NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

zurück  
Druckversion

Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 13
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 205.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                      
6. Kapitel (Fortsetzung)

„Die Ein-Euro-Jobber wurden nicht mehr als arbeitslos gezählt. Durchaus legitim, immerhin arbeiteten sie ja auch, auch wenn sie sich weiter wie Abschaum und Arbeitslose fühlen mussten. Und dem System kamen die frisierten Zahlen sehr gelegen. Zuerst nur sogenannte soziale Einrichtungen, später dann Firmen nutzten diese Leute als Arbeiter. Logisch, nicht wahr? Arbeiter umsonst, das ist unübertrefflich effizient und wettbewerbsfähig. Noch besser als Roboter, wenn man es genau nimmt. Als die Finanzkrise diesem Hirnschiss von Wirtschaftssystem, dieser dämlichen Wahnvorstellung von Profit und ewigem Wachstum, diesem Jeder-bescheißt-Jeden-Spiel den Spiegel vor hielt, war schon alles da. Ich kann mich erinnern: Am Anfang hieß es, man wolle verhindern, dass die Firmen Pleite gingen und auf diese Weise Arbeitsplätze verloren gehen. Der Staat begann, unglaubliche Summen von Steuergeldern nicht nur wie üblich über getarnte Kanäle, sondern ganz dreist und offen direkt in die Kassen der Konzerne zu leiten. Und sie gingen noch einen Schritt weiter. Neben Finanzhilfen wurden vermehrt kostenlose Arbeiter nicht nur in die Altenheime geschickt, sondern in die Fabriken. Dämliche Sache, natürlich: Wenn einer umsonst Arbeiter kriegt, warum sollte er bezahlte Leute einstellen? Ich weiß nicht, ob das ein abgekartetes Spiel gewesen ist. Vielleicht war es nur die Verbindung von korrupten Aufsichtsrats-Politikern, hirnloser Bereicherung, pathologischer Horizontverengung und völliger Dämlichkeit.“

Der Alte deutete durch das Fenster seines Fasses nach draußen. „Die Leute da, die kriegen das Notwendigste vom System. Dach über dem Kopf, billigen Fraß, was zum Anziehen, damit sie nicht erfrieren. Und den einen oder anderen Luxus, damit sie nicht die Stadt anzünden. Ein Fernseher steht in jeder Wohnung, das ist natürlich selbstverständlich. Und Videospiele für die Kinder. So, wie es in deiner Welt selbstverständlich ist, dass ein fleißiger Junge einen guten Job bekommt, ein Auto fährt und in einer vollautomatisierten Wohnung lebt, ist es hier selbstverständlich, dass es keine Jobs gibt, egal, wie gut man ausgebildet ist. Wobei kaum einer gut ausgebildet ist. Wer hier geboren wird, kommt nicht raus. Wenn das System die Leistungen streicht – und das geht schnell – krepierst du. Zumindest ist das das Gefühl, in dem die Menschen hier leben.“ Diogenes schenkte Kevin noch etwas von dem Selbstgebrannten ein. „Du hast die Busse gesehen. Die Leute hier, sie bekommen eine Nachricht. Da steht nichts weiter drin als die Nummer ihrer Bedarfsgemeinschaft, die Sammelstelle und die Uhrzeit. Und natürlich die Belehrung, was im Falle des Nichterscheinens für Restriktionen in Kraft treten werden.“

Diogenes nahm die Pfeife zur Hand, klopfte sie aus, reinigte sie mit einer gewissen Umständlichkeit, um sie in aller Seelenruhe aus einem Lederbeutel neu zu stopfen. Kevin konnte nichts sagen. Es saß nur da, seine Welt hatte Risse und zerbröckelte, je mehr die Worte des Alten in ihn eindrangen. Der Wind fauchte in einer Ritze des Wagens, im Ofen knackte das Holz, es roch nach Salbei und brennenden Buchenscheiten. Ab und zu schrieen weit oben in den grauen Wolken die Kraniche.

„Wie viele ...“, stammelte Kevin nach einer Weile. „Wieviel Prozent ...“

Diogenes steckte sich seine Pfeife in den Mund. Er ging zum Ofen hinüber, öffnete die Klappe und hielt einen langen Span hinein. „Keine Ahnung“, sagte er. „Die Schwierigkeit ist, dass man das nicht gut nachprüfen kann. Ich weiß es von hier, weil ich hier mit meinen eigenen Augen sehen, mit meinen Händen anfassen kann. Aber nimm den alten Atlas hier und vergleich ihn mit den Karten, die dir dein Navigationssystem ausspuckt. Diese virtuelle Scheiße hat die Welt mehr verändert als ein Atomkrieg!“

Diogenes paffte, während er den brennenden Span an den Pfeifenkopf hielt. Große Rauchwolken stiegen auf, es roch leicht süßlich und nach Kräutern. „Deine Wirklichkeit, deine tolle weltumspannende Informiertheit, ich geb darauf so viel, wie ich Dreck unter dem Fingernagel hab. Deine Nachrichten-Feeds erzählen dir, dass in Indien eine heilige Kuh umgefallen und dass die Arbeitlosenquote auf unter ein Prozent gefallen ist. In Amiland ist ein neuer Präsident gewählt worden, der Politiker soundso im Hindukusch hat sich mit Minister Wasweißich getroffen und Händchen geschüttelt, und in Bagdad wurde wiedermal ein Attentat verübt, infolgedessen folgende Anti-Terror-Gesetze verschärft werden müssen, um die bedrohten Bürger zu schützen. Und tickertickerticker die aktuellen Aktienkurse und irgendwelche Prognosen für Wirtschaftswachstum. Was immer diese komischen Zahlen auch aussagen sollen.“

Diogenes stieß eine gewaltige Wolke blauen Rauches aus und setzte sich wieder an den Tisch. „Und du weißt noch nicht einmal, dass in der Stadt, in der du lebst, dieses Viertel existiert und wahrscheinlich mehr als ein Drittel der Einwohner eine Art neue Sklavenschicht bildet. Ihr haltet euch für so unglaublich frei, dabei lauft ihr in den engsten Gleisen, die es je gegeben hat. Bei euch sind noch nicht einmal mehr die Gedanken frei, sag ich dir!“

Ein mechanisches Surren vor der Scheibe, Kevin drehte den Kopf und sah eine weitere Drohne mit schnell drehenden Rotoren über dem Salbei schweben. Diogenes fluchte ein „Scheißviecher“, aber ehe er das Fenster aufreissen und das Ding mit einem Buch platt schlagen konnte, war es weggesurrt. „Hm“, knurrte der Alte. „Du solltest nicht allzu lange hier bleiben.“

Er nahm die Pfeife aus dem zahnlosen Mund und kratzte sich mit dem Mundstück nachdenklich an der Nasenwurzel. „Wär nicht gut für dich, wenn sie dich hier finden. Und wär auch nicht gut für mich.“ Er deutete durch das Fenster auf seinen Garten, machte eine kreisende Bewegung, die seinen Wagen, die Bücher und den Ofen mit inbegriffen. „Das hier, das ist eine Art, nun, sagen wir Falte in der Wirklichkeit. Ein blinder Fleck. Ich habe kaum Berührungspunkte. Ich verbrauche keine vom System produzierten Waren, es fehlen keine Kilowattstunden an Strom, es ist keine Nummer in irgendeiner Datenbank zuviel oder zu wenig.“

Diogenes nahm den Atlas vom Tisch, legte einen Streifen Papier auf den Kölner Stadtplan und klappte ihn zu. „Aber wenn sie dazu gebracht werden, das hier unter die Lupe zu nehmen, dann werden sie mich sehen. Ich bin wie der Floh im Pelz. Solange der Hund nicht weiß, dass ich da bin, habe ich meine Ruhe und kann ihn ab und zu piesacken. Aber wenn er um mich weiß, wird er keine Ruhe geben, bis er mich gefunden und zerquetscht hat.“


Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 206  vom 15.07.2009

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE