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Literatur
Rainer Mausfeld: „Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien“
Rütteln an den Grundfesten des Systems – aber wie?
Von Günter Rexilius

PsychotherapeutInnen wissen: Angststörungen nehmen zu und beeinträchtigen das Leben vieler Menschen mehr als früher, wie auch Depressionen – inzwischen als "Volkskrankheit" etikettiert – und Burn-out-Erkrankungen, beide psychodynamisch mit Angst verbunden. Was viele Fachleute nicht wissen – und was sie häufig auch nicht so sehr interessiert – ist, woher diese an Seele und oft auch an Körper fressenden psychischen Störungen eigentlich kommen. "Angst und Macht" hängen eng zusammen, so sagt es treffend der Titel des kleinen Büchleins von Rainer Mausfeld (emeritierter Professor der Universität Kiel). aber wie genau, das erläutert und begründet er auf den folgenden einhundert Seiten. Er hatte "das Schweigen die Lämmer", zwei Jahre zuvor in seinem Bestseller systematisch untersucht und fast allen Menschen auf dem Globus den Spiegel vorgehalten. In ihm konnten sie sehen, wer ihre Leben mit welchen Methoden, mit welchem Ziel und mit welchen Folgen verkrüppelt und zerstört, und sie konnten erkennen, wie ohnmächtig sie in der Zange von demokratischen Phrasen und kapitalistischer Verwertung zappeln. In diesem neuen Text fokussiert Mausfeld den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Lebensbedingungen und den seelischen Schäden, die sie anrichten.

Seine Gedanken, die empirischen Belege und die theoretischen Verlinkungen sind zwar nicht neu, aber in ihrer Kompaktheit helfen sie, besser zu verstehen, welcher Maschinerie aus ökonomischer Profitlogik, sie stützender politischen Kumpanei, medialen Verschleierungsmechanismen und vielfältiger systemimmanenter Gewalt die Menschen im neoliberalen Kapitalismus ausgeliefert sind – nahezu alle, denn der globalisierte Feldzug gegen Mensch und Natur seit Jahrzehnten war – auch das macht Rainer Mausfeld klar – so erfolgreich wie kein System, keine Ideologie zuvor.

Mausfeld weist noch einmal darauf hin, in welchem Ausmaß Leistungs- und Konkurrenzdruck nicht nur Angst machen, sondern Menschen auslaugen: Armut und Verelendung bedrohen nicht nur die Betroffenen existenziell, sondern auch die, deren Unsicherheit ihr Leben wie ein roter Faden durchzieht; Lug und Trug sind – neben offener Gewalt – die wirksamsten Mittel der Durchsetzung herrschender Interessen; und der Krieg gegen den Terror ist eine völkermordende Rechtfertigung für die Verfolgung hegemonialer Ansprüche und von Profitinteressen geworden. Darüber hinaus – bereichernd für ein substanzielles Verstehen von Unterdrückung und Lähmung der Menschen – sind Mausfelds Hinweise auf die "ökonomische Kolonisierung des Selbst" oder die "rohe Bürgerlichkeit" als Ausdruck der Verachtung der Besitzenden gegenüber den Nicht-Besitzenden. Auch die nachdrückliche Erinnerung daran, dass Bildung und Erziehung vollständig ökonomischer Logik unterworfen sind und die OECD – vielen ganz unverdächtig – diese Besetzung von Denken und Wahrnehmung mit einem "pervertierten Freiheitsbegriff" forciert, sind wichtige aufklärende Facetten. Diese Perversion – so könnte man schlussfolgern – ist das existenzielle Komplement der Angst, die im Leben vieler Menschen dramatische Auswirkungen hat.

Zugleich fordert Rainer Mausfeld zur Debatte heraus. Wenn er sich auf die bürgerliche Aufklärung bezieht, verliert er die "Dialektik der Aufklärung" ein wenig aus dem Blick, was angesichts fünfhundertjähriger Kolonialismus- und Imperialismusgeschichte verwundert und Widerspruch nötig macht. Zähigkeit und Überlebensfähigkeit des Kapitalismus sprechen eher gegen seinen Versuch, der neoliberalen Wirklichkeit weltweit mit der Einschätzung als "Zombie-Ideologie" quasi ihr Ende zu prognostizieren. Auch sein parlamentarisch definierter Demokratiebegriff hinterlässt Fragen, denn aus seinen eigenen historischen und aktuellen Untersuchungen folgt, dass Hoffnung und Veränderung des "schlechten Lebens" (Adorno) basis-demokratische Grundlagen brauchen. Am meisten vermissen LeserInnen aber vielleicht motivierende Impulse: Ermunterung zum Widerstand. Gerade Einsichten und Einblicke in die Dynamik, die Repressionsmechanismen und das psychische Leiden, wie sie dieser schmale Band konzentriert und konsequent vermittelt, könnten, sollten Mut machen, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten einzugreifen, ideologische Zäune einzureißen und das, was neben der Angst auch in der seelischen Dynamik entsteht, nämlich Wut, gegen die elitären und ausbeutenden AggressorInnen zu richten. Deshalb darf Rainer Mausfeld, der mit seinen Analysen ja durchaus an den Grundfesten des Systems rüttelt, sicherlich ergänzt werden: Es gibt diesen Widerstand, bei den Fridays for Future, bei Ende Gelände, bei den Scientists for Future, bei den Psychotherapists for Future usw. usf. Sie sind dabei, Angst und Depressivität zu überwinden und die Fundamente für eine andere, eine gerechte und friedliche Gesellschaft, zu bauen.

Insgesamt ein anregendes, materialreiches Bändchen, dessen wichtigste Stärke darin besteht, die Wichtigkeit psychologischer Dimensionen für das Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeit und für politische Praxis ernster zu nehmen, als dies bisher geschieht.


Rainer Mausfeld: Angst und Macht



Westend Verlag, Frankfurt 2019, ISBN-10: 3864892813, ISBN-13: 978-3864892813, Klappenbroschur, 14 Euro


Siehe auch:

Rainer Mausfeld: „Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien“
Die Zitterpartie der Macht
Buchtipp mit einer satirischen Vorbemerkung von Harry Popow
NRhZ 715 vom 14.08.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26119

Online-Flyer Nr. 738  vom 04.03.2020

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