiert waren - wer wird wissen, wem die Sachen ursprünglich gehörten? Mein Großvater Alfred Unger etwa hatte über die Jahre eine große Kollektion von Karnevalsorden zusammengestellt, die aber nicht etikettiert wurden.


Peter Ury (als Journalist u.a. für WDR), mit Kanzler Erhard, Mitte bis späte 1960er Jahre

Ich hatte selbst nie den Inhalt der vielen Kisten aus dem Nachlass verzeichnet - die Briefe, Bücher, Photos, Filme, Tonaufnahmen usw., und in den zehn Jahren, seitdem ich den Familiennachlass der Stadt Köln geschenkt hatte, war offiziell nichts unternommen worden bezüglich Sortieren und Auflisten – auf Nachfragen, hieß es über die Jahre hinweg immer, das Archiv sei unterbesetzt. Als ich die Schenkung machte, erzählte uns der damalige Betreuer der Nachlässe dann, dass nun ein Geschichtsstudent(in) die Aufgabe bekommen würde, unsere Nachlass als Dissertationstätigkeit zu bearbeiten, wenn wir einverstanden wären; wir waren begeistert, aber keiner ist danach auf uns zugegangen. Das gleiche hat mir 10 Jahre später Frau Kaiser mit wenig Glaubwürdigkeit vorgeschlagen, als ich wieder in Porz war, diesmal um zu filmen, am 15. Juni 2009. Jetzt endlich wird im Rahmen der Restaurierungsversuche gezwungenermaßen das Sortieren und Auflisten unternommen.

Nachdem ich am 3. Juni in der EVZ-Porz photographiert hatte, wurde mir unheimlich, als ich einen „Vorher-Nachher“ Vergleich unternahm mit Bildern, die Eberhard Illner vor zehn Jahre in London aufgenommen hatte - von noch nicht verpackten Artikeln und Kisten aus der Wohnung meiner verstorbenen Mutter (bevor er sie in einem Lastwagen wieder nach Köln und zum Archiv zurückgefahren hat). Darunter waren auch nicht beschriftete Tonbänder.

Nach Erscheinen meiner zwei Artikel meldete sich ein Fernsehjournalist aus Berlin wegen eines Interviews. Bevor Achim Zeilmann mit seinem Film-Team bei mir zuhause war, befanden wir uns zufällig am gleichen Tag, dem 15. Juni, in den temporären Lagerhallen des Archivs, wo wir beide Drehtermine hatten. Mit zwei Kameras filmten wir getrennt Restaurierungs-Studenten und Gast-Archivare aus weit entfernten Museen, sowie Freiwillige aus Köln, wie sie den Dokumenten die Erstversorgung, eine Art Wiederbelebung angedeihen ließen: Staub wurde sehr vorsichtig mit Bürsten entfernt, und unendliche Mengen von feuchten Dokumenten wurden auf unzähligen Regalen ausgelegt, um sie zu lüften.

Beim Filmen der Regalreihen fiel mein Blick auf einen kleinen Haufen von mit Tinte beschrifteten Tonbändern; Ich erkannte die Handschrift meines 1976 verstorbenen Vaters, Peter Ury. Dass ich an diesem Tag darauf stoßen würde, war extrem unwahrscheinlich - sein Name war auf diesen Hüllen nicht zu sehen, also konnte nur ich sie identifizieren. Da sehe ich schwarz für die zukünftige Arbeit am Verzeichnis von Gegenständen des ehemaligen Archivs.

Peter hatte diese Aufnahmen (die noch in einem guten Zustand waren) als Journalist für das BBC-„Third Programme“ gemacht, wahrscheinlich in den fünfziger und sechziger Jahren: ein Stück von Busoni und Richard Strauss’ „Der Rosenkavalier“ - vermutlich mit Elisabeth Schwarzkopf in der Hauptrolle, die er damals interviewt hat (auch dieses Interview war Teil unseres Nachlasses); ebenso eine Frühaufnahme von „Die Beatrice Cenci“ von Berthold Goldschmidt, der das BBC-Symphony-Orchestra dirigierte – „BG“, wie wir ihn nannten, war ein enger Familienfreund und jüdischer Flüchtling aus Deutschland, wie meine Eltern – wir kannten ihn in den Jahren, bevor seine Oper schließlich großen Erfolg hatte, mit ein bisschen Hilfe seines Freundes Simon Rattle, dem Dirigenten.

Inoffiziell erfuhr ich von Frau Kaiser, die in der Photo-Abteilung des Archivs arbeitet, dass manche unserer Photos gerettet und identifiziert sind. Das hatte ich ebenfalls von einem anderen Mitarbeiter erfahren, als ich am 4. Juni die Ausstellungseröffnung „Rechtsextremismus Bekämpfen“ im NS-Dokumentationszentrum besuchte. Ein Kölsch in der Hand, plauderte ich mit anderen Biertrinkenden Beamten, als ein Kollege, der früher im Historischen Archiv tätig war, mich fragte, ob ich mit dem Familiennachlass Ury und Unger zu tun hätte – er schien sich an ein Treffen vor zehn Jahren zu erinnern, mit Eberhard Illner im Archiv der Severin-Strasse (dieser Archivar ist, wie alle seine Mitarbeiter, am 3. März diesen Jahres nur knapp mit dem Leben davon gekommen).

Er versicherte mir, dass viele Sachen sichergestellt seien, Photos sagte er. Aus den 1960er, 1950er Jahren. Ich hoffte, dass es auch um Photographien von vor dem Krieg ging, und fragte ihn, ob ich ihn nicht interviewen dürfte. „Ich muss stumm bleiben“ erklärte er „das haben meine Vorgesetzten mir befohlen“.

Aber wem soll diese Heimlichtuerei dienen? Wenn es so viele Jahre dauern wird, alles zu bearbeiten: das Sortieren, und Katalogisieren - sollten die Depositare nicht eher eine offizielle Benachrichtigung bekommen, wenn etwas sichergestellt wird? Bislang wurde ich nicht eingeladen, unsere Objekte zu besichtigen, wurde aber gewarnt, dass das Dokumentieren aller verlorenen oder hoffentlich wieder gefundenen Schätze bis zu 30 Jahren dauern könne.

In den Porzer Lagerhallen haben Dr. Max Plassmann, Mitarbeiter des Archivs, und Tanja Kaiser uns die verschiedenen Stadien der ersten Restaurationsversuche erläutert: noch ist kein Weg entdeckt worden, die sehr nassen Dokumente, die im Grundwasser gefunden wurden, erfolgreich auszutrocknen. In den Räumen, wo Dokumente entstaubt oder ausgetrocknet wurden, mussten wir Masken tragen, um unsere Lungen vor den Schadstoffen, die beim Zusammenbruch des Gebäudes freigesetzt wurden, zu schützen. Außerdem mussten wir in allen besuchten Räumen weiße Schutzanzüge aus Kunststoff tragen. Später erzählte mir Achim Zeilmann, dass alle gefundenen Dokumente mit einer dünnen Alkalischicht bedeckt seien, die sie unvermeidlich weiter zerfallen lassen wird. Für den Fernsehbericht hatte Zeilmann den Heinrich-Böll-Sohn interviewt; dieser redete über die Ironie hinter dem Schicksal der Böllpapiere, die Bombenangriffe und Hochwasser überlebt hatten, um nun in dem Archiv unterzugehen.


Siehe auch:

Das Gewissen von Köln (Teil 5)
NRhZ 694 vom 27.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25681

Das Gewissen von Köln (Teil 1)
NRhZ 695 vom 06.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25700

Das Gewissen von Köln (Teil 2)
NRhZ 695 vom 06.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25725

Online-Flyer Nr. 697  vom 20.03.2019

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