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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 14
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 206.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                      


6.
Kapitel (Fortsetzung)

Kevin erhob sich und ließ sich zur Tür bringen.

„Du fährst die Straße, die über den Bach geht, rechts hoch und immer geradeaus. Du biegst nicht ab. Immer geradeaus. Du wirst sehen, wenn du draußen bist.“

„Und dann?“

„Ich denke, du wirst nicht lang warten müssen. Wahrscheinlich eine höfliche Polizeistreife oder so etwas. Stell dich blöde, sei richtig verwirrt und ganz und gar hilflos. Du warst hier, klar, aber du kannst dir keinen Reim drauf machen. Erzähl vor allem nichts von mir, klar?“ Kevin nickte. Der Alte drückte ihm den Atlas in die Hand. „Gut verstecken!“ mahnte er. „Vielleicht brauchst du ihn noch mal.“

„Wofür?“
„Hm“, machte Diogenes. „Das weiß man nie. Kennst du Mecklenburg-Vorpommern?“

Kevin bemerkte einmal mehr, wie vage sein Weltbild war. Er spürte den Impuls, das Handy zu zücken und Mecklenburg-Vorpommern als Suchbegriff einzugeben. „Irgendwo nördlich von Berlin, oder?“

Diogenes nickte, nahm die Pfeife aus dem Mund und zog noch einmal mit dem Mundstück seinen Kreis. „Wir leben in einer riesengroßen Lüge, mein Junge, einer riesengroßen, beschissenen Lüge. Sieh dir das hier an, ja? Da drüben meinen Kohl, meine Kartoffeln. Meine Schafe und Ziegen. Zehn Hühner habe ich und sechs Karnickel. Ich bin sechsundachtzig, habe nicht einen Zahn im Maul, und verdammt, ich zieh mir sogar meinen Tabak selber!“ Seine hellen Augen glänzten stolz. „Und den Hut habe ich selber gefilzt.“

„In der Tat, der ist beeindruckend“, sagte Kevin. Er musste grinsen. In seinem Inneren, er hätte nicht sagen können, warum, löste sich ein Knoten. Langsam, sehr langsam. Dieser Alte hier, der war auf eine ganz eigene Art frei. Wirklich frei.

„Und praktisch, das kann ich dir sagen. Ich sage noch mehr, mein Junge: Ihr werdet beschissen, klar? So richtig beschissen. Man pfercht euch ein in einen Käfig aus Angst oder in einen kuntibunten vollanimierten Plastikwürfel. Du unterscheidest dich nicht von denen, die hier ihre Sammelstelle genannt bekommen und morgens vom grauen Bus in die Fabrik gefahren werden, in die Mülltrennungsanlage, auf die Baustellen. Du machst dir vielleicht nicht so die Knochen kaputt, aber du bist keinen Deut freier. Vielleicht sogar weniger.“

Die Drohne surrte über die Kohlköpfe wie eine mutierte Libelle. Diogenes schaute mit einem nervösen Blick hinüber. „Ich würde mich gerne länger mit dir unterhalten“, sagte er. „Würde dir komischen Banker erklären, wie diese Sklaverei funktioniert. Würde dich fragen, woher die fetten Aktionäre eigentlich ihren Reichtum bekommen, obwohl sie sich nur die Eier schaukeln. Wer all diese labernden Horden unterhält, diese Politiker und Über-, Unter- und Mittelsekretäre, die unsere Geschicke zu leiten sich anheischig machen. Womit dieser ganze gigantische Apparat in seinen riesigen Glaspalästen bezahlt wird. Würde dir gerne auseinander setzen, dass das nichts als eine riesige Lüge ist, um von vielen auf einige wenige umzuverteilen.“


Die mutierte Libelle surrte in ihre Richtung und schwebte einen Meter hoch über dem Stoppelfeld, auf dem der Mais gestanden hatte.

„In Mecklenburg-Vorpommern, da gibt’s ganze Landstriche, die sind in den Zwanzigzehner Jahren regelrecht ausgestorben. Keine Arbeit, man ist abgewandert, die Landwirtschaft hatte die absurden Gesetze der EU – der Vorläufer des Vereinigten Europa – in Grund und Boden gestampft. Die Infrastruktur zerfiel, kein Schwein kümmerte sich mehr darum.“ Der Alte nahm Kevin den Atlas noch einmal aus der Hand und blätterte darin, Kevin sah blaue Flecken, das waren Seen, viele Seen, eng beieinander. Neben einem war ein roter Kreis, der eine kleine Ortschaft umgab.

Der Alte tippte mit dem Finger darauf. „Ist eine ganz kleine Stadt“, sagte er. „Hat völlig leer gestanden und verfiel schon. Da sind einige vernünftige Leute hingegangen. Wenn man so Leute wie mich vernünftig nennen würde, meine ich.“ Er klappte den Atlas zu. „Das System ignoriert sie, sie ignorieren das System. Ist für beide das beste. Sie leben völlig autark.“


„Warum erzählen Sie mir das?“

Der Alte zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil heute die Kraniche ziehen.“

Die Drohne war herangekommen und schwebte einen knappen Meter neben Diogenes. Ihr Kameraauge fixierte Kevin. Der Alte machte einen seitlichen Ausfallschritt, der Atlas sauste herab und schlug das Gerät aus der Luft. Es prallte auf den Boden und zersprang in ein Dutzend Einzelteile. Diogenes trat darauf und drehte den Absatz genüsslich auf der Kamera. „So, jetzt mach dich vom Acker“, sagte er zu Kevin und reichte ihm den Atlas.

„Danke“, sagte Kevin. Er nickte dem wunderlichen Alten zu und schritt den Trampelpfad hinunter. Ehe er in den Tunnel der Birken und Pappeln eintauchte, drehte er sich noch einmal um. Er sah ihn in einem der Korbstühle sitzen und mit einem Messer seine Fische putzen. Es war ein gutes Bild, ein Bild, das irgendwie ein Gegengewicht schuf, ein Gegengewicht zu der wirbelnden Unsicherheit, zu dem engen Gefühl in seiner Brust. Als er sich wieder umdrehte und durch den Tunnel aus Zweigen und herbstbuntem Laub schritt, war ihm, als durchschritte er eine unsichtbare Grenze. Die Welt auf der anderen Seite war nicht mehr dieselbe. Er fühlte den Atlas in seiner Hand, und seine Finger schlossen sich fester darum. Er fühlte sich ein wenig an wie der Zündschlüssel um seinen Hals. Vielleicht war auch er eine Art Schlüssel.

Beim Wagen angekommen öffnete er den Kofferraum, hob die Abdeckung über dem Reserverad an und versteckte ihn sorgfältig darunter. Dann fuhr er so, wie Diogenes es ihm beschrieben hatte: An der Brücke rechts, dann immer gerade aus. Zwei Mal sah er einen grauen Bus, vollgepfropft mit graugesichtigen, müden Leuten. Die Häuser begannen, ein wenig besser auszusehen. Ab und zu stand wieder ein Wagen in den Parkbuchten und die Straße war von hohen Linden gesäumt.


Ein zweites Mal rollte Kevin über die mit virtuellem Zirkel gezogene Grenze, die er weder sehen noch riechen konnte. Aber jetzt ahnte er sie. Hier hatte das Skalpell angesetzt und an der Wirklichkeit operiert, hatte ein Stück fein säuberlich heraus getrennt. Jetzt veränderte sich der Straßenzug schnell, und Kevin rollte in die blitzblank geputzte Welt zurück, die er kannte. Aber sie schmeckte faul in seinem Mund – und kalt. Er fuhr an den Straßenrand, stellte den Wagen ab und stieg aus. Ein Geländer lief um den Stamm einer Linde, er setzte sich darauf und schaute, die Hände tief in den Taschen seines Jackets, den Blättern zu, die aus den Wipfeln der Bäume durch die Luft auf die Straße trudelten. Er dachte nichts, und in ihm breitete sich eine Stille aus. Dieselbe Stille wie an der Brücke, wo Diogenes geangelt hatte.


Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 207  vom 22.07.2009

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