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Globales
Der "Überleber" Juan Melendez in der Kölner VHS
18 Jahre in der Todeszelle
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

Schnellprozeß und Todesurteil

Eineinhalb Stunden lang erzählt er seine Geschichte von siebzehn Jahren, acht Monaten und einem Tag Hölle. Der Hölle, die das US-Justizsystem denen bereitet, die es zu "Bestien" erklärt hat, wie Juan Melendez, den unschuldig zum Tode Verurteilten. Den Besitzer eines Schönheitssalons sollte der puertorikanische Erntehelfer in Florida 1983 ermordet haben, doch der eigentliche Mörder hatte seine Tat schon auf Tonband gestanden. Der Staatsankläger unterdrückte den Unschuldsbeweis und stützte sich lieber auf zwei fragwürdige Zeugen. Und der "Verteidiger" klopfte Melendez nur auf die Schulter und meinte: Wird schon werden, doch sonst tat er nichts für ihn - obwohl auch er das entlastende Geständnis kannte. Fünf Tage dauerte das Verfahren gegen den "Latino", der damals noch nicht einmal Englisch sprach. Ein einfacher Fall, schnell abgetan, zum Tode verurteilt.

Juan Melendez - der 'Überleber'
Juan Melendez - der "Überleber"
Foto: NRhZ-Archiv


Menschenverachtendes Justizsystem

Schlamperei, Vorurteile, bewußte Korruption und Rechtsbeugung: Über 120 offiziell durch Freilassung der Todeskandidaten bekannte Todesurteile gegen Unschuldige lassen erahnen, daß die unglaublichen Begleitumstände des Verfahrens Melendez keine bizarre Ausnahme, sondern eher die Normalität des Todesstrafensystems der USA bezeichnen. Als Geschworener wird nur angenommen, wer klar für die Todesstrafe ist. Ankläger und Richter wollen wieder gewählt werden und stehen unter populistischem Druck. Pflichtverteidiger sind allzu oft unerfahren, unmotiviert, unfähig. Wie der "Schulterklopfer" im Falle Melendez. Fast 18 Jahre in einer Todeszelle des Staates Florida mit der er täglichen Aussicht auf den qualvollen Tod auf dem Elektrischen Stuhl oder durch die Giftspritze - nur mit Glück hat Juan Melendez überlebt, doch einen Großteil seines Lebens hat ihm dieses korrupte und menschenverachtende Justizsystem geraubt.

Die Menschlichkeit der "Bestien"

Wie kann ein Mensch solch ein schier endloses Martyrium aushalten, ohne zu zerbrechen? Und dann, in der Kölner Volkshochschule, vor über 100 fremden Menschen in einem fremden Land stehen und sie mitreißen, an ihre Unterstützung und Solidarität appellieren, sie durch Scherze zum Lachen bringen? Ihr seid die Menschen, die mir Kraft geben, weiterzumachen, sagt er dem Publikum. Weiterzumachen mit seiner Kampagne gegen die Todesstrafe, mit seinen unermüdlichen Reisen durch die USA und um die Welt, als Zeuge aus dem Todestrakt.

Es steckt schon eine staunenswerte Energie in diesem Mann, der nur beiläufig von den Alpträumen und den posttraumatischen Beschwerden erzählt, unter denen er leidet. Doch durchgestanden hat er, was andere vernichtet hat, auch, wenn sie nicht oder noch nicht der staatlichen Mordmaschinerie zum Opfer gefallen sind. Die sich mit Plastiktüten und Kordeln umgebracht haben, die ihnen so genannte Läufer geliefert haben - das sind Gefangene, die nicht zum Tode verurteilt sind und das Essen für die Todeskandidaten austeilen oder die paar Kleinigkeiten, die diese noch besitzen dürfen.

Auch Juan Melendez hat sich die Suizid-Utensilien in einem unbeobachteten Moment in die Zelle schieben lassen. Doch es war wohl die Stimme Gottes, meint er, die ihn abgehalten hat, den letzten Schritt zu tun, die Flucht aus dieser aussichtslosen Zone der Entmenschlichung anzutreten. Nein, "denen wollte ich die Arbeit nicht abnehmen". Denen, die ihn, den Unschuldigen, aus dem Leben "elektrokutieren" oder spritzen wollten. Die ihn zu einer Art Wesen degradierten, das noch unter den Ratten rangierte, die den Todesknast von Florida reichlich bevölkern. Mit denen er das Lager teilen mußte und meistens auch das Essen.

"Bestien, nicht Menschen sind wir für das System", erklärt Juan Melendez in der Gegenwartsform; seine Erzählung hat ihn wieder in den Todestrakt versetzt. Doch waren es jene, die die Anmaßung der Selbst-Gerechten als "Bestien", als "Monster" verteufelt, seine Kameraden im Todestrakt, denen er alles dankt und verdankt: Das Überleben, das bißchen Maß an Freundschaft und Solidarität, das dort möglich war, und nicht zuletzt: die Beherrschung der englischen Sprache. Dort erst lernte er die Sprache, die er im Gerichtssaal noch nicht verstand, als man ihn zum Tode verurteilte, es brachten ihm die bei, die das System für lebensunwert befand wie ihn.

Exekutoren, Terminatoren und ein Moratorium

Seit das Todesstrafen-Moratorium des Supreme Court von 1972 wieder aufgehoben wurde, im Jahre 1976, sind über 1000 Menschen in den USA vergast, auf dem elektrischen Stuhl verschmort und durch die Giftinjektion abgespritzt worden. Im "demokratischen Westen", der selbsternannten "Achse des Guten", sind die USA heute noch der einzige Staat, der die Todesstrafe anwendet - aber eben leider auch der mächtigste, der maßstabsetzende. Und so verwundert es nicht, daß sich etwa die Volksrepublik China mit ihren Hinrichtungsexzessen auf die USA beruft, um Kritik an ihrer Todesstrafenpraxis zurückzuweisen.

Doch selbst in den USA scheint die Hoffnung auf ein Mindestmaß Vernunft noch nicht vergebens. So erließ der republikanische Gouverneur des Staates Illinois im Jahre 2001 ein Todesstrafen-Moratorium. Der bisherige Todesstrafen-Befürworter änderte seine Meinung, als nach der 12. Hinrichtung in seinem Staat der 13. Todeskandidat wegen erwiesener Unschuld freigelassen wurde. Das aber war nicht dem Rechtssystem zu verdanken, sondern einem Journalistik-Professor an der Universität von Chicago. Der hatte mit seinen Studenten im Fach "Investigativer Journalismus" Todesstrafen-Fälle aufgerollt und etliche Fehlurteile nachgewiesen.

Juan Melendez - Veranstaltungsplakat
Veranstaltungsplakat
Foto: NRhZ-Archiv


Selbst innerhalb der Republikanischen Partei gibt es eine zunehmend kritische Diskussion über die Todesstrafe. Wozu auch die Kritik aus anderen westlichen Ländern beitragen könnte. Weltweites Aufsehen etwa erregte im Dezember die Exekution von Tookie Williams in Kalifornien, der sich von seiner Vergangenheit als Chef einer berüchtigten Jugendbande in den siebziger Jahren losgesagt hatte und aus der Zelle gegen die Gewalttätigkeit in der US-Gesellschaft anschrieb. Der 51jährige wurde am 13. Dezember 2005 mit der Giftspritze zu Tode gebracht, nachdem "Terminator" Arnold Schwarzenegger seine Begnadigung abgelehnt hatte. Und am 17. Januar dieses Jahres ließ Schwarzenegger den 76jährigen, herzkranken, tauben Clarence Ray Allen hinrichten, der vor 23 Jahren angeblich drei Morde vom Knast aus angestiftet haben soll. Der gelähmte Greis wurde in der Nacht nach seinem 76. Geburtstag vom Rollstuhl auf den Schragen geschleift. - Nicht einmal Prominenz und weltweite Proteste, geschweige denn ethische Hemmungen, können die Todesmaschinerie aufhalten, wenn machtgierige Populisten wie Schwarzenegger oder Floridas Herrscher Jeb Bush ihre Gewalt über Leben und Tod auskosten und sich ein wahlförderndes Image als knallharte Ordnungshüter verschaffen wollen.

Jeb Bush: Herr über Leben und Tod

Juan Melendez´ Leben stand auch deshalb, nach weitgehender Ausschöpfung des "Rechtsweges", auf der Kippe. Einen Einspruch könne es noch geben, so meinte einmal sein neuer Anwalt zu ihm, und dann, wenn dieser abgelehnt sei, habe er vielleicht noch drei Jahre. Melendez selbst war realistischer. Ein bis eineinhalb Jahre vielleicht, sagte er zu seinem Anwalt, hast du vergessen, wer hier Gouverneur ist? Jeb Bush! Der kleine Bruder, der dem großen George W. nur zu gern ins Weiße Haus nachfolgen würde und der ihm auch als "Totmacher" nacheifert. Hatte doch George als Gouverneur von Texas 159 Hinrichtungsbefehle unterzeichnet und damit einen neuen Maßstab gesetzt, auf welchem Leichenberg man ins Oval Office aufsteigen muß.

Da hat Jeb noch einiges zu tun, aber er bemüht sich eifrig. Er ist der größte "Läufer" im Todestrakt, der die Utensilien des Todes verteilt, meint Juan Melendez. Und er hat ebensolche Freude darin, weiß Juan zu berichten, die Todeskandidaten noch zusätzlich zu quälen, zu entmenschlichen, und sei es durch die Abschaffung des Hofganges, der sportlichen Betätigung und all der Kleinigkeiten, die wenigstens noch ein kleines Stück Leben neben der Todesangst ermöglichten. Er will zerbrechen, er will vernichten, so schätzt Juan Melendez diesen Gouverneur ein. Wäre es nach dem gegangen und ginge es noch jetzt nach ihm, nachdem die Unschuld des Juan Melendez längst feststeht - er hätte an diesem Abend in der Kölner Volkshochschule keinen Vortrag halten können, er wäre tot gewesen.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos


Lebensaufgabe: Kampf gegen die Todesstrafe

Die Rettung kam von einer ganz unerwarteten Seite. Sie kam von einer Ermittlungsrichterin, die aufgrund anwaltlicher Eingaben den Fall Juan Melendez noch einmal untersuchte. Sie deckte die vorsätzliche Beweisunterdrückung durch den Ankläger des damaligen Verfahrens auf. Der damalige "Verteidiger", der Schulterklopfer, auch er hatte die Entlastungsbeweise gekannt, seinen Mandanten aber in die Todeszelle gehen lassen. Seine korrumpierte Unfähigkeit als Verteidiger trug ihm immerhin einen Karrieresprung ein: Er war inzwischen selbst zum Richter avanciert.

Juan Melendez, der unter anderen diesen beiden Herren die Jahre im Todestrakt zu verdanken hatte, kam am 3. Januar 2002 endlich frei - wegen erwiesener Unschuld. Als "Entschädigung" gab ihm der Staat Florida 100 Dollar und eine Hose mit auf den Weg. Der 55jährige lebt heute bei seiner Mutter, die stets zu ihm gehalten hat; den Rest seines Lebens hat er dem Kampf gegen die Todesstrafe gewidmet. "Voice United for Justice"- so heißt die Organisation, die er zu diesem Zweck gegründet hat und die auch prominente Unterstützung erhält, zum Beispiel durch den Hollywood-Star Mike Farrell. - Vielleicht, dieser Hoffnung sei hier einmal Ausdruck gegeben, können wir in nicht allzu ferner Zukunft Juan Melendez, den "Überleber", hier in Köln wieder treffen. Am liebsten auf einer Veranstaltung gemeinsam mit Mumia Abu Jamal, dem in einem Skandal- und Willkürverfahren ebenfalls unschuldig zum Tode verurteilten afroamerikanischen Journalisten, der seit 23 Jahren in einer Todeszelle des Staates Pennsylvania eingekerkert ist.
(Siehe NRhZ 25)

Weitere Informationen u.a. unter: http://www.juan-melendez-tour.de sowie ALIVE e.V., Postf 1326, 46363 Bocholt, info@alive-gegen-todesstrafe.de, Innocent in Prison Project International, www.iippi.org, Initiative gegen die Todesstrafe, Heidekoppel 4, 24558 Henstedt-Ulzburg, www.initiative-gegen-die-todesstrafe.de und amnesty international, deutsche Sektion unter www.amnesty.de


Online-Flyer Nr. 32  vom 21.02.2006

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