NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 09. November 2024  

zurück  
Druckversion

Kultur und Wissen
Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (5)
Von Ute Bales

Ute Bales hat einen biografischen Roman zur Lebensgeschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle geschrieben, die keine 24 Jahre alt wird. Ihr Schicksal ist Krieg, der Erste Weltkrieg, die Liebe, die Tuberkulose, die Künstlergruppe Dada. Mit Kunst die Welt verändern!? Die NRhZ bringt Auszüge aus dem Roman. Teil 5 spielt im Köln des Jahres 1919. „Die Freiheit! Die meisten haben Angst davor. Bloß nicht zuviel … Sie lassen sich gern in Ketten legen, weil sie es nicht wagen, frei zu schaffen und zu atmen.“ Angelika widerspricht. „Nicht alle sind so feige, wie du meinst. Denk doch an die Matrosen, an die Streiks in den Munitionsfabriken. Sie riskieren Gefängnis und Tod.“

Die Verheerungen des Krieges sind nicht zu übersehen. Die Künstler hungern. Das Wetter an diesem Tag ist scheußlich. Schauer von Regen und Schnee wechseln sich ab. Es ist kalt und nass. In dicker Jacke, mit Schal und Mütze stapft Angelika neben Willy und Heinrich durch den Matsch.

Im Schneegestöber zieht ein Demonstrationszug der Kriegsbeschädigten am Denkmal für Wilhelm I. vorbei. Kriegskrüppel halten Pappschilder in die Höhe, Zettel mit Aufschriften kleben auf Rücken oder an Stöcken. Einer schreit: „Der Dank des Vaterlands! Millionen Tote und Verstümmelte! Und jetzt sind wir nichts als lästige, bettelnde Kriegszitterer!“ Sein Gesicht ist eingefallen, Rippen wölben sich unter einem fadenscheinigen Hemd, von dem einer der Ärmel schlaff an der Seite hängt. Er zieht eine Karre mit Gummirädern, worauf ein Bärtiger angebunden ist, dem Beine und Arme fehlen. „Wir haben Hunger!“, steht auf dem Pappschild, das sich der Einarmige umgehängt hat. Hinter ihnen hieven sich Amputierte mit schief hängenden Körpern auf Krücken voran und zeigen den entsetzten Passanten ihre Stümpfe. Blind geschossene Männer tasten sich vor, an den Armen tragen sie gelbe Binden, ihre Stöcke quietschen auf dem Pflaster.

Nur selten wirft jemand eine Münze in die ausgestreckten Soldatenmützen. „Wir haben alles gegeben! Haben wir gekämpft, um jetzt zu verhungern?“ Kriegerwitwen bilden den Schluss: mager, mit blaugefrorenen Gesichtern, in denen Angst sitzt. Die meisten haben Kinder an der Hand. Angelika sieht, wie Fußgänger die Seite wechseln, sich abwenden, nicht wissen, wohin mit ihren Blicken. Manche flüchten in Seitengassen. „Seht euch das an!“, schreit Heinrich und zeigt auf den Zug der Verzweifelten. „Das sind wir! Ja, das sind wir! Herauskatapultiert aus allem. Keiner weiß, wie es weitergehen soll! Dieses Massenelend wird in einer riesigen Katastrophe enden. Die neue Regierung wird nie imstande sein, das zu schultern! Alle wollen eine Entschädigung, aber was glaubt ihr, wer soll das zahlen? Angelogen hat man uns, von Anfang an. Und die da“, wieder zeigt er auf die zerlumpten Demonstranten, „wenn sie Glück haben, kriegen sie Glasaugen und Krücken! Ansonsten nichts, gar nichts! Und dafür haben sie ihren Kopf hingehalten: Für nichts.“ 

Später sitzen sie bei Anton um den Ofen. Die Wohnung ist wie eine Insel. Oskar und Heinrich haben in Frechen einen Sack Kohle besorgt. Heinrich hat zudem Brot organisiert. Kauend sitzt Angelika neben ihm, während Willy wild gestikulierend vor den versammelten Künstlern steht: „Stellt euch doch mal vor: Zuerst der Kaiser, alles war bestimmt von oben, aber jetzt sind wir frei, alle dürfen was sagen: die Kommunisten, die SPD, die Arbeiterpartei, die Freicorps und alle in einem gewaltigen politischen Tumult! Wir sind keine folgsame Horde mehr! Wir werden alles neu entdecken und verändern! Wir werden die da oben runterholen von ihren hohen Rössern und eine Welt aufbauen, in der die Menschen zusammenhalten!“ Seine Euphorie, der Tatendrang und die Energie, die er versprüht, übertragen sich auf Angelika, auf Käthe, auf Franz, der Willys Rede fortführt: „Ja, eine Welt, die Macht und Gewalt nicht mehr kennt, in der alle gleich sind und in der es Gerechtigkeit gibt.“ Heinrich ist skeptisch. „Nein Willy, wir sind nicht frei und längst nicht jeder darf sagen, was ihm passt.

Das, was der Kaiser in die Köpfe der Menschen gepflanzt hat, wird noch lange wirken. Der Großteil der Deutschen ist doch nur ein willenloser Haufen, der Jahrzehnte brauchen wird, um das, was passiert ist, zu begreifen. Ihr seht doch, wie sie sich inzwischen sogar mit den Briten arrangiert haben. Wir werden wieder in die nächste Katastrophe rennen. Deshalb gehört alles kurz und klein geschlagen! Ja, das wäre das einzig Richtige!“ Willy hat ein Flugblatt dabei, aber er kommt nicht dazu, es vorzulesen. Er hält das Blatt, das er schon viele Male zusammengelegt und gefaltet hat, in die Höhe, aber Heinrich reißt es ihm aus der Hand, knüllt es zu einer Kugel und wirft es auf den Boden. „Zuallererst brauchen wir eine freie Presse und Versammlungen. Und die alten Generäle müssen verschwinden!“ Angelika steht auf, bückt sich, hebt die Kugel auf und streicht das Papier glatt. „Lasst uns was Gemeinsames machen. Es hilft doch nichts, wenn wir uns anfeinden. Gerade jetzt nicht.“ Ein bisschen unbeholfen steht sie da, aber mit jedem Satz wird sie gelöster. „Sie haben uns belogen. Jeder weiß es. Sie haben sich aber auch selbst belogen. Sie sind verstrickt in Dinge, von denen wir zu wenig wissen. Wenn wir also glauben, mehr zu wissen, dann müssen wir doch aufklären, andere teilhaben lassen. Einige von uns schreiben für Zeitschriften. Die meisten malen und zeichnen. Es geht um unsere Freiheit, für die wir kämpfen müssen. Alle lieben doch die Freiheit!“ Heinrich sieht sie verächtlich an und grinst.

„Die Freiheit! Die meisten haben Angst davor. Bloß nicht zuviel … Sie lassen sich gern in Ketten legen, weil sie es nicht wagen, frei zu schaffen und zu atmen.“ Angelika widerspricht. „Nicht alle sind so feige, wie du meinst. Denk doch an die Matrosen, an die Streiks in den Munitionsfabriken. Sie riskieren Gefängnis und Tod.“ „Es sind nur einzelne. Immer nur wenige. Und wenn es um wirklich große Dinge geht, zucken alle die Achseln und sagen: Ach, was können wir schon tun? Oder sie sagen, sie haben nichts gewusst. So ist es doch immer.“ „Und was schlägst du vor? Nichts tun? Abwarten? Still sitzen?“ Angelika blitzt ihn an. Da steht Heinrich auf und geht.




Ute Bales: Die Welt zerschlagen – Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle, Gebundene Ausgabe, 280 Seiten, Rhein-Mosel-Verlag, 2015, 19,80 Euro


Siehe auch:

Die Welt zerschlagen – Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Auszug 1: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22768
Auszug 2: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22791
Auszug 3: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22808
Auszug 4: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22827
Auszug 6: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22864

Filmclip
Lesung aus einem Roman zur Lebensgeschichte von Angelika Hoerle
Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
NRhZ 552 vom 09. März 2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22599

Online-Flyer Nr. 564  vom 01.06.2016

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE