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Aktueller Online-Flyer vom 20. April 2024  

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Aktuelles
Die NATO feierte Geburtstag: Grundrechte außer Kraft gesetzt
In den Kriegszustand versetzt
Von Christian Heinrici

Rien ne va plus – eine Region im Ausnahmezustand: Zehntausende Polizisten und andere „Einsatzkräfte“, genervte Anwohner, wütende Demonstranten, verschleuderte Steuergelder, weiträumige Absperrungen, schikanöse Blockaden und trotz eines geballten journalistischen Aufgebots die Aussetzung demokratischer Grundrechte – Die NATO-Oberen aus Politik und Militär feiern Geburtstag. Manch einer mag sich an einen Wahlspruch des Landes Baden-Württemberg erinnert gefühlt haben, in leicht abgewandelter Form: „Wir können alles – außer demonstrieren!“


An der Europabrücke in Kehl: Grundrechte              
außer Kraft gesetzt
| Foto: arbeiterfotografie.com
Auf ihrem Gipfel in Straßburg und Baden-Baden Anfang April hat sich die NATO durch die Verletzung der Grundrechte beim Gipfel als angebliches Wertebündnis für Frieden, Freiheit und Demokratie erneut diskreditiert. „Die Gastgeber des NATO-Gipfels präsentierten sich als Polizeistaaten, die das Demonstrationsrecht systematisch aushebelten. Die Bundeskanzlerin und der französische Präsident sollten sich künftig mit Kritik gegenüber dem Vorgehen russischer oder chinesischer Sicherheitskräfte zurückhalten“, formulierte Manfred Stenner, Geschäftsführer des Netzwerks Friedenskooperative, pointiert.

Die Friedenskooperative führt die Ausschreitungen gewalttätiger Demonstranten zu einem großen Teil auf die repressive Vorgehensweise zurück, die schon in der Planungsphase herrschte. Die Gewaltprognosen deutscher und französischer Behörden, die massiven Einschränkungen des Demonstrationsrechts und das gewalttätige Vorgehen insbesondere der französischen Einheiten hätten die Militanz begünstigt. Und so wurde die große Mehrheit der friedlichen Demonstranten daran gehindert, ihren vielfältigen bunten Protest auf die Straße zu tragen. Blendschockgranaten, Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse waren auch gegen friedfertige Demonstranten eingesetzt worden.

Obama Sarkozy Foto: Weißes Haus/Pete Souza
Das kommt dabei raus, wenn man den Innenminister zum Präsidenten macht... | Foto: Weißes Haus/Pete Souza

Man wolle keine Demonstranten in Straßburg sehen, hatte Nicolas Sarkozy im Vorfeld getönt, und die knapp 300.000 Einwohner zählende Gemeinde weitläufig abgesperrt. Wer das „gallische Dorf“ dennoch mit dieser Absicht betrat, musste mit dem Schlimmsten rechnen: „Nach Polizeiangaben provozierten die NATO-Gegner die Polizisten mit Handküssen und Staubwedeln. Die Polizei trieb daraufhin die Truppe auseinander.“ Die vom Südwestdeutschen Rundfunk unkritisch übernommene Meldung stand beispielhaft, auch für eine mediale Berichterstattung, die starke manipulative Züge aufwies.

Absurdes Baden in einer Unmenge Polizisten


Am 3. April in Baden-Baden durfte schließlich eine Alibi-Kundgebung fernab des abgeriegelten Kurortes stattfinden. „Am Bahnhof stand schon ein Mann-an-Mann Zaun aus Polizisten. Wir waren nur sehr wenige Demonstranten, weil Leute von außerhalb überhaupt nicht durchkommen konnten. Die Achse vom Rhein bis in den Schwarzwald war komplett zu! Entsprechend waren wir Baden-Badener unter uns.“ berichtete Anwohner und NATO-Gegner Christof Oesterle. Bürger durften weder ans Fenster, noch auf den Balkon treten – am selben Tag waren in der Straßburger Innenstadt sogar Friedensfahnen von der Polizei zwangsabgehängt worden.

Entgegen Medienvertretern, die 600 Demonstranten in Baden-Baden gesehen haben wollten, sprachen die meisten Kundgebungsteilnehmer von allerhöchsten 200. Dafür waren wiederum 15.000 Polizisten vor Ort, womit sich jeder Gipfelgegner von jeweils 75 persönlichen Beamten beschützt fühlen konnte, wenn er wollte. Die Kosten für die Inszenierung des absurden Theaters betrugen rund 50 Millionen Euro. Auch standen für jeden Demonstranten 20 Journalisten bereit, falls es vielleicht zu gewaltsamen Ausschreitungen auf Seiten der Protestierenden gekommen wäre.

ANTI-NATO-Demo in Kehl Pace-Flagge vor vermummter Polizei Foto: Norman Liebold
Vermummte Polizeikräfte blockieren Friedensaktivisten
Foto: Norman Liebold

Doch das einzige Bemerkenswerte in dieser Hinsicht war ein mit einer Sonnenbrille „vermummter Demonstrant“, der auf dem Zug durch einen dreifachen Polizeikorridor gewaltsam von „den Beamten“ entfernt wurde. Randale und Barrikaden habe es allerhöchstens auf Polizeiseite gegeben, berichtete Oesterle sichtlich aufgebracht: „Es gab da nichts zu barrikadieren, denn wir wurden ja komplett gefilzt. Ich wurde sogar von einem Polizisten während der Kontrollen an den Penis gegriffen, und das nicht nur einmal, sondern zweimal. Ich fühlte mich also ganz unangenehm berührt! Die haben immer ganz bewusst auf die Geschlechtsteile gedrückt, um zu sehen, ob da nicht noch etwas Gepolstertes drin ist: irgendeine Waffe oder so etwas...“

„Sur le pont“ ging es nicht

Mit ganz ähnlicher Taktik blockierte man – wohl nicht rechtens aber staatlich verordnet – in Kehl, wo sich etwa 5.000 friedliche Demonstranten zu einem Ostermarsch über die Europa-Brücke nach Straßburg versammelt hatten (Sehen Sie dazu auch die Fotogalerie in der aktuellen Ausgabe der NRhZ). Kaum hatte man den Platz der Auftaktkundgebung verlassen, standen die NATO-Gegner auch schon wieder: vor einer undurchdringlichen Barriere Uniformierter am Rhein.

Blockierte Demonstranten in Kehl „Nord Atlantische Terroristen Organisation“ Foto: Luigi d'Aria
Devant le pont du Kehl: „Nord Atlantische Terroristen Organisation“
Foto: Luigi d'Aria

„Wir hatten mit der Polizei schon alles ausgehandelt, und es war genehmigt, dass wir auf die andere Seite kommen. Sie zogen ihre Wasserwerfer wieder ab, doch dann kam plötzlich der Befehl ‚Kommando zurück!“ erklärte der deutlich verärgerte EU-Parlamentarier Tobias Pflüger. Die Argumentationslinie der Demoleitung war es, dass die sich abzeichnenden Ausschreitungen auf der anderen Rheinseite leicht unter Kontrolle zu bekommen gewesen wären, wenn man die große Menge an friedlichen Demonstranten über die Brücke ziehen gelassen hätte. Doch diese Chance ließ man wohl bewusst verstreichen. „Eine Polizeibeamtin hat sich bei mir entschuldigt, weil unser Konzept schlüssig war...“ erklärte Pflüger.

Tobias Pflüger in Kehl | Foto: Christian Heinrici
Tobias Pflüger in Kehl | Foto: C. Heinrici
„Die Polizei hat sich ganz offen hinter den Linien gestritten... Die eine Linie stand für Deeskalation, und mit denen war geregelt, dass wir rüber durften... und die andere Linie vertrat den Standpunkt: ‚Nö, geht nicht!’ Und der Vorwand war ziemlich frech, nämlich dass die französische Präfektur es verboten habe – was Blödsinn ist, denn die Deutschen entscheiden auf deutschem Boden... Mein Eindruck ist, ein Teil der Polizei will, dass das alles diszipliniert abläuft, und ein anderer will offensichtlich Bilder produzieren, mit denen man dann (die Friedensbewegung) diskreditieren kann...“ schloss der EU-Parlamentarier.

„Den Bussen war gleich zu Anfang gesagt worden, sie werden nicht in Straßburg die Leute wieder aufsammeln müssen, sie sollen sie wieder in Kehl abholen... Ich gehe davon aus, dass sie es die ganze Zeit wussten. Und das war lange Zeit, bevor irgendetwas gezündelt wurde, von irgendwem.“ meinte ein Mitorganisator über die Brückensperrung sinnierend.

Straßburg: von offizieller Seite auf Konfrontation gesetzt


Angeblich sei nach Informationen des SWR, kurz bevor der Kehler Demonstrationszug ins Stocken geraten war, der „schwarze Block“ über die Europabrücke nach Straßburg gezogen und habe zuerst eine Barrikade, dann ein Zollhäuschen, dann eine Apotheke und schließlich ein leerstehendes Hotel angezündet – „die Polizei griff nicht ein“, beklagte sich der Reporter. Anwohner blieben komplett sich selbst überlassen, denn anderthalb Stunden lang war die Polizei nicht eingeschritten, die Feuerwehr wieder zurückbeordert worden, weil es erkennbar keinen Befehl von oberer Stelle gegeben habe.

Stefan Bornost von der Zeitschrift Marx 21 und Demonstrant in Straßburg erklärte: „Alles ist schon im Vorfeld getan worden, die Demonstration in Straßburg nicht stattfinden zu lassen. Die Präfektur hatte ihre Zusagen gegenüber den Demonstranten nicht eingehalten... Als wir um viertel nach Neun an der offiziellen Demoroute ankamen, war die Brücke auf den Kundgebungsplatz (auf einer Insel im Hafen) abgesperrt. Tausende Demonstranten, die sich vorher an friedlichen Blockaden beteiligt hatten, standen davor und kamen nicht durch...
NATO-Gipfel Straßburg Tränengas auf Demonstranten Arbeiterfotografie
Salven auf die Demonstranten in Straßburg
Foto: arbeiterfotografie.com
Dann sind die ersten Salven Tränengas in die Demonstranten gefeuert worden... Tatsache war, dass sich die Demonstration, als sie dort stand, aus international Angereisten, einem großen Kontingent der englischen Friedensbewegung und sehr vielen Fernsehteams zusammensetzte – also nichts, was nur im Entferntesten an den schwarzen Block erinnerte... Dann gab’s eine Straßenschlacht, das hat Stunden gedauert, und dann wurde die Brücke geräumt... Gegen 12:30 ging die Kundgebung los, aber da war das Kind schon in den Brunnen gefallen, die Atmosphäre auf Konfrontation gesetzt. Es gab nie ein Gesprächsangebot!“

Bedauerlicherweise kam auch die Diskussion über die Inhalte des NATO-Gipfels durch das leidige Cowboy- und Indianer-Spielen etwas kurz – das werden wir in kommenden Ausgaben der NRhZ ausgiebig nachholen. Doch eines ist klar: Ganz offensichtlich sind Generäle, Politiker und Manager dabei, zu versuchen, eine neue, düstere Etappe der Macht und der Kontrolle einzuleiten. Und offensichtlich ist es ihnen auch ganz gleich, ob sie ihre „Sicherheit“ dabei am Hindukusch oder im Schwarzwald verteidigen – ein Grund mehr für wahre Solidarität.
Lassen wir uns Leben und Zukunft nicht blockieren! (CH)

Online-Flyer Nr. 192  vom 09.04.2009

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