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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 11
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 203.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                      
6. Kapitel (Fortsetzung)

„Was meinten Sie damit: Wir sind im Lande Nirgendwo?“ fragte er, und seine Stimme war seltsam tonlos. Das Gefühl, das ihm die Kehle zu drückte, hatte eine andere Qualität angenommen. Es fühlte sich an, als würde mit leichtem Schwindelgefühl der Boden unter ihm weg gezogen. „Hat mich der Blitz ... irgendwie, aus dem Raum-Zeit-Kontinuum ...? Irgendwie, nun ...“ Kevins Stimme bröckelte weg.


Der Alte stieß ein kurzes, meckerndes Lachen aus. „Du hast zuviel Sience-Fiction gelesen“, erklärte er und schenkte die beiden Becher mit Schnaps voll. „Auf der anderen Seite hast du nicht ganz so Unrecht. Ja, in gewisser Weise hat dich der Blitz aus einem Kontinuum herausgeschleudert, als er dir dein Navi weggeschmort hat und den anderen technischen Schnickschnack.“ Er griff nach dem Computer und schaltete ihn aus. „Das ist besser“, erklärte er, als er ihn in die Truhe zurück legte. „Ist zwar einer der alten Generation, aber er ist online, und sicher kann man nie sein.“ Er bemerkte Kevins fragenden Blick und schüttelte den Kopf. „Wie naiv bist du eigentlich? Mensch! Du kannst davon ausgehen, mein Junge, dass man dich schon sucht.“

„Sucht?“
„Sucht!“ Der Alte warf die Hände zur Decke. „Was denkst du denn, was dieser ganze Online-Scheiß soll? Um die Bequemlichkeit der Bürger zu steigern und die Lebensqualität?“ Er lachte sein meckerndes Lachen. „Kontrolle, Jüngelchen, Kontrolle! Scheiße nocheins, als die ganze Kacke anfing, Ende der Neunziger, hat man schon gewusst, dass die Scheißdinger ortbar sind.“

„Ortbar?“ Kevin kam sich vor wie ein kleiner, dummer Junge.

„Wenn du dein Scheißhandy an hast, dann weiß man, wo du bist. Auf den Meter genau. Und wann hast du es das letzte Mal aus gehabt? He?“ Nur der Gedanke, das Handy auszumachen, war schon seltsam. „Siehste! Schon mal 1984 gelesen?“ Kevin schüttelte den Kopf. Der Alte lachte. „Klar. Das Buch gibt’s natürlich noch. Aber niemand kommt auf den Gedanken, es zu lesen. GoogleZon empfiehlt es nicht, erzählt nichts davon, ignoriert es einfach. Und ihr, ihr sucht schon lange nicht mehr. Da gibt’s solche Bildschirme, in der Geschichte, weißt du, auf denen siehst du nicht nur etwas, durch die kann man dich auch sehen. In jeder Wohnung, auf jedem öffentlichen Platz, überall sind diese Televisoren, wie Orwell sie nennt. Die Leute müssen das dulden. Wir haben das besser hin bekommen. Viel besser.“


Illustration: Björn „The Hoink” Zutt

Er wies auf die Truhe, in der der Computer verschwunden war. „Ihr nehmt die Scheißdinger sogar freiwillig überall mit hin, sendet von überall, wo ihr gerade seid, und denkt noch nicht mal drüber nach, dass jedes Wort, das ihr sprecht, aufgezeichnet, analysiert und verwertet wird. Ihr digitalisiert euer ganzes scheiß Leben, vom Babyfoto bis zum Tagebuch, von der Einkaufsliste bis zum Seitensprung. Die können euer ganzes Leben mit Suchmaschinen durchforsten.“ Der Alte winkte ab. „Ist ja auch egal. Seit du vom Blitz getroffen wurdest, bist du nicht mehr online. Du bist ausgegangen wie ’ne kaputte Glühbirne. Der ständige Faden der Aufzeichnungen ist plötzlich abgerissen. Die Drohne war vielleicht wegen dir hier. Vielleicht bist du an einem RFID-Scanner vorbei gefahren, und sie wissen, dass du hier irgendwo im Niemandsland bist.“

„RFID? Niemandsland?“ Der Boden unter Kevin schwankte immer mehr.

Der Alte strich sich seine schulterlange schlohweiße Mähne zurück. „Radio Frequency Identification“, sagte er. Er griff sich Kevins Unterarm und drehte ihn um. Sein Daumen drückte sich unterhalb des Handgelenks zwischen die Sehnen. Kevin spürte das reiskorngroße Implantat. „2005 erstmals Pflicht in Reisepässen. Erfassung der biometrischen Daten des Gesichtes. 2007 kommen die Fingerabdrücke mit auf den Chip. 2010 Pflicht im Personalausweis, also flächendeckende biometrische Erfassung aller Bürger. Der lieben Sicherheit zuliebe unverlierbar zehn Jahre später unter die Haut versenkt, Jüngelchen. Das Ding zapft dir sogar bio-elektrische Energie ab, um fröhlich überall zu verkünden, dass ...“

Der Alte beugte sich vom Stuhl herunter, klappte seine Truhe auf und kramte ein faustgrosses Gerät mit Griff und Display heraus. Er schaltete es ein und legte es auf den Tisch. Auf dem Display erschien Text, dann, etwas später, Bilder. Kevin sah sein Gesicht, frontal aufgenommen und darunter die Reihe seiner Fingerabdrücke. „... du Kevin Freitag heißt, einsdreiundachtzig groß bist, in Neuss geboren wurdest. Aha. Linkshänder. Abitur in Düsseldorf, Studium BWL mit Schwerpunkt Datenverarbeitung. Hm. Du hast, was deine Erbsubstanz angeht, einen Risikofaktor am Herzen, wie ich sehe.“ Der Alte streckte Kevin die Rechte entgegen und nickte militärisch. „Gestatten: Diogenes, mein Name.“

„Diogenes Wer?“ fragte Kevin automatisch.
„Diogenes Niemand“, sagte Diogenes. Er drehte seine Hand. Kevin verstand zuerst nicht, was er damit sagen wollte, bis ihm auffiel, dass Diogenes nicht die kleine, kaum sichtbare Narbe hatte, wo der reiskorngrosse Chip unter die Haut gegangen war. „Diogenes Niemand aus dem Lande Nirgendwo. Den Namen hab‘ ich mir natürlich selbst gegeben.“ Er schob Kevin das Gerät hinüber und deutete auf eine Anzeige oben rechts im Display. „Es ist nur eine Person hier im Wagen, wie du siehst.“ Er strahlte aus sämtlichen Falten und Fältchen und sah äußerst verschmitzt aus. „Für das System existiere ich nicht.“

„Deswegen können Sie die Drohnen ...“

Der Alte grinste noch ein Stück breiter und entblößte rosiges Zahnfleisch. „In der Tat“, feixte er. „Wenn da noch Menschen säßen, meinetwegen. Menschen, die angucken, was diese Scheissdinger aufzeichnen. Aber da sind nur Grossrechner. Die registrieren mich nicht. Meine Fresse wird nicht als Gesicht erkannt, denn ich bin in keiner dämlichen Datenbank als biometrisches Konstrukt gespeichert. Wenn ich so ein Ding runter hole, geschieht es aus dem Nichts – denn kein scheiß Radiochip steckt denen, dass ich direkt vor ihm stehe und es wie eine verfickte Schmeißfliege platt schlage. Ich mach sie platt, sobald ich eine sehe, das kann ich dir sagen!“

Kevin schaute unwillkürlich auf seinen Unterarm und die kleine weiße Narbe, wo der Beamte die silberne Hohlnadel angesetzt hatte. Er war sieben gewesen, und er hatte nichts davon gespürt. Die Nadel betäubte beim Eindringen die Nerven, danach kam ein Pflaster drauf und zwei Tage später sah man kaum noch etwas davon. War der Chip einmal drinnen, konnte er von außen programmiert werden.

„Hm“, machte Diogenes. „In der Tat: dich hat das Scheißding natürlich registriert. Aber du bist streng genommen schon jetzt ein Renegat.“
„Ein was?“
„Renegat. Der. Mehrzahl: die Renegaten. Aus dem Lateinischen für: vom rechten Glauben Abgekommener, ein Abtrünniger.“

Kevin starrte diesen komischen Faltengnom an, der ihn angrinste. Von was redete dieser seltsame Mann in seiner Schaffell-Jacke, die sichtlich selbst zusammen genäht war? Wahrscheinlich mit den Sehnen des Tieres oder zusammen gedrehtem Darm. Ein Robinson Crusoe in Köln, ein Freak mit paranoiden Wahnvorstellungen. „Wieso Renegat, was glauben Sie denn, wo wir leben? Im Mittelalter?“


Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 204  vom 01.07.2009

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