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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Globales
Hintergründe zum parlamentarischen Staatsstreich gegen Paraguays Präsidenten
Demonstrationen für Fernando Lugo
Von Irina Poprawa und Harald Neuber

Die Ereignisse der letzten Tage in Paraguay werfen Fragen auf und zeigen deutlich die politische Kluft zwischen der Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten und Europa. Der Großteil der lateinamerikanischen Presse spricht von einem parlamentarischen Staatsstreich gegen den letzten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes, Fernando Lugo. Bis zur Stunde haben Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay und Venezuela ihre Botschafter abgerufen. Der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) hingegen zeigt sich in einer Front mit Spanien, Kanada und dem Vatikanstaat davon überzeugt, dass "der Amtswechsel nach den Regeln der Verfassung abgelaufen ist". Schon das Wort "Amtswechsel" zeigt, dass Herr Niebel selbst offenbar politische Entwicklungshilfe benötigt.
 

Fernando Lugo
Quelle: portal amerika21
Was genau ist geschehen? De facto ist ein Amtsenthebungsverfahren gegen den amtierenden Präsidenten in der paraguayischen Verfassung verankert. Allerdings wurde dieses Verfahren erst am 21. Juni 2012 im Parlament vorgestellt und beschlossen, und noch am selben Tag wurde in einer außerordentlichen Sitzung des Senats Anklage gegen Präsident Fernando Lugo erhoben. Zugleich wurden ihm 19 Stunden Zeit für seine Verteidigung eingeräumt, die nicht länger als 2 Stunden dauern durfte.
 
Keinerlei Beweise für "Anklagepunkte" vorgelegt
 
Die anfänglich neun Punkte in der "Anklageschrift" wurden auf fünf reduziert. Das Ergebnis des angestrengten Amtsenthebungsverfahrens stand von Anbeginn fest. Weder auf die widerlegenden Beweise der Verteidigung noch auf vorgebrachte Argumente für einen Verbleib von Fernando Lugo im Amt während der "Aussprache" wurde eingegangen. Die Senatssitzung wurde live im Fernsehen übertragen. Die Anklagepunkte waren Verdächtigungen und Behauptungen von Tatsachen, zu denen keinerlei Beweise vorgelegt werden konnten. So ging es um die finanzielle Unterstützung von sozialistisch gesinnten Jugendlichen bei einer Demonstration, auf der angeblich verfassungsfeindliche Lieder gesungen wurden, und um die Nutzung des geographischen Dienstes der Armee, um Grundstücke von Großgrundbesitzern ausmessen zu lassen, weil im Rahmen der Agrarreform die Rechtmäßigkeit von Besitztiteln überprüft werden sollte. Fernando Lugo wurden des Weiteren Verbindungen und Unterstützung der als Guerilla bezeichneten Gruppierung EPP unterstellt. Der vierte Anklagepunkt bezog sich auf die Unterzeichung des Ushuaia-Protokolls des regionalen Wirtschaftsverbandes Mercosur durch Lugo, ohne dass dieses Papier dem Parlament vorlag. Der letzte Anklagepunkt beschuldigte Lugo der unzureichenden Vorsorge bei der Landräumung in Curuguaty, wo es zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen der Polizei und Landbesetzern mit 17 Toten kam. Pikanterweise war zu diesem Zeitpunkt der jetzt eingesetzte "Präsident" Fernando Franco der Innenminister unter Lugo – und müsste deshalb selbst seinen Hut nehmen.
 
Unbequem für Großgrundbesitzer und Drogen-Mafia
 
Insgesamt wurde dem ehemaligen Befreiungstheologen, Arbeiterpriester und katholischen "Bischof der Armen" Lugo (1) "schlechte Amtsführung" vorgeworfen und damit das Verfahren gerechtfertigt. Das wäre laut Verfassung aber nur der Fall, wenn der Präsident durch seine Amtsführung seinem Volk großen Schaden zugefügt hätte. Und genau darin liegt der Grund: Nach Lesart der Kritiker des Putsches hat Lugo der Bevölkerungsmehrheit gedient und mit den mächtigen Großgrundbesitzern und der Drogen-Mafia gebrochen, die Paraguay 61 Jahre lang beherrscht haben. Er hat allen Paraguayern kostenfreie medizinische Betreuung ermöglicht, für die Kinder ein Frühstück in den Schulen sowie schrittweise Verbesserungen der Ausbildungsbedingungen durchgesetzt. Unter Präsident Lugo wurde der Kampf gegen Analphabetismus erfolgreich geführt und für die Bedürftigsten wurde ein Rentensystem geschaffen. Doch seine schlimmste "Verfehlung" aus Sicht der Oberschicht war wohl sein Kampf gegen die Korruption. Er begann, den Justizapparat zu säubern, versuchte, die Landreform voranzutreiben und massenhafte Unterschlagungen im Wasserkraftwerk Itaipú, in der Zentralbank, bei der staatlichen Stromversorgung, im staatlichen Zementwerk und andernorts aufzudecken. Außerdem wurden aus der Wahljustizbehörde während seiner Amtszeit 10.000 "Planilleros" (Parteigänger) entlassen, die dort lediglich auf der Gehaltsabrechnung auftauchten, aber keinerlei Tätigkeiten nachgingen. Diese Scheinanstellungen setzten sich zusammen aus 4.000 Angehörigen der Partei ANR, 3.000 der PLRA, 2.500 von UNACE, 500 von País Solidario, Tekojoja, Patria Querida und anderen. Diese Gehaltsempfänger waren landesweit in 263 Ämtern verteilt. Mit diesen und anderen Schritten machte sich Lugo letztlich auch unter seinen ehemaligen Verbündeten aus der PRLA immer mehr Feinde.
 

Vom Machtklüngel als Präsident eingesetzt, von
Minister Niebel begrüßt – Federico Franco
Die PRLA (Radikale Authentische Liberale Partei) verbündete sich mit Lugos Frente Guasu vor der Prä- sidentschafts- und Parlamentswahl offenbar nur, um an die Macht zu kommen. Sein Vizepräsident Federico Franco, jetzt vom Machtklüngel als Präsident eingesetzt, hatte sich mit Lugo schon kurz nach dem Wahlsieg 2008 überworfen. Beständig nutzte er Auslands-reisen Lugos, um als dann amtierender Präsident zuvor unterzeichnete Gesetze rückgängig zu machen. Zuletzt geschah das am 23. Mai 2012, als er eine von Lugo initiierte Mehrwertsteuererhöhung, die Hersteller von Motorrädern zahlen sollten, mit einem neuen Gesetz wieder annullierte. Dazu muss man wissen, dass es bisher kaum ein nennenswertes Steueraufkommen für den Staat Paraguay gibt, da sowohl die Lohnsteuer als auch die persönliche Einkommenssteuer seit Jahren von Parlament und Senat blockiert werden.
 
Der Präsident wird in Paraguay direkt vom Volk gewählt und kann somit auch nur vom Volk abgewählt werden. Weder das Parlament noch der Senat (Senatoren gibt es hier sogar auf Lebenszeit) werden direkt vom Volk gewählt, sondern über sogenannte geschlossene Listen benannt. Die entsprechenden Parlamentarier beziehungsweise Senatoren werden nach der Wahl von den jeweiligen Parteien bestimmt. Auch eine geplante Einführung von offenen Wahllisten wurde kürzlich vom Parlament blockiert, um die Pfründe nicht zu verlieren.
 

"Lugo, halte durch!" - Demonstration nach
dem parlamentarischen Staatsstreich
Quelle: portal amerika21
Die hiesige Bevölkerung steht mit großer Mehrheit hinter dem abgesetzten Präsidenten. Tausende Menschen haben sich nach seiner Absetzung vor dem Senatsgebäude zur Unter-stützung des Putschopfers versammelt. Für die nächsten Tage sind mehrere Aktionen angekündigt. Lugo selbst hat sich nach seiner Absetzung über die einzige öffentliche Fernsehstation an die Men- schen gewandt und zu "fried-lichem Widerstand" aufgerufen. Er sagte, dass die Demokratie in Paraguay durch diese Art der Absetzung schwer beschädigt wurde. Dies bestätigte auch eine Online-Umfrage in der größten Tageszeitung ABC Color am 23. Juni, die über diese Aussage votieren ließ: Über 60 Prozent der Teilnehmer stimmten Lugo zu. Wenn man bedenkt, dass die ländliche Bevölkerung, die Lugo mit großer Mehrheit unterstützt, aber kaum Zugang zum Internet hat, dann bekommt diese Zahl noch viel mehr Gewicht. Und auch die Umfragen in verschiedenen Zeitungen, ob De-facto-Präsident Franco die politische Krise beenden kann, zeigen, dass die absolute Mehrheit der Menschen weiterhin hinter Lugo steht.
 
Front zur Verteidigung der Demokratie gegründet
 
Die Internetausgabe des deutschsprachigen evangelischen Missionssenders ZP 30 brachte einen Tag nach dem parlamentarischen Staatsstreich folgende Meldung: "Eine neue politische Zusammenschließung hat angekündigt, dass sie der neuen Regierung in Paraguay widerstehen werde. Frente Guasu, die Partei Fernando Lugos, hat sich mit Sektoren der PLRA zusammengeschlossen, die Fernando Lugo unterstützen. Diese Teile der liberalen Partei gruppieren sich um den Senator Luis Alberto Wagner, den Gouverneur von San Pedro, José Pakova Ledesma, den ehemaligen Erziehungsminister Victor Rios und Domingo Laino. Dieser Zusammenschluss nennt sich Frente de Defensa de la Democracia (Front zur Verteidigung der Demokratie). Diese Gruppe hat zu zivilem Ungehorsam aufgerufen, um gegen die Regierung Federico Francos Widerstand zu leisten, die sie als Diktatur ansieht. Gestern Abend hat sich die Gruppe getroffen, um erste Maßnahmen festzulegen. Ricardo Canese, Generalsekretär des Frente Guasu, sagte, sie würden friedlich demonstrieren und um die Wiederherstellung der öffentlichen Freiheiten bitten."
 
DIE LINKE widerspricht Minister Niebel
 
Im Gegensatz zu Entwicklungsminister Niebel protestierte in Deutschland der Vorstand der Linkspartei gegen die "mit einem kalten Putsch in Szene gesetzte Ablösung des Präsidenten Paraguays, Fernando Lugo.“ Die vorgebrachten Gründe für die Absetzung seien augenscheinlich vorgeschoben, heißt es in der einstimmig verabschiedeten Erklärung. Die Kritik einer Reihe von Regierungen Lateinamerikas – unter anderem von Argentinien, Brasilien, Bolivien, Ecuador, Uruguay, Venezuela – an der Ablösung Lugos seien zutreffend und berechtigt, so spreche Argentinien von einem "Staatsstreich".
 
Die Linkspartei forderte die Bundesregierung vor diesem Hintergrund auf, die Absetzung des verfassungsmäßigen Präsidenten nicht anzuerkennen, wie es Entwicklungsminister Dirk Niebel anlässlich einer Reise nach Lateinamerika gleich vor Ort getan hatte. In der Erklärung heißt es weiter: "Wir sind solidarisch mit der demokratischen Bewegung in Paraguay und dem rechtmäßig gewählten Präsidenten und ehemaligen Bischof Fernando Lugo." Paraguay dürfe nicht in die Zeiten der brutalen Diktatur Stroessner zurückfallen, in der 10.000 Menschen gefoltert, vertrieben oder ermordet wurden. Dies gelte vor allem angesichts der Tatsache, dass Paraguay "das bevorzugte Land für Nazi-Schergen (war), die nach 1945 aus Deutschland flüchteten."
 
Der Vorstand der Linkspartei warnt vor einer zunehmenden Rechtsentwicklung in lateinamerikanischen Ländern, vor allem in Guatemala, Honduras, Chile und in El Salvador. "Es darf kein Zurück in die Zeiten der Diktaturen in Lateinamerika geben“, schließt die Erklärung.

Netzwerk der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung

Die Partei des Putschpräsidenten Franco gehört - wie wir kurz vor Redaktionsschluss von german foreign policy erfuhren - dem Lateinamerika-Netzwerk der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung an.(2) Bei dem Netzwerk handelt es sich um die Red Liberal de América Latina (Liberales Netzwerk Lateinamerika, RELIAL), zu deren Mitgliedern auch die Partei der honduranischen Putschisten des Jahres 2009 zählt. Die Naumann-Stiftung selbst, die 2003 den Aufbau von RELIAL initiiert hatte, ist mehrfach als öffentliche Verteidigerin von Putschisten aufgetreten, in Honduras ebenso wie wenige Jahre zuvor in Thailand.(3)

Mindestens zwei ehemalige Stiftungsfunktionäre, die den honduranischen Staatsstreich gegen Kritik in Schutz nahmen, sind heute teilweise hochrangige Funktionsträger im Entwicklungsministerium. Kein Wunder, dass am Wochenende der deutsche Entwicklungsminister Niebel (FDP), der dem Kuratorium der Friedrich-Naumann-Stiftung angehört, den kalten Putsch in Paraguay als "Amtwechsel nach den Regeln der Verfassung" eingestuft hat. Niebel stützte damit - wie die Naumann-Stiftung mit ihrer Unterstützung für Putschisten auch in anderen Ländern – eine Oligarchie, die eng mit den westlichen Staaten kooperiert und ihre Macht und ihren Wohlstand im eigenen Land gegen aufbegehrende Armutsschichten zu sichern sucht. (PK)


(1) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=17931
(2) Mehr dazu unter http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58357
(3) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13971

Wir haben diesen Artikel aus zwei Beiträgen von Irina Poprawa und Harald Neuber aus der der Montagsausgabe des Portals amerika21.de zusammengestellt.


Online-Flyer Nr. 360  vom 27.06.2012

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