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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – letzte Folge
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben. Lesen Sie hier die letzte Folge der Novelle – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 207.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                               


7.
Kapitel

Es dauerte etwa eine Viertel Stunde, bis neben ihm ein Wagen der Polizei hielt. Ein Mann in Uniform stieg aus und blieb neben ihm stehen. Er schaute ihn irritiert an, und Kevin wusste, warum: Ein Mann, der ohne zu telefonieren oder mit Blick auf einen Bildschirm einfach da saß und noch nicht einmal die Stöpsel irgendeines Multimediagerätes in der Ohrmuschel stecken hatte, musste ein ungewohntes Bild sein. Zumal er nichts anderes tat, als irgendwelchen Blättern beim Herunterfallen zuzuschauen.

 
„Sie sind schön, nicht wahr?“ konnte er sich nicht zurückhalten zu fragen.
„Was ist schön, wenn ich fragen darf?“
„Sehen Sie sich einmal die Blätter an. Besonders die schmalen mit den Kügelchen unten dran, die drehen sich in der Luft, sehen Sie?“
„Sind Sie Herr Schuhmann?“
 
„Das wissen Sie doch. Sie wissen auch, dass ich einsdreiundachtzig groß bin, in Düsseldorf studiert habe und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen Herzklappenfehler entwickeln werde.“
Der Polizist schaute irritiert. „Ihre Geräte sind auf der A1 ausgefallen, wir fürchteten, dass Sie einen Unfall gehabt haben könnten.“
 
„Ich hatte keinen Unfall“, erklärte Kevin. „Bei mir ist der Blitz eingeschlagen.“ Er deutete zum Wagen. „Der Bordcomputer ist hinüber, und das Handy auch. Ich habe mich völlig verfahren. Das war unheimlich, sage ich Ihnen!“ Kevin wurde bewusst, dass er sich wahrscheinlich auffällig benahm. Aber es war ihm egal. Er hatte keine Lust, aufgelöst und verzweifelt zu wirken. Er schaute dem Polizisten ins Gesicht. Ob er darum wusste? Musste er nicht darum wissen? Konnte er in einer Stadt mit Löchern in der Wirklichkeit patrouillieren, ohne etwas zu merken? Oder hatte er einfach ein anderes Navigationsgerät und wurden seine Nachrichten und seine Informationen einfach entsprechend abgewandelt, personalisiert, damit er in seiner Nische optimal funktionierte? Oder wurde gar nicht patrouilliert, und es flogen nur diese Kamera-Libellen herum? Kevin wollte gar nicht darüber nachdenken. „Sagen Sie, könnten Sie vielleicht mein Büro anrufen? Ich muss um Stunden zu spät sein!“
 
Der Polizist schaute ihn aufmerksam an. Zwei dieser Kamera-Drohnen waren in Kevins unmittelbaren Nähe zerstört worden, und es war niemand sonst da gewesen. Ob man davon ausging, dass er sie herunter geholt hatte? War er wirklich schon ein Renegat, wie Diogenes meinte? Eine aus dem Ruder gelaufene Zelle, die unter Umständen wuchern konnte, eine Krebszelle, die ausgeschaltet werden musste? Der Polizist ging zum Wagen hinüber und nahm einen Standard-Kommunikator aus einem Fach. Er reichte ihn Kevin. „Den können Sie behalten, bis ihre Geräte wieder in Ordnung sind“, sagte er. Kevin schaltete das Gerät ein, der Bildschirm glühte auf. Er drückte den Befehlsschalter. „Verbinde mit Metzner, Robert. European Bank, Köln.“ Das Gerät baute die Verbindung auf.
 
Dann die Stimme Metzners: „Freitag, wo sind Sie, zum Teufel?“
„Mich hat der Blitz getroffen.“
„Bitte was?“
„Sie haben richtig gehört, Herr Metzner. Auf der Autobahn ist ein Blitz in meinen Wagen eingeschlagen.“
Stille am anderen Ende. Nach einer Weile: „Geht es Ihnen gut? Kommen Sie ins Büro?“
„Ja, mit mir ist alles in Ordnung, entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Ich komme gleich.“
„In Ordnung.“
 
Kevin unterbrach die Verbindung, schaute zum Polizisten hoch. „Muss ich dafür irgendwo unterschreiben oder so etwas?“ fragte er mit Blick auf den Kommunikator.
 
„Nein, ist nicht nötig.“ Der Polizist nickte ihm zu und stieg in seinen Wagen ein.
 
„Natürlich nicht“, murmelte Kevin. Sein Daumen massierte die Stelle an seinem Unterarm, wo er das Reiskorn des Chips spüren konnte, wenn er stark genug rieb. Sie wussten, wer er war, sie wussten, wo er war. Sie lenkten ihn durch eine Welt, die sie für ihn bauten. Eine Welt, aus der sie einfach ausblendeten, was er nicht sehen sollte.
 
Irgendwo tief drinnen in ihm arbeitete etwas, er spürte es, wusste aber nicht, was es war. Langsam stand er auf, stieg in den Wagen, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und startete. Er drückte den Befehlsknopf des Kommunikators. „Ich möchte zum Brokerbüro der European Bank“, sagte er. Aus dem Gerät ertönte ein wenig blechern eine weibliche Stimme: „Ordnen Sie sich in den Verkehr ein und folgen Sie der Straße.“ Das Display wurde zum Videofilm, der seinen Wagen von hinten zeigte, wie er zwischen den Linden die Straße hinunter fuhr. Ein grüner Pfeil zeigte ihm, wo er lang fahren musste.
 
Es geschah, als er die Glasfassade der European Bank aufragen sah. Es war kein Gedanke, den man hätte in Worte fassen können. Kevin bremste und fuhr rumpelnd die Bordsteinkante vor dem Steakhaus hinauf, in dem er regelmäßig aß. Er grüßte den Kellner, als ereintrat, lächelte ihn an und fragte, ob er vielleicht kurz ein Steakmesser ausleihen könne. Mit etwas verwirrtem Lächeln ging der Kellner und kam wenig später mit dem Gewünschten zurück. Das Lächeln schwand, als Kevin das Jacket auszog und ihm mit der Bitte reichte, es einen Moment zu halten, während er den Ärmel seines Hemdes aufkrempelte, das Messer nahm und die Spitze auf die winzige Narbe setzte.

„Herr Freitag!“ entfuhr es dem Kellner.
 
„Ich habe Ihnen nie gesagt, wie ich heiße“, sagte Kevin. Er fühlte mit der Messerspitze nach dem Reiskorn unter seiner Haut. Er verstärkte den Druck. Es war ein brennender, aber nicht allzu schlimmer Schmerz, als das Metall in die Haut fuhr. Der Kellner zog scharf die Luft zwischen die Zähne, als Blut heraus quoll. Nicht viel, Kevin achtete darauf, nur die Haut zu durchstechen. Er drückte dem Kellner auch das Messer in die Hand und fühlte mit den Fingerspitzen. Knetete. Zog. Pulte. Da war es. Es löste sich nur schwer, schien eingewachsen zu sein. Fast zwanzig Jahre, kein Wunder. Er fasste es mit den Nägeln wie mit einer Pinzette und riss daran. Ein kurzer, stechender Schmerz und das kleine, spindelförmige Ding lag in seiner Hand.

Es hatte etwas von einem Insekten-Ei, fand Kevin. Wie in manchen Filmen, wo irgedwelche Spinnen ihre Eier in einen Menschen legten, die Brut sich vom Fleisch des Wirtes nährt und dann aus seiner aufbrechenden Haut ausschlüpft.
 
Er ließ es auf den Boden fallen, stellte den Absatz darauf und legte sein ganzes Gewicht auf das Bein. Ein unendlich leises Knirschen löste ein seltsames Gefühl der Befriedigung in ihm aus.
 
„Danke für das Messer“, sagte Kevin zu dem Kellner, nahm sich sein Jackett und verließ das Restaurant.
 
Die Wunde am Unterarm blutete kaum. Bevor er in den Wagen stieg, holte er den Atlas aus dem Kofferraum. Er würde sich wahrscheinlich unzählige Male verfahren, das war ihm klar. Nicht nur, weil die Karten dreißig Jahre alt waren und sich einiges geändert haben dürfte. Er hatte sich noch nie mit so etwas zurechtfinden müssen.

Aber das war in Ordnung.
 
Er nahm den Kommunikator und drückte den Befehlsknopf, während er die Karte studierte. „Bring mich auf die Autobahn Richtung Berlin“, machte er ein letztes Zugeständnis. Sobald er aus der Stadt heraus war, hielt er auf dem Standstreifen, stieg aus und legte das Gerät vor den Reifen. Ganz langsam rollte er zuerst mit dem Vorder- dann mit dem Hinterrad darüber. Und noch einmal vor und zurück. Dann senkte er den Fuß auf das Gaspedal und lenkte auf die Fahrbahn zurück.

Der Atlas lag aufgeschlagen neben ihm, zwischen den blauen Flecken einer Seenplatte war eine kleine Stadt rot eingekreist.
Und über ihm in den grauen Wolken sah er den langgestreckten Pfeil der ziehenden Kraniche.

Hiermit endet Norman Liebolds Novelle. Wer die ganze Erzählung noch einmal im Zusammenhang lesen möchnte, kann sie beim
Amator Veritas Verlag für 8,60 Euro bestellen.

"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 208  vom 29.07.2009

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