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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 12
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 204.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                      
6. Kapitel (Fortsetzung)

Diogenes schaute ihn traurig an, nahm den Becher mit dem Selbstgebrannten und nippte daran. Seine unwahrscheinlich blauen Augen sahen Kevin lange an. „Das Mittelalter, mein Lieber, war, verglichen mit heute, äußerst tolerant. Du hast es immer noch nicht kapiert, oder?“ Er erhob sich halb, beugte sich über den Tisch und knallte die Hand auf den ADAC-Atlas mit dem Kölner Stadtplan. „Deine verdammte Plastikwelt hat nichts mit der Realität zu tun, Jüngelchen! Die haben dieses ganze beschissene Stadtviertel einfach aus deiner Wirklichkeit rausgeschnitten, klar? Und ich kann dir sagen, das ist nicht das einzige! Die Weltkarte ist umgeschrieben, kapierst du das? Und Schwachmaten wie du kommen noch nicht einmal auf den Gedanken, dass etwas nicht stimmen könnte. Eure Navigationssysteme lotsen euch hübsch drum herum, ihr glotzt auf Eure Bildschirme und glaubt, ein Satellitenbild direkt aus dem Weltraum zu sehen und alles hat seinen Platz. Bis du von einem scheiß Blitz getroffen wirst und anfängst, deine Augen aufzumachen und selber zu gucken.“

Diogenes‘ Augen flackerten. Er wirkte beängstigend, wie er über dem Tisch gebeugt stand, die Hände aufgestützt. Alte Hände, aber kraftvoll von der Arbeit im Garten da draußen, vom Holzhacken und Schafescheren.

Kevin versuchte, seiner Stimme einen ruhigen, vernünftigen Ton zu geben. Etwas in ihm wollte glauben, dass das hier ein Verrückter war. Wer sonst würde auf einem abgerissenen Industriegebiet in einem komischen Zirkuswagen leben, sich Schafe und Ziegen halten und Jagd auf Polizeidrohnen machen? Wahrscheinlich hatte der noch nicht einmal eine Krankenversicherung. Natürlich nicht. Der Mann hier existierte noch nicht einmal. „Hören Sie, das ist ja alles schön und gut, was Sie da sagen. Aber wozu – ich frage Sie! – wozu sollte sich denn irgendjemand so einen unglaublichen Aufwand machen? Satellitenbilder fälschen, Navigationssysteme manipulieren? Nur, damit man nicht weiß, dass es das Stadtviertel hier gibt? Seien Sie doch mal realistisch! Das funktioniert doch gar nicht. Es leben doch Leute in der direkten Nachbarschaft, die sehen doch, dass hier Häuser stehen. Und die Leute selbst, die hier wohnen, denen kann man das ja wohl schwer weismachen!“

Die Stimme des Alten wurde leise und ruhig, aber das war erschreckender als ein lautstarker Ausbruch. „Kevin“, sagte er. „Was denkst du, wie hoch ist die Arbeitslosenquote heute?“

„Nach der großen Finanzkrise konnte die Arbeitslosigkeit weitestgehend überwunden und eine stabile Vollbeschäftigung erreicht werden. Die Arbeitslosen heute stellen nur temporäre Fluktuationen auf dem Markt dar. Wenn ein alter Job aufgegeben und ein neuer mit Pause angetreten wird, zum Beispiel.“

„Das hast du aber fein auswendig gelernt. Dafür bekommst du ein Fleißkärtchen.“ Diogenes tätschelte seinen Arm und wirkte jetzt vollends, als wäre er übergeschnappt. „Darf ich dir eine einfache Rechenaufgabe stellen?“ Er wartete Kevins Antwort nicht ab. „Wenn die Konzerne immer weiter auf Automatisierung setzen, nehmen die Arbeitsplätze zu oder ab? Wenn Unternehmen fusionieren und ihre Teilbereiche für größere Effizienz zusammenlegen, schafft das Arbeitsplätze, oder baut es sie ab? Wenn ein Großkonzern die Kirschmarmelade für die halbe Welt produziert anstatt tausend kleine Betriebe je für ihr Land, bedeutet das mehr Arbeitsplätze oder weniger? Wenn im Netz eingekauft wird anstatt in unzähligen Läden mit Verkäufern, wenn ...“ Er winkte ab. „Ich denke, das reicht. Du siehst aus, als wüsstest du, von was ich rede.“

Er schaute Kevin forschend an, während in Kevin das mulmige Gefühl wieder Raum griff. Ja, Kevin wusste, von was der Alte redete. Er war Broker, er verkaufte und kaufte Aktien, er kannte die Kriterien, die am Markt anlagen: Effizienz. Effizienz. Effizienz. Die Kurse für einen Konzern gingen hoch, wenn er entließ und wettbewerbsfähiger wurde. „Vor deiner Finanzkrise, ja? Davor haben die Statistiken etwas von vier oder fünf Millionen Arbeitslosen erzählt in dem Gebiet, das damals Deutschland hieß. Aber jeder, der mitdachte, wusste, dass es wesentlich mehr waren. Man erfand Parameter, nach denen ganze Gruppen aus der Statistik herausgenommen wurden. Älter als so und so viel Jahre, nicht vermittelbar und, eine Erfindung vom Anfang des Jahrhunderts, die so genannten Arbeitsgelegenheiten. Man nannte das auch Ein-Euro-Job. Schon mal was davon gehört?“

Kevin schüttelte den Kopf. Der Mümmelgreis da vor ihm ohne einen Zahn im Maul erzählte und erzählte und erzählte, und er fragte noch nicht einmal, ob er das überhaupt hören wollte. Und verdammt, er wollte das nicht hören. Er hatte keine Ahnung, was dieser alte Knacker ihm überhaupt sagen wollte. „Ein-Euro-Jobs. Die haben Arbeitslose genommen und für umsonst arbeiten geschickt. Ansonsten wurden ihnen die Leistungen gestrichen.
Okay?“

„Was okay?“ Kevin war genervt. Was wollte der von ihm? Er hatte das seltsame Bedürfnis, die Hände auf die Ohren zu pressen und laut sinnlose Worte vor sich hin zu singen.

„Verstehst du, was ich dir erzähle?“
„Keine Ahnung, lassen Sie mich doch in Ruhe!“
„Dafür ist es zu spät. Du bist schon zu weit gegangen.“
„Zu weit gegangen? Wohin denn zu weit? He?“

„Du hättest dich brav auf den Standstreifen stellen sollen und warten, bis Hilfe kommt. Es hätte nicht lange gedauert. Irgendein Computer hätte registriert, dass deine Geräte nicht mehr online sind. Die RFID-Lesegeräte, die alle paar hundert Meter an der Autobahn installiert sind, hätten deinen Standpunkt übermittelt, und dass du dich nicht bewegst. Und sie wären schnell gekommen. Halbe Stunde, vielleicht. Logisch, nicht wahr? Du bist abgenabelt, du siehst plötzlich selber, bekommst nicht sofort alles interpretiert, was du siehst. Du hast keinen Navi. Wer weiß, wo es dich hin verschlägt. Vielleicht in eine der großen Fabriken. Nicht die Vorzeige-Fabriken, mein Junge, ich meine die anderen. Die Müllverbrennungsanlagen, zum Beispiel. Oder du kommst in ein Nirgendwo-Ort wie den hier. Als sie kamen, warst du weg. Du bist nicht brav stehen geblieben. Keine Ahnung wieso, aber du bist wohl ein bisschen anders als diese ferngesteuerten Hirnamputierten – du scheißt auf den Autopiloten und fährst selber weiter.“

Der Alte griente. „Ich finde das ja sympathisch, aber ich fürchte, ich bin da in der Minderzahl. Du bist in den Augen des Systems wahrscheinlich eine Art Krebszelle. Du kurvst ungelenkt durch Köln und kommst ins Nirgendwo-Land. Du siehst, dass was mit deiner Plastikwelt nicht stimmt. Du hast doch gesehen, wie die Leute hier aussehen, wie sie drauf sind!“

Kevin konnte nur nicken. Der Albtraum kam zurück, er schwappte über ihm zusammen. Ja, er hatte sie gesehen. Auf seinem Kofferraum war eine tiefe Delle, wo jemand mit einem Brecheisen zugeschlagen hatte. Er sah die herunter gekommenen Häuser, die leeren Fenster, den Hass und die Resignation hinter den Augen.

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 205  vom 08.07.2009

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