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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Literatur
Werner Rügemer: Imperium EU - ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr
Zur Lage der arbeitenden Klasse in der EU
Buchtipp von Afsane Bahar

Zahlreiche Denker verraten die bewegende Bedeutung der Liebe zum Leben: Mit jedem Atemzug Schleier zu reißen, damit das Geschehen hinter den Kulissen allgemein begreifbar wird. Einst feierlich erklärt, Wachposten für Entrechtete zu sein, übergeben sie den Räubern schamlos und schmachvoll Schloss und Schlüssel. Dabei fühlen sie sich fabelhaft auf den von den großen Machthabern zugewiesenen Spielwiesen. Viele sozial engagierte Menschen, die tief in ihren Herzen von einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung träumen, versäumen es immer wieder, zur rechten Zeit kritisch und mit einer klaren Sprache entscheidende sozialökonomische Fragen zu stellen und umsetzbare Lösungen anzubieten. So kann das politische Feld von Kräften eingenommen werden, die trügerisch richtige, zeitgemäße Parolen übernehmen, große Bevölkerungsschichten in die Irre führen und zielgerecht ihre Pläne zum Weiterbestehen der auf Verelendung gebauten Gesellschaftssysteme umsetzen.

    Völlig veraltete Klassenkampftheorie
    (Erich Fried; 1921-1988)

    Was den Armen zu wünschen wäre
    für eine bessere Zukunft?
    Nur dass sie alle im Kampf gegen die Reichen
    so unbeirrt sein sollen
    so findig
    und so beständig wie die Reichen im Kampf
    gegen die Armen sind.

Dr. phil. Werner Rügemer gehört zu den Denkern im deutschsprachigen Raum, die sich nicht dafür schämen, Begriffe wie Klassenkampf und Imperialismus in den Mund zu nehmen. Er ist Mitbegründer der „Aktion gegen Arbeitsunrecht“ [1], hat zahlreiche Bücher zur Beleuchtung der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse veröffentlicht [2] und gehörte 2020 zu den Organisatoren des BlackRock-Tribunals in Berlin [3].

In seinem neuen Buch „EU-Imperium. ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr“ beschäftigt er sich mit den menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union sowie in den Ländern, mit denen sie kooperiert. Das ArbeitsUnrecht ist eine wesentliche Ursache der politischen Rechtsentwicklung und wird bezeichnenderweise in der verbreiteten Kritik an der Europäischen Union oft ausgeblendet.

Im ersten Teil seines Buches liefert er basierend auf einer tiefgründigen Recherche [4] sowohl ein differenziertes Bild über die gegenwärtige Lage als auch eine Übersicht bezüglich der bisherigen geschichtlichen Entwicklung [5]. Die Entwicklung der NATO und die zunehmende Militarisierung der Europäischen Union werden hierbei berücksichtigt. Als Maßstab zur Beurteilung der Arbeitsverhältnisse verwendet der Autor die Universellen Menschenrechte der UNO [6] und die Arbeitsrechte, die von der UNO-Unterorganisation International Labor Organisation (ILO) kodifiziert worden sind [7].

Zum besseren geschichtlichen Verständnis und Begreifen kontinuierlicher Zusammenhänge zeichnet er den Werdegang wichtiger Akteure auf: Jean Monnet (1888-1979, Unternehmer, Banker, Hoher Kommissar der Montanunion), Walter Hallstein (1901-1982, NS-Jurist,  erster Präsident der Europäischen Kommission), Robert Schumann (1886-1963, französischer Außenminister sowie Ministerpräsident, später Präsident des Europäischen Parlaments), Jean-Claude Juncker (1995 bis 2013 Premierminister Luxemburgs, der größten Finanzoase in der Europäischen Union, 2005 bis 2013 Vorsitzender der Euro-Gruppe, später Präsident der Europäischen Kommission) [8].

Er schildert ausführlich, wie die Europäische Union schrittweise die Zerstückelung, Befristung sowie Prekarisierung der Arbeit und deren Verrechtlichung vorangetrieben hat. Die hierzu benutzten Institutionen, die sich vielfach in intransparenter Weise überschneiden, werden beleuchtet. Die verwendeten Instrumente werden ebenfalls verständlich besprochen: Privatisierungen und Subventionen ohne Auflagen für Arbeitsrechte, Grundlagentexte, Richtlinien, Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofes (EUGH), Komplizenschaft und Vollzugsdefizite in Justiz und Kontrollbehörden.

Im zweiten Teil seines Buches erklärt der Autor, weshalb Deutschland der „führende ArbeitsUnrechts-Staat“ in der Europäischen Union ist. Ein Staat, der von den Regierungen etwa Frankreichs, Italiens und Belgiens als Vorbild genommen wurde. Er beschäftigt sich mit dem Widerstand gegen das ArbeitsUnrecht in der Europäischen Union sowie in Anwärter- und assoziierten Staaten.

„Mit Aufbrüchen ist hier nicht der Widerstand gemeint, der sich gegen „die EU“ richtet, der von rechtsgerichteten, rassistischen, nationalistischen Regierungen von EU-Mitgliedsstaaten wie Viktor Orban/Ungarn und Jaroslaw Kaczynski/Polen vorgebracht wird. Gemeint ist auch nicht die Kritik von ähnlichen Politikschauspielern wie dem Brexiteer Boris Johnson. Gemeint ist auch nicht der Widerstand von Sekundärpopulisten wie der AfD in Deutschland, die den EU-Kapitalismus bestehen lassen will. Gemeint ist hier der demokratische Widerstand, der gegen das aus der Kritik allermeist ausgeblendete ArbeitsUnrecht geleistet wird.“ (Seite 183)

Das Buch liefert wichtige Sachkenntnisse für eine dringend erforderliche EU-Kritik im Sinne sozialökonomischer Gerechtigkeit und praktische Beispiele, damit sich Menschen mit Zuversicht und Lebensfreude für eine grundlegende Änderung der besprochenen Gegebenheiten engagieren.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors werden hier [9] die einleitenden Bemerkungen im zweiten Abschnitt des Buches (Seite 184 bis 195) in gekürzter Form veröffentlicht. Der Abschnitt über Polen wurde am 4.11.2020 auszugsweise von der Neuen Rheinischen Zeitung publiziert [10].


Zur Lage der arbeitenden Klasse in der EU

Seit den Vorformen der EU in den 1950er Jahren, ja schon direkt nach dem Zweiten Weltkrieg haben die europäischen NS-Kollaborateure in den Unternehmen, Banken und vor allem »christlichen« Parteien dann sehr schnell zusammen mit den USA die antifaschistischen und demokratischen Kräfte – Gewerkschaften, linke Parteien, Intellektuelle und andere – bekämpft, infiltriert, gespalten, entideologisiert. Der dann zudem militärisch-antikommunistisch gesicherte Wohlfahrtsstaat (welfare state) mit erzwungener, entpolitisierter Sozialpartnerschaft war auch in den westlichen Kern- und Gründungsstaaten der EU und ihren Vorformen nur ein Zugeständnis auf Zeit – solange der bekämpfte Realsozialismus vor der Haustüre als Herausforderung sich halten konnte.

Den hauptsächlichen Verwaltern des Wohlfahrtsstaats, vor allem sozialdemokratische Parteien und die mit ihnen verbundenen Gewerkschaften – manche dieser Parteien wie in England, Frankreich, Spanien und Portugal nannten und nennen sich sozialistisch –, war die Kapitalismuskritik abtrainiert worden. Sie waren schon verbraucht, als 1990 die indirekten Stützen des Klassenkompromisses, die Sowjetunion, die DDR und die anderen sozialistischen Staaten zusammenbrachen.

Deshalb erwiesen und erweisen sich die hier gemeinten Gewerkschaften und Parteien seit den 1990er Jahren in der Regel als unfähig, auf die neuen Anforderungen zu antworten. So sitzen sie mit ihren VertreterInnen auch in der EU-Hauptstadt und freuen sich, wenn sie an Projektgelder aus dem ESF kommen. Aber das ArbeitsUnrecht, das sie manchmal in dicken Broschüren dokumentieren und kritisieren, bekämpfen sie nicht konsequent.

Perverser Weise wurden zudem sozialdemokratische und sozialistische Parteien in der EU nach 1990 – nach dem Vorbild der »Demokratischen Partei« in den USA, beginnend mit dem jugendlichen William Clinton – die politischen Vorreiter und Exekutoren des neoliberal entfesselten westlichen Kapitalismus.

Dies gilt in der EU besonders für »New Labour« mit Anthony Blair in England, für die deutsche SPD mit Gerhard Schröder, für die Sozialistische Arbeiterpartei mit Felipe González in Spanien, für die portugiesischen Sozialisten mit Mário Soares, dann für die französischen Sozialisten mit François Hollande, für die italienischen Sozialdemokraten mit Matteo Renzi und ähnliche – und keineswegs zu vergessen, wenn auch weniger auffällig, die klischeehaft lange gelobten Sozialdemokraten im skandinavischen Wohlfahrtsmodell. (333)

Mit diesen Parteien waren und sind wichtige Teile der Gewerkschaften und gewerkschaftlich orientierte Institutionen verfilzt und gelähmt.

Die neue Ära sozialer und politischer Organisation

Diese Pervertierung gilt umso mehr mit und seit der Osterweiterung von EU und NATO. Der Ausbeutung und Verarmung der osteuropäischen und ex-jugoslawischen Staaten, vor allem der nötigen Neuorganisation der abhängig Beschäftigten dort und in der EU insgesamt stehen die diskreditierten und bis knapp vor dem Verschwinden erschlafften Verwalter des versinkenden Wohlfahrtsstaates hilflos, aber auch willenlos gegenüber. Ansätze eines nationalistisch-patriarchalisch-christlichen Wohlfahrtsstaates bieten Regierungen wie die von der EU hochsubventionierten in Polen und Ungarn.

Eine Wiederauflage des gescheiterten Wohlfahrtsstaats und des alten US-geführten und nur vorläufigen Klassenkompromisses verspricht keinen Erfolg. Die Akteure dafür fehlen ohnehin. Deswegen hat eine Ära der sozialen, politischen, kulturellen Neuorganisation für demokratische, menschenrechtliche, völkerrechtliche, rechtsstaatliche Werte und Rechte begonnen. Begonnen hat sie längst, verdrängt und verzerrt durch die etablierte Öffentlichkeit, aus einer tiefen Defensive heraus, die bisher manche zermürbt und zur Aufgabe getrieben hat.

Die Kapital-Demokratie westlichen Musters hat abgewirtschaftet. Gekaufte Regierungsparteien, die von vornherein antidemokratische EU haben die bisherige, noch nicht gefestigte Demokratie weitgehend zerstört.

Die Kapitalisten haben sich in organisierter Selbsterblindung auf ihren leistungslosen, auch von der EU subventionierten Dauergewinnen ausgeruht und die erkennbaren Zerstörungen von Arbeitskraft, Umwelt und Gesellschaftlichkeit weitergetrieben. Diese Kapitalisten schlagen verzweifelt um sich und führen zu ihrer Verteidigung noch mehr erklärte und unerklärte Kriege und bereiten weitere vor, im Inneren und Äußeren.

Die arbeitende Klasse, zudem als eine ihrer Lage bewusste, gibt es in der klassischen Form des zudem gewerkschaftlich und parteilich organisierten Arbeiters und der Arbeiterin mit tariflich gesichertem bzw. erkämpftem, unbefristetem Vollarbeitsplatz nur noch in national organisierten, sehr unterschiedlichen Restbeständen. Aber selbst da waren Klassen-Bewusstsein und Klassen-Kenntnis nur gering vorhanden. Und die Bindungskraft dieser Formationen ist mehrheitlich geschwunden; die Mitgliedschaft ist individualisiert. Und die Kenntnis und Bewusstheit über die eigene Lage ist weitgehend verwirrt, erschöpft. Viele Gewerkschaftsmitglieder in Deutschland, Frankreich usw. wählen rechts, in Osteuropa und in den USA noch mehr – wenn sie überhaupt wählen.

Vielfältige, tiefgehende Zersplitterungen

Der Status der abhängigen Arbeit wurde in der EU in viele Dutzend Varianten und Varianten Kombinationen zersplittert, rechtlich, finanziell, örtlich, sozial, ethnisch, national, geschlechtlich.

Die arbeitende Klasse heute ist die soziale, vom bestimmenden Eigentum ausgeschlossene Klasse der
abhängig Beschäftigten, aber auch der unfreiwillig Nicht-Beschäftigten, der Arbeitslosen, der Überarbeiteten und der Unterbeschäftigten, der befristet und unbefristet Beschäftigten, der zwischen diesen Zuständen Wechselnden, mit formellem Arbeitsverhältnis oder ohne ein solches:
  • Zwischen unbefristeter Vollzeit bis zur regelmäßigen Beschäftigung ab einer Stunde pro Woche, die in der EU statistisch als Beschäftigung gezählt wird
  • Zwischen Vollzeitarbeit mit bezahlten und unbezahlten Überstunden und erzwungener Unterbeschäftigung bis herunter zum Null-Stunden-Vertrag
  • Arbeit auf Abruf mit unterschiedlich garantierter Stundenzahl ab Null, Flex-Verträgen ab 10 Wochenstunden, Teilzeitarbeit mit garantierter Stundenzahl, aber wechselnder Einsatzzeit
  • Leiharbeit und der noch niedrigere Status als Werkvertragsarbeit
  • Befristete und Teilzeitarbeit in vielfältiger Kombination nach Stundenzahl, Bezahlung, Besteuerung, Sozialversicherungen und zusätzlichen Leistungen oder Nichtleistungen wie bezahlter Urlaub, bezahlte Krankentage
  • Scheinselbständigkeit etwa von Kulturschaffenden, Lkw-Fahrern, Taxifahrern, Essens-Kurieren, ambulanten Pflegerinnen
  • unterschiedlich halblegale/illegale Arbeit von Haushaltshilfen, Flüchtlingen, Prostituierten mit unterschiedlichen (Un)Freiheitsgraden bis zu mafiotischen Abhängigkeiten
  • Straßenstrich nicht nur für Prostituierte, sondern auch für Bauarbeiter
  • bezahlte und unbezahlte Praktika und Probezeiten, in Kleinklitschen genauso wie in renommierten Ingenieur- und Architekturbüros
  • Ein-Euro-Jobs, entweder »freiwillig« oder als Zwangsarbeit
  • Gig- und Crowd-Worker, deren vertragslose, projektbezogene Gelegenheitsarbeit bis in kleinste Portionen von jeweils ein paar Euro aufgesplittet werden kann
  • Millionenfache Langzeit- und Kurzzeit-Arbeitslosigkeit oder als mehr oder weniger häufiges Hin-
    und Herwechseln zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit
  • Ungesicherte Niedriglöhnerei im Wissenschafts- und Bildungsbereich: studentische Dauer-Hilfskräfte, Lehrbeauftragte, befristet angestellte und teilweise nicht ausgebildete Aushilfslehrer in den »allgemeinbildenden« Schulen (»Quereinsteiger«)
  • Ungesicherte und befristete Niedriglöhnerei in der öffentlichen Verwaltung, auch in der Arbeits(losen)verwaltung, in Ministerien, auch im Deutschen Bundestag und im EU-Parlament.
Der vielfach verrechtlichte Unrechts-Status ist zudem dadurch geprägt, dass sogar er von Kapitalisten dauerhaft und straflos verletzt wird: Etwa bei der massenhaften Nicht-Bezahlung oder Unterlaufung des gesetzlichen Mindestlohns, bei der Nichtbezahlung angeordneter Überstunden, bei rechtswidrigen staatlichen Sanktionen gegen Arbeitslose, bei der betrügerischen Zusatzausbeutung von Werkvertrags-, Leih- und Wanderarbeitern (Abzüge für Vermittlung und Transporte, Mietwucher).

Im oberen Maschinenraum des Kapitals

Gleichzeitig in den oberen Etagen des Maschinenraums des Kapitals, wo die Jahresgehälter bei 60.000 oder auch 80.000 Euro anfangen: Unterschiedlich hochbezahlte Arbeit, die wie bei rumänischen Fleischzerlegern aber ebenfalls 60-80 Wochenstunden betragen und auch überschreiten kann, so bei der etwa einer halben Million akademisch hochgebildeter Beschäftigter in Wirtschaftskanzleien, Beratungs- und Prüfungsgesellschaften, PR-Agenturen, Unternehmensstiftungen, Vermögensberatern, Maklerfirmen, ausgelagerten Tochtergruppen von Großmedien und Software-Schmieden: Auspressung der jungen Arbeitskraft verbunden mit hohen Privilegien, die wie die standesgemäß exklusiven und exotischen Urlaube aber oft nur gehetzt und freudlos absolviert werden können. (334)

Viele Privilegierte dieser Gruppen kapieren trotz bzw. wegen ihrer akademischen (Ver)Bildung gar nicht ihre Lage. Da flüchtet man sich in die schein-proletarische, diffus kritische Attitüde, man müsse einen Bullshit Job ausführen, wie der im Managermilieu gern gelesene Wissenschafts-Anarchist David Graeber (1961–2020) unverstanden, aber ausführlich dokumentiert. (335)

Hierarchisch geordneter, privilegierter Beamtenstatus in Ministerien, Justiz, Geheimdiensten, öffentlicher Verwaltung, privaten Leit- und Staatsmedien, akademischem und staatlich subventioniertem Kulturbetrieb, öffentlichen und privaten Schulen, privaten und staatlichen Hochschulen. Die sich subjektiv frei fühlenden Beschäftigten müssen von ihrer rechtlich gesicherten, aber bewusstlos eingeübten Abhängigkeit nicht unbedingt etwas merken – im Gegenteil: Sie simulieren mehrheitlich die systemrelevante »geistige Freiheit«, glauben an sie (wenn auch oft nur halbherzig) und verbreiten diesen (Halb)Glauben, ähnlich wie die noch verbleibenden Mitglieder der komplizenhaft erodierenden christlichen Großkirchen.

Ein besonders ambivalentes Milieu sind die »jungen Kreativen«, die als Selbständige bzw. Scheinselbständige heute ein vielgestaltiges Millionenheer bilden und oft in keinem formellen Abhängigkeitsverhältnis arbeiten. Der Status geht von dauerhafter Armut bis zu plötzlichem Superreichtum als erfolgreicher Startup-Unternehmer, der mit 30 Jahren die nächste zeitgeistige Wohltätigkeitsstiftung gründet.

Die Arbeit geht uns nicht aus – wir müssen sie ändern

Die Arbeit geht »uns« keineswegs aus – auch diese Fake-Prognose gehört zum herrschenden Tabu. Im Gegenteil: Die konkrete, bewusste, gestaltende Arbeit zur Herstellung der notwendigen »Lebensmittel« der Gesellschaft – Lebensmittel im weitesten Sinne – und genauso für die Organisation des Zusammenlebens und des Staates ist notwendiger denn je, anstelle der flexibilisierten, entrechteten »Jobs«, die Gemeinschaftlichkeit ebenso wie Umwelt zerstören und Produkte und Dienstleistungen pervertieren.

Aus der Defensive gegen die Kapitalisten

Die wirkliche Situation der abhängigen Arbeit, das ArbeitsUnrecht und der Widerstand dagegen sind das große Tabu – vor Corona, in Corona, nach Corona. Das Tabu zu brechen, durch assoziierte, kollektive, nationale und zugleich internationalistische Organisation, mit den dazugehörigen, unausweichlichen Experimenten, Erfolgen und Niederlagen, mit alten und neuen AkteurInnen – das ist das notwendige Projekt.

Die Tiefen des lange schlummernden Unrechts sind noch kaum erkundet. Wie aus »heiterem Himmel«, in Wirklichkeit aus böser, verleugneter, verzerrter Wirklichkeit brechen dann plötzlich Massenproteste hervor wie die Gelbwesten in Frankreich und Black Lives Matter in den USA – zur (angeblichen?) Überraschung der selbsterblindeten elitären Systemverteidiger, auch weltweit zwischen Chile und Indien.

Bisherige Taktiken der mit Regierungen und absterbenden Leitmedien verbundenen Kapitalisten konnten solche Aufbrüche ablenken, spalten, beruhigen, verschwinden lassen – oder auch instrumentalisieren. Solche Taktiken werden in der »Corona-Krise« sichtbarer, sind angreifbarer geworden. Statuen von protzig ausgestellten Sklavenhändlern werden plötzlich und nach jahrhundertelangem öffentlichem Schlaf endlich gestürzt – die aktuellen, unsichtbaren Statuen können auch noch drankommen!

Die extreme Vielgestaltigkeit der arbeitenden Klasse in der EU enthält leicht entzündbare und gezielt instrumentalisierbare Konflikte und Feindschaften.

Komplizierte Allianzen sind nötig und möglich. Sie werden aber vielfach schwierig bis unmöglich gemacht. Zudem wird, wie schon durch die Montanunion, ein Teil der traditionellen Arbeiterklasse ein bisschen nach oben befördert – das Bisschen ist subjektiv aber sehr wichtig – durch das Nachrücken der neuen Unterklassen aus armen Regionen. So beschäftigen gegenwärtig in den reichen EU-Staaten viele Millionen Privathaushalte der Mittel- und Oberschicht Haushaltshilfen aus Polen, Ungarn, Rumänien, Albanien, zudem vielfach unangemeldet. Und in diesen verarmten Staaten tut es die winzige Oberschicht genauso. Kranke Eltern kann man so zuhause rund um die Uhr betreuen lassen, während die erwachsenen Kinder sich ihrer kosmopolitisch-ökologischen »Selbstverwirklichung« hingeben. Mittelstandsfrauen emanzipieren sich auf Kosten der Nicht-Emanzipation eines Heeres von Dienerinnen – von den weltweiten Lieferketten der Billig- wie Luxustextilien nicht zu reden. (337)

Die Ausbeutung und Entrechtung der abhängig Beschäftigten, die im gegenwärtigen, von den Furien der Hyperglobalisierung geprägten Kapitalismus eine vielfältige und extreme Form angenommen haben, sind nur eine Dimension des gesamten damit verbundenen Weltverhältnisses: So schädigt diese Klassengesellschaft auch die Körper in ihrer Individualität, Gesellschaftlichkeit und Gesundheit, schädigt auch das individuelle, noch so kleine Eigentum und die Natur mit Pflanzen, Tieren, Wasser, Erde und Atmosphäre.

So ist working poor verbunden mit living poor und working sick. Abhängig Beschäftigte müssen eine Wohnung haben, müssen zur Arbeit und wieder nachhause kommen können, müssen Kinder zum Kindergarten und zur Schule bringen und wieder abholen, müssen sich gesund ernähren, brauchen Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und für die Rente, brauchen freie Zeit für Erholung und Schlaf, für Gespräch, Andacht, Sorgearbeit, Liebe, Musik, Literatur, Welterkenntnis.

In früheren Phasen haben die arbeitenden Klassen immer wieder vernetzte Organisationsformen entwickelt: Für Arbeiten, Kultur, Sport, Wissen, Erholung, Kaufen, Wohnen. Die Gewerkschaft als Organisator lediglich von Lohnforderungen ist dafür ungeeignet, wenn sie nicht gleichzeitig Organisationsformen für die anderen Bereiche betreibt und auch der Staat oder andere gesellschaftliche Assoziationen sie nicht – in der geeigneten Weise – unterhalten. Daraus wurden übrigens die Sozial- und Arbeitsrechte entwickelt, zu denen z. B. auch das Recht auf Wohnung, Bildung usw. gehört.

Die Eigentümer der kapitalistischen Unternehmen sind heute so unbekannt wie noch nie – der Klassengegner scheint nicht da zu sein. Die EU hilft beim Verstecken in der okkulten Parallelwelt von vier Dutzend Finanzoasen. Die etablierten Gewerkschaften wie der DGB in Deutschland einschließlich seiner Einzelgewerkschaften, auch ihre Forschungseinrichtungen und die der europäischen Gewerkschaften in Brüssel, haben, mit leichten Unterschieden, vom gegenwärtigen Kapitalismus in der EU keine Ahnung.

Auch hinter der vielbeschworenen »Globalisierung« verstecken sich gestaltende Subjekte. Globalisierung ist ein Nachfolge-Begriff früherer Begriffe, die ebenfalls den Kapitalismus, die Klassen und die Kapitalisten als verschwunden suggerierten: Industrie-Gesellschaft, Konsum- Gesellschaft, Dienstleistungs-Gesellschaft, Risiko-Gesellschaft. (338)

Deshalb: Nötig ist Gegnerforschung. Gewerkschafter, Demokraten, Linke, Aufgewachte und Aufwachende kennen vielfach weder die Eigentümer und deren Einflussagenten in ihrem Staat, in der EU, im Unternehmen, in dem sie arbeiten, noch der eigenen Wohnung. Deshalb: Wem gehören nicht nur meine Daten, sondern auch »mein« Unternehmen, »meine« Wohnung, »mein« Staat? Wie »arbeiten« die, gegen mich und uns?

Besonders die Ideologen des als gefährlich betrachteten Prekariats befürworten vielfach als eine Lösung das BGE. Auch die gelobten, verwirrten Diagnostiker der Bullshit Jobs wie David Graeber suchen diesen bequemen Ausweg: Wir hören mit dieser sinnlosen Arbeit auf, soll uns doch der Staat alimentieren!

Aber: Erstens bleiben die Bezieher einer solchen staatlichen Fürsorge Bittsteller. Es geht aber darum, dem Wesen der menschlich notwendigen Arbeit folgend, dass der Mensch vom Bittsteller und Gnadenempfänger zum selbstbewusst Gestaltenden werde, der seine Verhältnisse assoziiert selbst regelt. Zweitens wären die Empfänger des BGE von den Zahlungen anderer abhängig, die weiter Bullshit-Jobs verrichten und Steuern für das BGE zahlen. Drittens ist dies gerade in diesem Kapitalismus ganz unsicher: Wie viel von den Kapitalisten bezahlte Arbeit wird es überhaupt geben und wie viel Steuern nimmt der Staat aus niedrigen Arbeitseinkommen und von reichen Steuerflüchtern ein? Viertens: Es geht schließlich darum, dass die, die mit prekär und Bullshit Jobs gemeint sind, nicht in ihrem Unverständnis über die Ursachen ihrer pervertierten Arbeit verbleiben, sondern sie verstehen und gemeinsam ändern.

Wer Menschen in der Arbeit ausbeutet, entrechtet, verschleißt, krank macht, beutet auch Natur und Umwelt aus, verschleißt sie und macht auch sie krank. Deshalb: Die Bewegungen für Menschenrechte in der Arbeit gehören mit den Bewegungen für die reproduktive Erhaltung der Naturvoraussetzungen menschlichen Lebens zusammen.

In jedem Unternehmen muss begonnen werden, die Produkte und Dienstleistungen auf ihren Sinn für das Leben und Überleben der kleinen und großen Gemeinschaften und letztlich der Weltgesellschaft zu überprüfen.

Genauso muss die Verteilung der Arbeit und des Arbeitsvolumens geändert werden. Die jetzige Spreizung in der EU zwischen etwa 48 Stunden pro Woche mit weiteren bezahlten und auch unbezahlten Überstunden auf der einen Seite und den digital zerstückelten Arbeitsportionen in Minutenlänge auf der anderen Seite ist ebenso ungerecht wie leistungshemmend. Das pervertiert und zerstört menschliche Arbeitskraft, Gesundheit, Kreativität, Innovationsfähigkeit. Im kapitalistischen Westen ist vom sinnvollen Arbeitsvolumen her die 30-Stunden-Woche kein Problem.

Zu den not-wendigen Aktivitäten gehören gerade in der gegenwärtigen Krise die Übernahme insolventer Unternehmen durch die Belegschaft sowie die Gründung neuer demokratischer Unternehmensformen wie Genossenschaften und kollektiver Start-ups. (339)

Wer abhängige Arbeit ausbeutet, beutet auch abhängige Staaten aus und überzieht sie bei Bedarf bekanntlich mit Krieg. Die Selbstorganisation der abhängig Beschäftigten muss auch als Teil der übergreifenden weltweiten Friedensbewegung agieren, in Kooperation mit der Bewegung der Blockfreien und allen Widerständigen, die sich am ursprünglichen Völkerrecht der UNO orientieren.

Die mit den USA neu aggressiv sich entwickelnde EU muss sicherheitsarchitektonisch neu gegründet werden unter Einschluss Russlands. Kein Parlament eines europäischen NATO-Mitgliedsstaates hat über die Veränderung der NATO als Verteidigungsbündnis nach 1990 zu einem Angriffsbündnis abgestimmt. Auch das Europäische Parlament hat dem nie zugestimmt. Die NATO muss aufgelöst werden.

Der westliche Kapitalismus hat auf seinem Abstieg auch das Unternehmertum pervertiert, mit massenhafter Scheinselbständigkeit, also mit Schein-Unternehmertum. Die persönlichen Daten und das persönliche Eigentum sind aufgelöst. Aus »normalen« Beschäftigten von ganz unten bis in hohe Beratungs- und Managerpositionen werden »Unternehmer ihrer selbst« gemacht bzw. simuliert, als Ich-AG o. ä. bezeichnet – um dann doch absolut von einem/einer Mächtigeren bestimmt und ausgebeutet zu werden. Auch das zeigt ein Ende des vielfach pervertierten Kapitalismus.

Deshalb: Die abhängig Beschäftigten von unten bis oben müssen selbst zu assoziierten UnternehmerInnen werden, mit dem Recht auf Eigentum. Die Aufgabe ist groß, sehr groß, sie ist notwendig, sie entspricht der aktuellen Lage, der menschlichen Würde und den menschlichen Fähigkeiten.


Fußnoten:

333 Asbjörn Wahl: The Rise and Fall of the Welfare State, London 2011
334 Werner Rügemer: Aus der Defensive gegen das Kapital, arbeitsunrecht.de, 3.1.2020
335 David Graeber: Bullshit Jobs, New York 2018; 4. Auflage, Stuttgart 2019
337 Dorothea Brummerloh: Man hat wieder Personal, DLF Kultur, 14.10.2019
338 Werner Rügemer: Philosophie als Arbeit am zulässigen Zeitgeist. Zum »Meisterdenker aus Deutschland« Jürgen Habermas, Neue Rheinische Zeitung, 26.6.2019
339 Werner Rügemer: Strategien zur Betriebsübernahme, arbeitsunrecht.de, 24.6.2020


Werner Rügemer: Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr.



Papyrossa Verlag, Köln Oktober 2020. 320 Seiten, 19,90 Euro


Erläuterungen und Hinweise zum einleitenden Text von Afsane Bahar:

[1] Gemeinnütziger Verein „Aktion gegen Arbeitsunrecht“: https://arbeitsunrecht.de/
[2] Unter anderem sind von Dr. Werner Rügemer die folgenden Bücher erschienen: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure. PappyRossa Verlag. 2. erweiterte Auflage, Köln 2020; Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet: Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur. PappyRossa Verlag. Köln 2019; Die Fertigmacher. Arbeitsunrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung (In Zusammenarbeit mit Elmar Wigand). PappyRossa Verlag. 3. erweiterte Auflage, Köln 2017; RatingAgenturen. Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart. transcript Verlag. 2. Auflage, Bielefeld 2012; 'Heuschrecken' im öffentlichen Raum: Public Private Partnership - Anatomie eines globalen Finanzinstruments. transcript Verlag. Bielefeld 2008
[3] Das BlackRock-Tribunal fand am 26. und 27. September 2020 in Berlin statt. Anklage: https://www.blackrocktribunal.de/wp-content/uploads/2020/09/BlackRockTribunalAnklage.pdf
Urteil: https://www.blackrocktribunal.de/wp-content/uploads/2020/09/BlackrockTribunalUrteil-final-1.pdf
[4] Literatur (Auswahl): https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2020/12/wr-literatur.pdf
[5] Inhaltsverzeichnis: https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2020/12/wr-inhaltsverzeichnis.pdf
[6] Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. 10.12.1948: https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf
[7] https://www.ilo.org/berlin/arbeits-und-standards/lang--de/index.htm
[8] Das Kapitel über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) als Keimzelle der EU wurde am 10.12.2020 von Rubikon in gekürzter Form veröffentlicht: https://www.rubikon.news/artikel/das-imperium-eu
[9] https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2020/12/wr-auszug.pdf
[10] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27110

Online-Flyer Nr. 760  vom 31.12.2020

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