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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Kultur und Wissen
1933 scheint die Vernunft den Psychologen C.G. Jung verlassen zu haben
Ausstellung zu seinem "Roten Buch“
Von Heinrich Frei

Das Zürcher Museum Rietberg eröffnete vor kurzem eine Ausstellung zum „Roten Buch“ von C.G. Jung. Der Schweizer Psychiater und der Begründer der Analytischen Psychologie. malte und bildhauerte auch, und die Ausstellung macht das eindrucksvolle künstlerische und geistige Universum des Denkers erfahrbar. Politisch war Carl Gustav Jung, wie viele seiner bekannten Zeitgenossen, z.B. auch der Architekt Le Corbusier, weitgehend blind vor der Gefahr des Faschismus, der sich in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht nur in Italien und Deutschland etablierte.
 
Offensichtlich malte und bildhauerte Jung in seiner Freizeit lieber, statt sich über die schrecklichen politischen Ereignisse in diesen Jahren ins Bild zu setzen. 1933 verließ ihn die politische Vernunft buchstäblich. Er wurde 1933 Vorsitzender der "Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie", nachdem der Psychiater Ernst Kretschmer sein Amt als deren Vorsitzender nach der Machtergreifung Hitlers aus Protest niedergelegt hatte. Sieben Jahre lang amtete Jung in dieser Funktion.

Was nach 1933 unter den Nazis in Deutschland passierte, war in der Schweiz bekannt. Die Presse informierte, Bücher erschienen. Es war kein Geheimnis, dass nach dem Machtantritt Hitlers in Deutschland "aufgeräumt" wurde, dass die Nationalsozialisten Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Pazifisten usw. in Konzentrationslager sperrten, folterten, umbrachten. Man wusste, dass überall im Reich Oppositionelle und auch schon Juden zur Nachtzeit unter irgendwelchen Vorwänden in ihren Wohnungen festgenommen wurden. Am 26. April 1933 waren im deutschen Reich schon 16.000 Menschen eingesperrt. Am 10. Mai 1933 kam es in der Berliner Oper zu Verbrennung von jüdischen Schriften.
 
„Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager“
 
Wolfgang Langhoff veröffentlichte 1935 in Zürich im Schweizer Spiegel Verlag seinen autobiographischen Bericht „Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager“. Nach der Übersetzung ins Englische fanden diese Augenzeugenschilderungen der Brutalität in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern weltweit Beachtung. - Am 28. Februar 1933 war Langhoff von der Gestapo verhaftet worden, wurde schwerer Folter ausgesetzt und im Juli 1933 er ins Konzentrationslager Börgermoor im Emsland verbracht. Langhoff war 13 Monate in Haft und Konzentrationslagern. Drei Monate nach seiner Freilassung floh er in die Schweiz, kurz vor Schließung der Grenze. Am Schauspielhaus Zürich fand er Unterkunft und Arbeit als Regisseur und Schauspieler.
 
Ungeachtet der Verbrechen der Nazis, die, wie schon erwähnt, in der Schweiz bekannt waren, pries Jung in dem neuen Therapieblatt der Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie das er nun redigierte, "das kostbare Geheimnis des germani- schen Menschen". Der Psychologe Freud, so meinte Jung 1934, kannte "die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erschei- nung des Nationalsozialismus, auf den eine ganze Welt mit erstaunten Augen, blickt, eines Besseren belehrt?" Jungs Antwort auf die selbst gestellte Frage: "Die tatsächlich bestehenden und einsichtigen Leuten schon längst bekannten Verschiedenheiten der germanischen und der jüdischen Psychologie sollen nicht mehr verwischt werden."... Die Juden hätten, schrieb Jung, eine Eigentümlichkeit mit den Frauen gemein: "Als die physisch Schwächeren müssen sie auf die Lücken in der Rüstung des Gegners zielen". Er lobte das "arische Unbewusste" das "fähig zu gewaltiger Flamme" sei, im Gegensatz zu dem Juden, der "als relativer Nomade", nie eine eigene Kultur geschaffen habe und "voraussichtlich auch nie eine eigene Kulturform schaffen" werde.
 
2010: Leider sind wir heute auch nicht vernünftiger
 
1933 scheint die Vernunft den Psychologen C.G. Jung wirklich verlassen zu haben. Jung war ein bedeutender Psychologe, aber sein Denken war sein Leben lang überschattet von Mystizismus, ja von Okkultismus. Das war auch ein Grund der ihn mit dem Wiener Psychologen Sigmund Freud entzweite, der sich im philosophischen Sinne auf dem Boden einer materialistischen Weltanschauung bewegte. Vielleicht sind auch wir heute, wie Carl Gustav Jung vor 80 Jahren, noch dem Aberglauben, dem mittelalterlichen Denken verhaftet und daher weitgehend blind, sonst würde die Welt anders aussehen.
 
Presseinformation zur Ausstellung "Das Rote Buch"
 
Als geheimnisvolles »Rotes Buch« ging es in die Literatur über C. G. Jung ein. Niemand bekam es zu Gesicht, da sein Urheber selbst verfügt hatte, es nicht zu veröffentlichen. Diesem Wunsch wurde entsprochen. Doch fast fünfzig Jahre nach dem Tod Jungs ist die Zeit gekommen, um dieses eindrucksvolle Werk der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
 
Über viele Jahre hielt der große Schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung (1875–1961) seine Träume, Visionen und Fantasien in einem Tagebuch fest: großformatig, kunstvoll und farbenprächtig – C. G. Jungs handgeschriebenes und -gemaltes einzigartiges Vermächtnis.
 
Interview mit Ulrich Hoerni von der Stiftung der Werke von C.G.Jung:
 
Was ist das Rote Buch?
 
Das Rote Buch ist ein in rotes Leder gebundenes Buch (Format ca. 30 x 40 x 10.5 cm), in welchem C. G. Jung ein langes Experiment mit sich selbst dokumentierte, welches später als Auseinandersetzung mit dem Unbewussten bekannt wurde. Der Inhalt besteht zum Teil aus Texten, d.h. Imaginationen (= Wachphantasien) und Reflexionen darüber, zum Teil aus von Jung gemalten Bildern. Die Texte wurden mehrfach überarbeitet und schließlich kalligraphisch in das eigentliche Buch übertragen, in der Art einer illuminierten mittelalterlichen Handschrift. Das Rote Buch ist ein unvollendetes Werk. (Anmerkung des Autors: Jung arbeitete nach eigenen Angaben an dem Buch von 1913 bis 1928.)
 
Warum wird das Rote Buch erst jetzt veröffentlicht?
 
Obschon Jung selbst den Schritt vielleicht erwog, publizierte er das Rote Buch weder separat, noch in seinen Gesammelten Werken. Hauptgrund war vermutlich, dass es keinen wissenschaftlichen, sondern autobiographischen Charakter trug. Im Hinblick auf das Werk "Erinnerungen, Träume und Gedanken" von C. G. Jung gestattete Jung der Herausgeberin Aniela Jaffé nur die Verwendung von Auszügen aus dem Roten Buch. Die Erben Jungs respektierten diese explizit oder implizit geäußerten Wünsche. Nach Beendigung der Publikation der Gesammelten Werke ermöglichte eine zunehmend psychologiehistorische Betrachtungsweise der Erbengemeinschaft C.G. Jung einen neuen Zugang zum Roten Buch und damit im Jahr 2000 – nicht ohne Diskussion – dessen Freigabe zur Publikation. (PK)


Online-Flyer Nr. 282  vom 29.12.2010

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