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Lokales
Artikelserie anlässlich des Einsturzes des Historischen Archivs der Stadt Köln vor 10 Jahren
Das Gewissen von Köln (5)
Von Tanya Ury

Vor zehn Jahren, genau am 3. März 2009, stürzte das Historische Archiv der Stadt Köln ein. Betroffen davon ist auch Tanya Ury, eine in Großbritannien aufgewachsene Jüdin, die in den frühen 90er Jahren als Künstlerin nach Deutschland gezogen ist, um den Holocaust und ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten, aber auch um zu beobachten, wie Deutschland sich nach Auschwitz und nach der Wende entwickelt. Seit vielen Jahren ist sie Mitglied der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost". Vor zehn Jahren hat Tanya Ury anlässlich des Archiveinsturzes eine Folge von vier Artikeln geschrieben und in einer Kölner Tageszeitung veröffentlicht. Jetzt - zehn Jahre später - ist aufgrund ihrer aktuellen Erfahrungen mit der Stadt Köln ein fünfter Artikel hinzugekommen. Den veröffentlicht die NRhZ als ersten - in den kommenden Wochen gefolgt von den vier vor zehn Jahren verfassten.


Peter Ury (Tanya Urys Vater, 1920 geboren, 1976 gestorben) im Alter von 24 Jahren, in kanadischer Uniform, als er in Toronto interniert war (wurde in England als "enemy alien" eingestuft, nachdem er Nazi-Deutschland 19jährig alleine entkommen konnte)

    Unser Gedächtnis besteht aus persönlichen und kollektiven Erinnerungen. Beide sind eng miteinander verflochten. Und Geschichte ist so etwas wie ein Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Wird sie uns gestohlen oder umgeschrieben, können wir die Persönlichkeit, auf die wir Anspruch haben, nicht mehr bewahren. (1)
Haruki Murakamis 1Q84 bezieht sich auf George Orwells 1984 – 1948 geschrieben, reflektiert, dieser futuristische Roman, speziell in diesem Zitat die Neuschreibung von Geschichte zu totalitären Zwecken. Murakami veröffentlichte das erste Buch der Trilogie, in 2009 - das Jahr, in dem die Gebäude des Historischen Archivs der Stadt Köln einstürzten. Grund war die schäbige Baupraxis der KVB, der „Kölner Verkehrs-Betriebs AG“ - auf dem Baugelände der Nord-Süd-Stadtbahn Köln, unweit des Archivs. Bereits 3 Monate vor dem Unglück wurde von der Entdeckung warnender Risse in den Kellerwänden berichtet. Die Tatsache, dass es den Behörden des Historischen Archivs misslungen ist, die Gebäude – auch die an das Archiv angrenzenden – daraufhin von Menschen und Objekten zu räumen, wurde in dem Prozess, der sich über die letzten 10 Jahren hingeschleppt hat, ignoriert, obwohl die Archivbehörden diese Sicherheitsmaßnahmen selbst hätten durchführen können. Zwei Leben hätten gerettet werden können und Material aus dem größten europäischen Archiv – dessen Bestände bis ins Jahr 922 n. Chr. zurück datiert werden können - hätte auch unversehrt, geborgen werden können. In den letzten 10 Jahren hatten die Archivhüter die Restaurierung der Inhalte von Deutschlands größtem Kommunalarchiv in Angriff genommen. Auch wenn diese wenig beneidenswerte Aufgabe zwischen vielen weiteren deutschen Archiven aufgeteilt wird, dürfte sie schätzungsweise 30 bis 40 Jahre in Anspruch nehmen.

Ich beziehe mich auf Murakami, um die Wichtigkeit von individueller Erinnerung zu betonen, insbesondere wenn sie mit dem kollektiven Gedächtnis verbunden ist - das Historische Archivs war in der Pflicht, beide aufrechtzuerhalten: Persönliches Gedächtnis als archivierter Bestandteil garantiert unvermeidlich, die Wahrhaftigkeit des kollektiven Gedächtnisses. Wir befinden uns heute in Deutschland nicht mehr in einem totalitären Staate, doch meine jüdische Künstlerfamilie hat vor etwa 80 Jahren in Deutschland tatsächlich Verfolgung unter dem NS-Regime erlebt. Und es war in ihrem Sinne, dass meine Geschwister und ich das Erbe von zwei bis drei Generationen angesammelter Familienerfahrung dem Historischen Archiv der Stadt Köln stifteten – unter anderem Material meines Großvaters, des Schriftstellers Alfred H. Unger, sowie meines Vaters, des Komponisten Peter Ury. Diese Stiftung erfolgte vor etwa 20 Jahren, nach dem Tod meiner Mutter, Sylvia Ury, in London. Das Material umfasste nicht nur Manuskripte und Korrespondenzen, sondern auch das alltägliches „Zeug“ aus mehreren Jahrzehnten, wie etwa Super-8-Filme, Schulbücher aus meiner Kindheit und Schwarzweißfotos von der Hochzeit meiner Eltern, begangen in der temporären Synagoge in der Altenresidenz Ottostrasse, in Köln-Ehrenfeld – dies war die erste jüdische Hochzeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.


Hochzeit von Peter Ury und Sylvia Unger in den Synagoge in Köln, Ottostrasse, 31.03.1950

Unsere Familie ist nicht allzu bekannt, doch hat Dr. Eberhard Illner, der Leiter der Abteilung für Nachlässe, damals Interesse an der Archivierung unserer Geschichte gezeigt, womöglich weil das Kölner Archiv schon in den 1980er Jahren den Nachlass von Wilhelm Unger (meines Großvaters Alfred Bruder), erworben hatte. Will war ein renommierter Kölner Journalist, so dass zwei weitere verwandte Nachlässe das Bild einer jüdischen Familie mit Kölner Wurzeln und Verbindungen, vervollständigen würden. Bedeutend für Dr. Illner waren etwa Peter Urys mit Tonband aufgezeichnete Interviews. Mein Vater, in Ulm geboren, hat als Londoner Korrespondent oft Programme für den WDR in Köln gemacht; ebenso wie auch mein Großvater, der sich nach dem Krieg entschieden hatte, in Köln wie in London zu leben. Wir alle hatten starke Bindungen an Köln, wo viele weitere überlebende Familienmitglieder noch - oder wieder - lebten.

In den 10 Jahren vor dem Archiveinsturz in der Severinstrasse wurde kein einziges der gegebenen Versprechen eingelöst – die zwei Nachlässe wurden nicht einmal katalogisiert, auch hatte keine DoktorandIn deren Geschichten untersucht, was ursprünglich versichert wurde. 10 Jahre nach dem Einsturz hat man das Material – 75 Prozent davon, die anscheinend wieder geborgen wurden – wenigstens katalogisiert. Doch obwohl ich über die Jahre hinweg für meine eigene künstlerische Arbeit oft um Kopien von Filmen und manche Fotos gebeten habe, wurden niemals digitale Scans von irgendeinem der Materialien angefertigt. Auch wurden wir informiert, dass alle Archivinhalte toxischem Staub ausgesetzt waren, der freigesetzt wurde, als die Gebäude einstürzten – bis zum Abschluss der Restaurierungsarbeiten wird niemandem Zugang gestattet.

All dies musste die Familie Ury geduldig akzeptieren, obgleich meine Emails, die Kopien von Peter Urys unveröffentlichten Musiknoten anforderten, zunehmend dringlicher wurden, als Interesse aus verschiedenen Richtungen gezeigt wurde, diese Stücke aufzuführen. Patrick Meadows, der Direktor des Deià-Musikfestival auf Mallorca, hat mir angeboten, die handgeschriebene Partitur der Kinderoper meines Vaters digital zu transkribieren, damit sie veröffentlicht werden könnte. „Hinzelmeier“ – auch als „Timothy” genannt – basiert auf einem Märchen von Theodor Storm. Peter Ury hat die Kinderoper in den frühen 1950er Jahren, zusammen mit Peter Zadek - später Deutschlands renommiertester Theaterregisseur - geschrieben. Die zwei Peters waren Teil eines funkelnden Kreises junger deutsch-jüdischer Künstlerflüchtlinge im London der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre. Ohne einen digitalen Scan des ursprünglichen Manuskriptes war Patrick Meadows nettes Angebot jedoch nicht realisierbar. Meine Aufforderungen blieben von der Nachlassabteilung des Kölner Archivs unerhört. Patrick Meadows ist letztendlich gestorben und eine Gelegenheit ging verloren. Nur weil ich in Verbindung mit Zadeks Witwe, Elisabeth Plessen blieb, war es mir schließlich möglich, den Scan einer Photokopie der Opern-Partitur, aus dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek zu erlangen; doch war die Qualität sehr mangelhaft.

Weil ich ebenfalls eine Künstlerin und Schriftstellerin bin - in London geboren und aufgewachsen, lebe und arbeitete ich jedoch seit 1993 in Köln -, hat Dr. Gisela Fleckenstein, die damalige Leiterin der Abteilung Nachlässe, mich eingeladen, auch meinen Vorlass dem Historischen Archiv der Stadt Köln, zu schenken. Doch unmittelbar nach den Katastrophen kam ihr Vorschlag für mich zu früh – ich war zu erschüttert über das gerade erst Geschehene, um Köln als angemessenen Ort, mein eigenes Oeuvre zu beherbergen, zu betrachten. Viele Jahre später – als es noch schien, dass bezüglich der Restaurierung des archivierten Familienmaterial Gerechtigkeit walten würde – habe ich Dr. Max Plassmann (zurzeit Leiter des Sachgebiets Alte Bestände) an Fleckensteins Angebot erinnert, und ihm mitgeteilt, dass ich mir jetzt vorstellen könnte, es anzunehmen. Mein Vorschlag wurde jedoch abgelehnt und ich musste anfangen, ein anderes geeignetes Institut für meine persönliche Werke zu suchen.

Im Januar 2018 war ich Teilnehmerin der Tagung „The Future of the Archive, Performing the Jewish Archive and Beyond“ an der British Library in London, wo ich eine Video-Dokumentation präsentierte - archive burn out; diese Konzert-Performance, mit improvisierten Stücken der Formation für Jazz und Neue Musik “Suspended Beliefs” und poetischen Texten von mir, wurde 2014 im EL-DE-Haus dem NS-Dokumentationszentrum in Köln – aufgenommen. Thematisiert wurde das gescheiterte Archiv, doch wurden in dem Stück auch Vergleiche zu der öffentlichen Verbrennung von so genannter „entarteter“ Literatur, die 1933 in Köln stattfand, gezogen. Dabei gingen auch Buchveröffentlichungen meines Großvaters und seines Bruders, sowie Pyramiden weiterer Literatur, in Flammen auf – das faschistische Regime versuchte, mit diesem symbolischen Akt, humanistische Literatur aus der kollektiven Erinnerung zu eliminieren,

Ebenfalls in diesem Januar 2018 hatte mir das Historische Archiv der Stadt Köln ein gänzlich unerwartetes Ultimatum gestellt: man hatte entschieden, meiner Familie den gesamten Peter-Ury-Nachlass zurückzugeben. Von uns wurde erwartet, das Material, jetzt eingepackt in 30 Pappkisten, frühestmöglich abzuholen. Die Eröffnung eines neu gebauten Archivs ist für 2019 geplant, doch das Umquartieren dieses Teiles meines Familiennachlasses war offensichtlich nie beabsichtigt gewesen.

Ich habe Prof. Dr. Sarah Ross, Direktorin des Europäischen Zentrum für Jüdische Musik der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, die auch an der Londoner Konferenz mit ihren Kollegen teilnahm von der Situation berichtet. Dr. Ross zeigte sofort Interesse, die Musik-Manuskripten meines Vaters zu archivieren und hat bei unseren zweiten Treffen, später im selben Jahr, in Hannover, zu meiner Überraschung den Wunsch verkündet, die gesamten 30 Kisten des Peter-Ury-Nachlasses aufzunehmen – Materialien des Alltagslebens, Seite an der Seite mit Kunstwerken, wurden hier als aufbewahrungswürdiger Gewinn, nicht als Bürde betrachtet. Zusammenhänge und Verbindungen, die man aus solch einem Nachlass ziehen kann, und das Generationen, umfassende Hintergrundmaterial, würden hier geschätzt werden. Dankenswerterweise hat Hannover deswegen auch vorgeschlagen, meinen Vorlass, als Künstlerin und Schriftstellerin, ebenfalls aufzunehmen.

Es schien wieder aufwärts zu gehen, auch durch die Aussicht auf ein Recherche-Team in Hannover, das ernsthaft daran interessiert war, unseren Nachlass zu studieren. Und dann, als wir mit dem Historischen Archivs der Stadt Köln den Vertrag für die Überstellung aufsetzten, wurde eine weitere unfassbare Verantwortungslosigkeit aufgedeckt – die Tatsache, dass (laut Dr. Plassmann), von den 30 Kisten nur ein „Archivkarton, allerdings ungefähr von der Größe eines Schuhkartons“ tatsächlich gereinigt worden war, obwohl eine Restaurierung eigentlich verpflichtend ist, bevor man dem Nachlassgeber sein Material zurückgeben darf. Es scheint, dass die Kölner Archivangestellten bereit waren, nicht nur meine Familie giftigen Substanzen auszusetzen, sondern dazu auch die Mitarbeiter des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik, die das Material in Zukunft bearbeiten würden. Als das Jahr 2018 zu Ende ging, hat Köln angeboten, das Material einer Basisreinigung zu unterziehen und es in halb-jährlichen oder jährlichen „Paketen“ zu übergeben, jedoch fehlte jeder Hinweis darauf, wie lange der ganze Arbeitsablauf dauern würde. Und ein früheres mündliches Angebot, das Material auf eigene Kosten zu transportieren, wurde ebenfalls zurückgezogen.

Ich verstehe, dass Köln sich mit einem ganzen Berg von Archivmaterial beschäftigen muss, das insgesamt als sehr wertvoll für das kollektive Gedächtnis der Stadt betrachtet werden dürfte. Doch ist der Ury-Familiennachlass bedeutsam, weil wir eine noch lebende jüdisch-deutsch-englische Künstlerfamilie sind, die in Deutschland Verfolgung ausgesetzt war. Die hinter manchem Archivstück stehenden Ereignisse sind noch immer lebendige Erinnerungen der älteren Familienmitglieder. Als Älteste in meiner Kernfamilie – fast ein Jahrzehnt älter als mein Bruder – bin ich dazu noch die einzige Person, die in die Lage wäre, die VerfasserInnen der vielen Briefe sowie die in den alten Fotografien dargestellten Personen zu identifizieren. Doch stehe ich in meinem 68. Lebensjahr, habe seit 2009, viele Krankheiten erleiden müssen und kann nicht länger darauf warten, als Beraterin bei einem Recherche-Prozess mitzuarbeiten, der mir verweigert wird. Die Zeit drängt. Als Stifterin eines öffentlichen Institutes, die sehr schäbig behandelt wurde, berichte ich über diese Kette von unglaublichen Ereignissen, mit dem Wunsch, publik zu machen, was hinter den Kulissen geschieht. Am 3. März 2019 jährt sich der Einsturz des Historischen Archivs zum zehnten Mal und ich fühle mich völlig mattgesetzt. Ich appelliere an die Kölner Archiv-Verwaltung, den Restaurierungsprozess eines Nachlasses, der ihnen ursprünglich im Geiste der Versöhnung anvertraut wurde, zu beschleunigen, damit meine Familie – eine Familie von Überlebenden - und ich endlich damit abschließen können.

Während ich noch Murakamis vielseitigen 1Q84 lese, stolpere ich über eine weitere Passage, die grundsätzlich die Frage stellt, was ein Archiv des kollektiven Gedächtnisses sein sollte – was es beinhalten soll. (Ayumi in Konversation mit Aomame):
    „Das ist wie bei einem Genozid.“
    „Genozid?“
    „Die, die ihn verübt haben, können ihre Tat rationalisieren, indem sie die passenden Theorien aufstellen, und dann vergessen. Sie können die Augen von dem abwenden, was sie nicht sehen wollen. Aber die, denen es angetan wurde, die können nicht vergessen. Und nicht die Augen abwenden. Die Erinnerung wird von den Eltern an die Kinder weitervererbt. Weißt du, Aomame, was die Welt ausmacht, ist der endlose Krieg zwischen einer Erinnerung und der, die ihr entgegensteht.“


Fußnoten:

1 HARUKI MURAKAMI, 1Q84, Roman, Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Originalausgabe 2009, S. 459
https://epdf.tips/1q843c1d96d3479597597a4c393b75e4a2a826257.html
2 HARUKI MURAKAMI, 1Q84, Roman, Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Originalausgabe 2009, S. 524
https://epdf.tips/1q843c1d96d3479597597a4c393b75e4a2a826257.html


Siehe auch:


Das Gewissen von Köln (Teil 1)
NRhZ 695 vom 06.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25700

Das Gewissen von Köln (Teil 2)
NRhZ 696 vom 13.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25725

Das Gewissen von Köln (Teil 3)
NRhZ 697 vom 20.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25745

Das Gewissen von Köln (Teil 4)
NRhZ 698 vom 29.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25761


Online-Flyer Nr. 694  vom 27.02.2019

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