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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Globales
Es heisst: "Die Einwanderung führt zur weiteren Zubetonierung der Schweiz"
Warum fliehen Menschen aus Somalia, USA, Schweiz?
Von Heinrich Frei

Gegen Vorurteile sind wir alle nicht gefeit: Wir wissen, wie Frauen, Juden, Muslime, Katholiken, Atheisten und Kommunisten ticken, welchen miesen Charakter Leute aus dem Kosovo, Araber und Schwarze haben. Auch gegen die Deutschen haben wir Vorurteile. Wir kennen zwar oft niemanden dieser Fremden persönlich. «Ihr Juden habt unseren Jesus getötet», wurde einem kleinen jüdischen Mädchen seinerzeit vorwurfsvoll von ihren Mitschülern an den Kopf geworfen. Auch der Psychologe C.G. Jung war nicht frei von Vorurteilen, wie aus seiner negativen Einschätzung der Juden von 1934 hervorgeht. Jung war lange wie viele andere vom Nationalsozialismus begeistert, als in der Schweiz die Verbrechen der Nazis längst bekannt waren, die Konzentrationslager, in die schon ab 1933 tausende Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten, Oppositionelle und auch Schriftsteller gesteckt wurden. (1) Der Schriftsteller Erich Mühsam wurde zum Beispiel schon im Juli 1934 im Konzentrationslager Oranienburg totgeschlagen. (2)

Vorurteile und auch Ängste gegen Ausländer und Flüchtlinge werden auch geschürt. Es heisst: «Hütet euch vor der Überfremdung, vor der schleichenden Islamisierung der Schweiz, vor den Terroristen, die sich bei uns einschleichen.»  «Das Erfolgsmodell unseres Landes wird durch die Fremden bedroht.» «Die Ausländer nehmen uns die Stelle und die Wohnungen weg». «Die Einwanderung führt zur weiteren Zubetonierung der Schweiz.»




Mit der Angst vor Fremden wird in vielen Ländern erfolgreich Politik gemacht

Warum flüchten Menschen aus Somalia?

Für die westliche Welt war alles noch in Ordnung, solange nur Fabrikschiffe das Meer vor der somalischen Küste leer fischten. Auch die heimliche Entsorgung von Giftmüll und von radioaktiven Abfällen vor dem Horn von Afrika im Indischen Ozean wurde auch weitgehend ignoriert. Menschen erkrankten und starben an der Küste Somalias von den angeschwemmten Giften. Die Proteste der somalischen Regierung gegen dieses verbrecherische Tun wurde von der "internationalen Gemeinschaft" kaum zur Kenntnis genommen. Erst, als Piraten vor der somalischen Küste Handelsschiffe kaperten, wurden Kriegsschiffe geschickt, um die Piraterie im Indischen Ozean vor Somalia zu unterbinden. Die «European Union Naval Force» schützt seit 2008 mit der «Operation Atalanta» die Handelsschifffahrt im Golf von Aden.

Auch der Krieg in Somalia, der seit 28 Jahren im Gange ist, machte nie so große Schlagzeilen wie die Piraterie. Als Folge dieses Krieges in Somalia, der Trockenheit und dann wieder von Überschwemmungen und der dadurch verursachten Hungersnöte werden heute in diesem Land ca. 2,65 Millionen interne Flüchtlinge gezählt, bei einer Bevölkerungszahl von schätzungsweise 15 Millionen. Bei der Hungersnot, die Ostafrika 2011 heimsuchte, kamen nach UNO-Angaben allein in Somalia 260.000 Menschen ums Leben. Ist es daher erstaunlich, dass Somalier versuchten, dieser Misere zu entkommen und nach Kenia, nach dem Jemen und auch nach Europa zu fliehen? (3)

Nebenbemerkung: «Warum sie so arm sind». Die oft ungerechten Handelsbeziehungen zu der Dritten Welt. Ein Dollar wird in der Dritten Welt investiert und zwei, drei, Dollar kommen zurück, sagen Ökonomen. Internationale Konzerne beuten oft verantwortungslos arme Länder aus. Wird es mit der Konzernverantwortungs-Initiative (4) wenigstens in der Schweiz gelingen, dieses üble Tun zu verhindern? – Wann über diese Volksinitiative abgestimmt wird, weiß man noch nicht. - Viele der größten Konzerne der Welt, wie Glencore, Syngenta, Nestlé, Roche, Novartis, Trafigura, Xstrata, Mercuria, Cargill, der Raffineriebetreiber Petroplus haben nämlich ihren Sitz in der Schweiz und profitieren von den hiesigen niedrigen Steuern und der verantwortungslosen laisser-faire-Politik unseres Landes.



Warum floh 1988 ein Schüler aus Somalia?

Bashir Gobdon, den ich im «Förderverein Neue Wege in Somalia, gegründet von Verena Karrer» (5), kennengelernt hatte, flüchtete 1988 aus Somalia, als achtzehnjähriger Schüler. Warum? 1988 kam es zu einem Krieg im heutigen Somaliland. Das diktatorische Regime von Siyaad Barre in Somalia, das durch seine Unterdrückungspolitik immer unbeliebter wurde, bekämpfte militärisch die Opposition in Somaliland, was misslang. Die Regierung von Siyaad Barre begann in diesen Jahren, viele Jugendliche zwangsweise zu rekrutieren. Auch mein Bekannter befürchtete, in die Armee eingezogen zu werden. Sein ältester Bruder war schon vor sechs Monaten im Apparat der Militärs verschwunden. Seither hörte die Familie nichts mehr von ihm. Sie wussten nicht, ob er überhaupt noch lebte. Jugendliche wurden damals in Mogadischu von der Polizei auf der Straße aufgegriffen, in die Kasernen verfrachtet und an die Front geschickt. Mit der Unterstützung seiner Familie konnte Bashir Gobdon nach Kenia fliehen, und entkam so dem Kriegsdienst.

Warum floh Professor Mohamad Roble aus Somalia?

Ende 2008 wurde er in der somalischen Stadt Merka von Unbekannten angeschossen und verlor dabei ein Auge. Eine Ladehemmung im Schießeisen der Angreifer verhinderte, dass er getötet wurde. Schwerverletzt wurde Professor Roble nach Nairobi in Kenia ausgeflogen, wo man sein zweites Auge in einer Klinik retten konnte. Später erhielt er in den Niederlanden Asyl, und seine Frau und seine Tochter konnten später aus Kenia ihm nachfolgen. Professor Roble war vor dem Bürgerkrieg Mathematikprofessor in Mogadischu gewesen. Später leitete er in Merka das Hilfswerk «Neue Wege», dass die Schweizer Hebamme und Lehrerin Verena Karrer gegründet hatten. Nach dem gewaltsamen Tod von Verena Karrer im Februar 2002 wurde ihr Werk unter der Leitung von Roble weitergeführt und ausgebaut. Das Werk «Neue Wege» umfasste in Merka eine Primar- und Sekundarschule mit etwa tausend Schülern, ein Ambulatorium, eine Stadtreinigungsequipe und ein Sanitätsposten im Dorf Ambe Banaan. (5)(6)


Prof. Mohamad Roble, der frühere Leiter der «Neuen Wege in Somalia» bei einem Besuch aus den Niederlanden in Zürich mit Jenny Heeb, heutige Co-Präsidentin von Swisso Kalmo (Foto: Verena Gertsch)

Warum verließ Scecdon Nur Olad mitten in der Nacht Somalia?


Scecdon Nur Olad floh aus Somalia, aus der Stadt Merka, als die Region Lower Shabelle noch unter der Herrschaft der fundamentalistisch orientierten Al-Shabab-Milizen stand. Er vernahm, er müsse sich am Abend in der Moschee zeigen. Noch in der gleichen Nacht verließ Scecdon Nur Merka und flüchtete nach Kenia. Er wusste, das Verhör in der Moschee hätte böse enden können. Seine Frau Magda, die bereits mit ihren beiden Adoptivkindern in Nairobi lebte, und er wurden von den islamistischen Al-Shabab-Leuten verdächtigt, in Merka für den christlichen Glauben zu missionieren, was jedoch nicht der Fall war.


Scecdon Nur Olad (Vorstandsmitglied Swisso Kalmo) und Bashir Gobdon (Co-Präsident Swisso Kalmo) (Foto: Heinrich Frei)

Scecdon Nur Olad arbeitete mit seiner Frau Magda seit 1988 in Somalia. Am Anfang war Magda im Distrikt Spital in Merka tätig, unter dem Patronat der deutschen Rettungsflugwache als Schulschwester auf der Medizin und der Gynäkologie. Das Spital wurde von Dr. Peter Dürner geleitet. 1993 kam die Hebamme und Lehrerin Verena Karrer, die lange Jahre mit Magda Nur-Frei in der Zürcher Arztpraxis Waffenplatz gearbeitet hatte, nach Merka und arbeitete mit Magda zusammen. Im August 1995 gründete Verena Karrer in Merka das Hilfswerk «Neue Wege». Magda Nur-Frei und ihr Mann übernahmen nach dem Tod von Dr. Peter Dürner und dem Wegzug von Annalena Tonelli (7) aus Merka ihre medizinische Arbeit und gründeten das Hilfswerk «Swisso Kalmo» (8), das durch Schwestern und Brüder von Magda, bis zu ihrem Tod im April 2010 in der Schweiz tatkräftig unterstützt wurde.

Die beiden Schweizer Hilfswerke «Neue Wege» und «Swisso Kalmo» kooperierten in der Schweiz noch zu Lebzeiten von Magda Nur-Frei. Aber in Merka, war der somalische Leiter der «Neuen Wege» nicht bereit, mit «Swisso Kalmo», das nun unter Leitung des somalischen Arztes Dr. Abdi Hersi stand, zusammenzuarbeiten.

«Swisso Kalmo» betreibt heute in Merka ein Ambulatorium und in Dhusamareb eine Hebammenschule, finanziert durch eine Stiftung der Bank Julius Bär. Ein dreijähriger Lehrgang der Hebammenschule wird im nächsten Jahr abgeschlossen. Bisher konnte niemand gefunden werden, der einen weiteren Kurs zur Ausbildung von Hebammen im Hospital in Dhusamareb finanziert.

Flucht aus «zivilisierten» Ländern, aus der Schweiz, aus den USA

Auch aus der Schweiz flüchteten Menschen. Etwa 10.000 Kriegsdienstgegner wurden bis zur Einführung eines Zivildienstes im Jahr 1996 in unserem Land zu unbedingten Gefängnisstrafen verurteilt. Felix Ziegler, ein Lehrer, damals auch Präsident des Schweizer Zweiges des Service Civil International (SCI), wollte nach seiner ersten Verweigerung nicht noch einmal ins Gefängnis. Er setzte sich nach dem Libanon ab und leitete dort während Jahren ein armenisches Waisenhaus. Ein anderer Kriegsdienstgegner wanderte nach Wales in Großbritannien aus, wo er heute noch lebt.

Edgar Snowden aus den USA musste 2013 nach Russland fliehen, nachdem er die umfassende Bespitzelung auch amerikanischer Staatsbürger aufgedeckt hatte. Während des Vietnamkriegs flohen zehntausende junge Amerikaner nach Kanada und in andere Länder, um nicht Kriegsdienst zu leisten zu müssen.

1966 lernte ich in Fanas in einem dreiwöchigen internationalen Workcamp des «Service Civil International» (SCI) (9) einen jungen Amerikaner kennen. Wir bauten in diesem Lager auf einer Alp eine Milchpipeline ins Tal hinunter. Die Grab- und Sprengarbeiten wurden von Köbi Haag geleitet, einem Bauern aus Fanas. Unser Kollege aus den USA in unserem SCI-Camp hatte sich nach Europa abgesetzt, weil er nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden wollte. Das hieß damals in den USA ein Einsatz im Vietnamkrieg, der drei bis fünf Millionen Menschen in Vietnam, Laos und Kambodscha das Leben gekostet hatte. Der junge Amerikaner hatte in den USA einen Lehrer gehabt, der ihn über die Hintergründe des Vietnamkrieges aufklärte. «Viele andere Schüler hätten nicht diese Chance gehabt, durch einen Lehrer informiert zu werden», erzählte er mir. Als 18-Jährige wurden die Yankees damals eingezogen, in eine Uniform gesteckt und nach Vietnam geflogen. 58.220 Amerikaner fanden in Südostasien den Tod oder kamen verletzt, krank und traumatisiert zurück.

Paul Grüninger rettete tausenden Menschen das Leben

Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Schweiz vor der schleichenden Einwanderung von osteuropäischen Juden gewarnt, von Leuten mit einer für uns fremden Wesensart, wie es hieß. Bald nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938 wurde in der Schweiz die Visumspflicht für Leute mit österreichischen Pässen eingeführt, um die Flucht aus Österreich, die nach dem Regimewechsel erwartet wurde, zu unterbinden. Wie andere Länder wollte die Schweiz möglichst keine Juden, Kommunisten und andere Verfolgte aufnehmen. Polizeikommandant Paul Grüninger in St. Gallen ließ trotz des Einreiseverbots dennoch hunderte Flüchtlinge ohne Visum in die Schweiz einreisen. Er wurde deshalb 1939 fristlos entlassen und seine Ansprüche auf Pension aberkannt. (10)

Auf der Konferenz von Evian, die vom 6. bis 15. Juli 1938 stattfand, weigerten sich damals alle Teilnehmerstaaten außer der Dominikanischen Republik mehr jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, obwohl bekannt war welch furchtbarer antisemitischer Terrorstaat sich in Deutschland und Österreich etabliert hatte.


Der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger rettete hunderten Flüchtlingen vor dem Zweiten Weltkrieg das Leben und verlor deswegen seine Stelle

1938: Flucht aus Wien in die Schweiz


Der Terror der Nationalsozialisten in Österreich nach dem Anschluss an das Reich übertraf anfangs noch das im bisherigen Deutschen Reich erlangte Ausmaß. Allein zwischen dem 12. und dem 22. März 1938 gab es in der Ostmark offiziell 1.742 Festnahmen, in Wien 96 Suizide. Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden, beispielsweise Sigmund Freud, blieb zur Rettung oft nur die Flucht. (11) (Ostmark: Gebietsname zwischen 1939 und 1942 des vormaligen Staates Österreich nach dem «Anschluss» im März 1938)

Am 5. August 1938 überquerten bei Beggingen im Kanton Schaffhausen Flüchtlinge aus Wien die grüne Grenze in die Schweiz. Am 21. August erreichten auch einige ihrer Angehörigen noch die Schweiz. Viele Menschen in Österreich, die nicht mehr fliehen konnten, die auch schon längst nicht mehr einer jüdischen Gemeinschaft angehörten, wurden später deportiert und ermordet. Den Flüchtlingen, die in der Schweiz und auch in Schaffhausen Zuflucht fanden, war es verboten zu arbeiten. In Schaffhausen hatte man für Flüchtlinge, in der der Sozialdemokrat Walter Bringolf Stadtpräsident war, vermutlich mehr Verständnis als in anderen Orten. Einige der Geflohenen standen in Schaffhausen, wie früher in Wien, mit der Arbeiterbewegung in Kontakt und konnten sogar unter Pseudonymen in der Schaffhauser Arbeiter-Zeitung Artikel veröffentlichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die meisten Flüchtlinge die Schweiz verlassen, auch in Schaffhausen. Sie fanden Zuflucht in den USA, in Brasilien und in anderen Ländern. Nur einzelnen Flüchtlingen wurde bewilligt, aus gesundheitlichen und Altersgründen vorläufig in der Schweiz zu bleiben. (11)(12).


Fußnoten:

(1) 1933 scheint die Vernunft den Psychologen C.G. Jung verlassen zu haben
Ausstellung zu seinem "Roten Buch“
Von Heinrich Frei, Neue Rheinische Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16006
(2)  Erich Mühsam, Untersuchungen zu Leben und Werk von Heinz Hug, 1974
(3) Swisso Kalmo: Ambulatorium in Merka und Hebammenschule in Dhusamareb
Auswirkung des Klimawandels: in Somalia katastrophal
Von Heinrich Frei, Neue Rheinische Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25861
(4) Konzernverantwortungs-Initiative
https://konzern-initiative.ch/
(5) Förderverein Neue Wege in Somalia, gegründet von Vre Karrer, www.nw-merka.ch
(6) Interview mit Professor Mohamad Roble, der aus Somalia fliehen musste
Schulen, ein Beitrag zum Frieden
Von Heinrich Frei, Neue Rheinische Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=15189
(7) https://de.wikipedia.org/wiki/Annalena_Tonelli
(8) Swisso Kalmo
www.swisso-kalmo.ch
(9) Service Civil International
http://scich.org/de/ueber-uns/die-organisation/
(10) Stefan Keller, Grüningers Fall, Rotpunkt Verlag 1993.
(11) http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/Gedenktage/GO_2.3_DHM.pdf

Online-Flyer Nr. 730  vom 18.12.2019

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