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Aktueller Online-Flyer vom 20. April 2024  

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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 10
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 202.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                      
6. Kapitel

Es war nicht sehr geräumig im Inneren des Fasses, aber es war warm und in einer Weise eingerichtet, dass Kevin sich sofort wohl fühlte. Eng und bis unter die Rundung des Daches mit allen möglichen und unmöglichen Dingen vollgestopft. Auf einer Seite mit einem schweren Polstersessel davor der Ofen, hinter dessen breiter Glasscheibe das Feuer rotorange züngelte. Bündel mit getrockneten Kräutern hingen von oben herab, und überall standen, lagen und stapelten sich Bücher. In Regalen, die der Rundung der Fassdauben folgten, auf einem hölzernen Tisch unter dem Fenster, aufgeschlagen auf der Lehne des Sessels. Kein eBook-Reader weit und breit, richtige Bücher. Kevins Finger strichen fast zärtlich über den brüchigen Lederrücken eines dicken Buches, das neben ihm auf einem Bord zwischen staubigen Weinflaschen stand. Don Quijote.

„Setz dich“, sagte der Alte und deutete auf einen der beiden Stühle am Tisch. „Ich mach den Tee. Holunderblüten und Brennessel mit ein wenig Salbei.“ Kevin nickte. Das sagte ihm zwar nichts, aber es war ihm auf eine wohlige Weise gleichgültig. Er setzte sich an den Tisch und schaute durch das Fenster nach draußen, über den Garten und den Gürtel aus Grün, der diese Lichtung vor Blicken schützte. Er spürte die Wärme, die vom Ofen ausstrahlte und hörte den Alten in Schränken rumoren. Wenig später standen zwei Tassen und eine dampfende Kanne auf dem Tisch.

Der Alte wirkte mit all seinen Runzeln unendlich gelassen. Er hatte tausende winzige Fältchen neben den hell leuchtenden blauen Augen, und die Winkel seines Mundes, so eingefallen zahnlos er auch sein mochte, wandten sich nach oben. Er war zufrieden mit sich, das konnte man sehen, und der Wutausbruch beim Anblick des Busses wirkte dadurch um so krasser. Kevin trank einen Schluck Tee. Er wunderte sich, dass er nicht überlief vor lauter Fragen, sondern diese schlichte Ruhe fühlte.

Vor dem Fenster hing plötzlich eine Drohne.

Sie wirkte wie eine überdimensionale Libelle, und ihr Kopf war eine Kamera. Sie schwebte über dem Blumenkasten und glotzte zu ihnen herein. Der Alte bewegte sich erschreckend schnell: Mit der einen Hand riss er das Fenster auf, mit der Anderen griff er ein schweres Buch vom Tisch. Die Drohne versuchte im letzten Moment auszuweichen, aber das Buch war schneller: Es fuhr herab, ein metallisches Knirschen und Splittern, das Jaulen eines zerstörten Elektromotors. Als das Buch sich hob, lag nur eine Handvoll Plastikschrott im Blumenkasten. Die Kamera surrte noch.

„Sie haben ...“ stammelte Kevin. „Das war eine Polizeidrohne!“

„Richtig“, entgegnete der Alte. Er griff an das hintere Ende der Kamera und brach ein fingernagelgroßes Kästchen ab, ehe er die Drohnenreste in die hohle Hand sammelte, hinüber zum Ofen ging, die Tür öffnete und sie hinein warf. „Verdammte kleine Scheißteile!“

„Das ist strafbar!“

Der Alte zuckte mit den Schultern, schloss das Fenster und setzte sich wieder an den Tisch. „Ich existiere noch nicht einmal“, grinste er Kevin an. „Was juckt mich also, was strafbar ist und was nicht?“ Er schlürfte laut von seinem Tee. „Wir sind hier im Lande Nirgendwo und ich bin Herr Niemand, verstehst du?“ Der Alte schielte über seine Tasse, und ihm blitzte der Schalk in den Augen. Völlig unerwartet stieß er ein meckerndes Lachen aus und wirkte wie ein seltsamer Gnom. „Neeee, verstehste nich. Kannste auch nich verstehn. Wie solltste auch?“

Er stand auf und trat zu einem Bord mit Flaschen. Er holte eine herunter, stellte zwei kleine Becher vor Kevin hin und schenkte ein. „Selbstgebrannter. Den brauchst du jetzt, denke ich.“ Er drückte Kevin den gefüllten Becher in die Hand. Er roch nach Rauch und Wind. „Schau nicht so blöd, runter damit!“ Der Alte kippte den Becher und schmatzte mit faltigen Lippen. Kevin tat es ihm nach. Die Flüssigkeit lief wie Feuer seine Kehle hinunter, in seinem Magen explodierte Hitze und breitete sich aus. Sein Mund schmeckte nach dem Rauch eines Feuers, das irgendwo in den Bergen brannte mit schnell ziehenden, dunklen Wolken darüber.


„Du bist aus der Welt gefallen, Junge“, sagte der Alte.

„Wie meinen Sie das?“ Kevins Stimme war ein wenig heiser. Das mulmige Gefühl, das etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, meldete sich mit einem Schlag zurück, ihm wurde flau im Magen, seine Kehle trocken. Er hatte bei dem Alten fast die Verwirrung vergessen, als er plötzlich durch Straßen fuhr, wie es sie nicht geben durfte. Jetzt drückte es ihm wieder den Hals zu, die Brust wurde ihm so eng, dass er nicht richtig atmen konnte. „Nun sagen Sie schon, was meinen Sie damit?“

Der Alte drehte sich um und öffnete eine Truhe mit Stahlbändern, die geradewegs aus dem Mittelalter zu kommen schien. Es hätte keinen unpassenderen Ort für das geben können, was er heraus holte: einen Computer, wie er vor Jahren modern gewesen sein mochte. Ein handgroßer Touchscreen, nicht dicker als anderthalb Zentimeter. Auf Knopfdruck glomm der Bildschirm auf, die Finger des Alten glitten durch die Menüs. Kurz darauf erschien Köln, von oben gesehen. Ein Satelliten-Bild, auf dem die Straßennamen eingeblendet waren. Eine Bewegung des Zeigefingers, und das Bild zoomte heran. „Schau es dir an.“

Kevin schaute. Das Bild war ihm vertraut, das Bild war jedem vertraut in seinen Tagen. Es gab keine weißen Flecken mehr auf den Karten. Wenn man wollte, konnte man Steine zählen in der Antarktis, und wenn man keine fand, eben Eisbären. „Ja, und?“ fragte er den Alten und trank einen Schluck Tee.

„Wo sind wir, was meinst du?“
Kevin zuckte mit den Schultern. Er zog den Computer zu sich hin. „Wie heißt denn die Straße hier?“

Der Greis grinste und kramte erneut in seiner Truhe. Er holte ein zerfleddertes Buch heraus. Der Rücken fehlte, der Einband begann sich bereits aufzulösen. „ADAC“ konnte Kevin die vier großen Buchstaben gerade noch entziffern. Nach einigem Blättern legte der Alte das Buch aufgeschlagen neben den Bildschirm. Es war ein Karte in Buchform, ein Stadtplan, wie wir Heutigen es nennen würden, genauer: Ein ADAC-Atlas von 2008, aufgeschlagen auf der Doppelseite mit Köln. Kevin hatte so etwas noch nicht gesehen, die Karten und Satellitenbilder, auf die man mit Handy und Computern zugriff, waren genauer, bequemer und funktionaler und hatten gedruckte Karten längst vollständig verdrängt.

Der Alte tippte auf eine Stelle im Stadtplan. „Es hat sich seit 2008 das eine oder andere verändert, aber erkennbar ist es allemal“, sagte er. Dort, wo der knochige Finger auf das Papier zeigte, konnte Kevin die flächigen Rechtecke großer Gebäude erkennen. Offenbar das Industriegelände, als die Gebäude noch standen. Da floss der kleine Bach schnurgerade hindurch. Er schaute auf den Bildschirm des Computers und orientierte sich. Da war der Rhein, hier das Stadtzentrum mit Dom und das Schienengewirr des Hauptbahnhofs. Hier die große Hauptstraße, der Ring, die Autobahn.


Er stutzte. Schaute zum Atlas, wieder zurück.
Die beiden Karten unterschieden sich.

Nicht, was den einen oder anderen Straßennamen anging, oder einen Friedhof, der zum Wohnviertel geworden war.
Nein, hier fehlte ein Stück.

Er zoomte heran, brachte den Maßstab von Karte und Satellitenbild überein, schaute fragend in das faltige Gesicht ihm gegenüber, das ihn aufmerksam musterte. Verglich wieder.

Das Gebiet musste gut zwei Kilometer breit und mehr als vier lang sein. Ein komplettes Viertel. Er sah den Bach, an dem der Alte geangelt hatte, konnte seine schnurgerade blaue Linie durch die rechteckigen Flächen der Fabrikhallen nachverfolgen. Er hatte den Bach auf dem Satellitenbild gefunden. Er schlängelte sich hier lang und dort lang, aber er wurde nicht schnurgerade, und er zog sich nicht durch braches Land mit den Resten riesiger Fundamente. Er sah keine Häuserblocks mit löchrigen Straßen dazwischen. Er schaute aus dem Fenster. Allein der Garten des Alten hätte auf dem Bild deutlich erkennbar sein müssen, auf dem sogar einzeln parkende Autos gut zu unterscheiden waren. In diese kreisrunde Lichtung hier hätte man dreißig Autos hintereinander stellen können.

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 203  vom 24.06.2009

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