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Aktueller Online-Flyer vom 19. März 2024  

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Kultur und Wissen
Impressionen von der 23. Linken Literaturmesse Nürnberg, 2. bis 4.11.2018
Aufklärung, Analysen und Handlungsanweisungen
Von Artur Rümmler

So etwas kannst du lange suchen. Eine Literaturmesse, die du betreten darfst, ohne zu bezahlen. Später, in den Veranstaltungen, geht eine Spendendose durch die Reihen, weil die Veranstalter keine Sponsoren haben, und wenn du was hast, gibst du was. Du begegnest einer reichhaltigen Ladung geballten Wissens aus den verschiedenen Bereichen des linken Spektrums, präsentiert von Dutzenden Verlagen, Buchvertrieben und Antiquariaten  in Büchern, Zeitschriften und politkünstlerischer Fotografie. Der neue Ausstellungsort in der „Kulturwerkstatt Auf AEG“, einem ausgedehnten Gebäudekomplex, liegt zwar ein ganzes Stück von der Innenstadt entfernt, lockte aber laut Veranstaltern rund 1500 Interessierte, die sich besonders am Samstag in den Ausstellungssälen und Verbindungsgängen drängten.



Für die Ausstellungssäle hätte ich mir einen genauen Lageplan der Aussteller gewünscht, um schneller an den gesuchten Stand zu gelangen. Ein Riesenprogramm erwartete mich. Auch ich hatte die Qual der Wahl. Aus rund sechzig Vorträgen mit hochkarätiger Thematik (Israel/Palästina fehlte) sich für einige zu entscheiden, ist keine leichte Sache, vor allem, wenn die Favoriten zeitlich parallel agieren. Leider musste ich einige Edelsteinchen links liegen lassen.

Die einstündigen Vorträge, in denen die AutorInnen die Inhalte ihrer Bücher in komprimierter Form referierten, verlangten von den ZuhörerInnen Konzentration. Hier ein paar Spotlights.

Volker Hermsdorf

Volker Hermsdorf, Autor mehrerer Bücher über Cuba, stellt in seiner Kurzbiografie (Papyrossa Verlag) Fidel Castro als einen großen Staatsmann internationalen Formats dar. Hermsdorf beleuchtet vor allem die Wendepunkte in Castros Entwicklung und findet einen zentralen Charakterzug Castros: Wenn er etwas erkannt hat, handelt er sofort. So zum Beispiel kandidierte er, aus einem großbürgerlichen, konservativen Elternhaus kommend, bei den Wahlen Anfang der fünfziger Jahre für eine bürgerliche Partei mit Aussicht auf einen hohen Staatsposten, entschied sich aber, als die USA putschten und den Diktator Batista an die Macht brachten, für den Sturm auf die Moncada. Castro, so Hermsdorf, war lange Zeit kein Sozialist, sondern, geprägt von den Ideen Jose Martis, ein standhafter Verfechter der nationalen Souveränität, ein Grundgedanke, der sich auch durch sein späteres Handeln hindurchzieht. Die Hinwendung zur Sowjetunion geschah, um nach der gescheiterten Landung in der Schweinebucht einen militärischen Großangriff der USA zu verhindern. Ausdruck des Prinzips der internationalen Solidarität Cubas ist die weltbekannte Entsendung von Ärzten in Länder, die Hilfe brauchen. Cuba ist traditionell spitze bei Lebenserwartung und geringer Kindersterblichkeit.

Hannes Hofbauer

Hannes Hofbauers analytischer Ansatz seiner „Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert.“ (Promedia Verlag) zielt auf die Funktion der Wanderungsbewegungen. „Migration hat es immer gegeben.“ Er untersucht die europäische Migrationsgeschichte, darunter auch die deutsche Arbeitsmigration im 19. Jahrhundert nach Nordamerika, und unterscheidet als wesentliche Ursachen: Zerstörung der Subsistenz, Kriege und Vertreibungen, Umweltzerstörung. Um Migration zu vermeiden, sind diese Ursachen zu bekämpfen.

Zur Funktion der Migranten am Beispiel der Osterweiterung der EU stellt er fest, dass die billigen osteuropäischen Arbeitskräfte in Deutschland und anderen Ländern zur Lohndrückerei missbraucht wurden und ausgebildete Fachkräfte preiswert aus den dadurch geschädigten Entsendeländern auf den deutschen Arbeitsmarkt geholt wurden, so dass man auf die Ausbildung verzichten konnte. Die Migration aus Kriegsländern, z. B. Syrien, hat laut Hofbauer hierzulande eine soziale Deregulierungsfunktion auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, die von Großindustriellen und Politikern gewollt und genutzt wird.

Hofbauer betrachtet die Migranten als Opfer und wendet sich engagiert gegen den fremdenfeindlichen Diskurs der Rechten. Seine Analyse, die Sahra Wagenknecht nützlich sein könnte, wird innerhalb der Linken allerlei Diskussionen auslösen, scheint mir aber geeignet, die Migration der letzten Jahre nüchtern und realistisch einzuschätzen.

Eva und Markus Heizmann

Das Thema Syrien zog die Leute an. Der Seminarraum, in dem Eva und Markus Heizmann ihr Buch „Syrien - ein Land im Widerstand. Mehr als ein Reisebericht“ (Verlag Theorie und Praxis) vorstellten, erwies sich als zu klein, die Leute saßen auf dem Boden. Die Heizmanns machten gleich zu Beginn klar: “Alles, was Sie über Syrien wissen, ist Lüge.“, hielten sich nicht lange mit einem Referat auf, sondern eröffneten früh die Diskussion, in der sie mit der Autorität der kenntnisreichen Augenzeugen die im Mainstream gehandelten Fake News über Syrien entkräfteten. Zum Beispiel ist Regierungschef Assad, so Eva und Markus Heizmann, für die Syrer kein Diktator, sondern, wie Umfragen zeigen: „Sie lieben ihn.“ Bei den Unruhen 2011 wurde zuerst auf die Bevölkerung und die Sicherheitskräfte geschossen, erst dann setzte die Regierung Waffen ein. Der  folgende Krieg in Syrien war kein Bürgerkrieg, sondern der imperialistische Versuch des Regime Change. Trotz der schwierigen Situation sind in Syrien Gesundheitsversorgung und Bildung weiterhin kostenlos, die Mietpreise eingefroren, der Brotpreis wird stabil gehalten. Die Religionen leben friedlich miteinander. Es gibt viele kleine Geschäfte, die großen Handelskonzerne sind noch nicht in die Wirtschaft eingebrochen.

Die Unterstützung Syriens durch Russland, Iran und Hisbollah ist vom Völkerrecht gedeckt, weil die Regierung darum gebeten hat. Das militärische Eingreifen Europas und der USA auf syrischem Boden jedoch ist ein Bruch des Völkerrechts. Den nordsyrischen Kurden, die eine selbstverwaltete Föderation anstreben und mit dem sich östlich des Euphrat an den Ölquellen festsetzenden US-Militär eng zusammenarbeiten, stehen die Heizmanns deutlich ablehnend gegenüber. Sie sehen darin die Verfolgung kurdischer Eigeninteressen auf Kosten des syrischen Staates und seiner Bevölkerung. Die Kurdenfrage kann ihrer Meinung nach nur unter Beteiligung der umliegenden Länder gelöst werden.

Lucius Teidelbaum

Ein differenziertes und faktenreiches Bild über „Die christliche Rechte in Deutschland. Strukturen, Feindbilder, Allianzen“ (Unrast Verlag) lieferte Lucius Teidelbaum, der seit zehn Jahren an diesem Thema arbeitet und beklagt, dass die Antifa es vernachlässigt hat. Bei der christlichen Rechten unterscheidet er zwei Hauptströmungen: die protestantischen Evangelikalen und die katholischen Traditionalisten. Die in Deutschland 1,2 Millionen Gläubige zählenden Evangelikalen gewinnen an Einfluss in der EKD. Zu ihren Glaubenssätzen gehört, wie bei den US-Evangelikalen, das Warten auf das Armagheddon und die Rückkehr Jesu in Israel.

Ideologische Überschneidungen gibt es mit der katholischen Rechten, sofern es um Bibeltreue, Schöpfungslehre, Abtreibungsverbot, Sexualerziehung, Feindbild politische Linke u. a. geht. Die katholische Rechte vertritt jedoch, so Teidelbaum, antisemitische Verschwörungstheorien. Die christliche Rechte kann trotz ihrer antidemokratischen Positionen nicht gleichgesetzt werden mit der extremen Rechten, auch wenn es Verbindungen gibt. Parteipolitisch neigt die christliche Rechte zu CDU/CSU, in der AfD zählt man einige Hundert von ihnen. Teidelbaum, selber Atheist, empfiehlt der Linken, im Kulturkampf gegen die christliche Rechte eine Aktionseinheit mit den liberalen Christen zu bilden.

Simon Sutterlütti

„Und wie kommen wir jetzt zur freien Gesellschaft? Hast du irgendwas davon gehört?“, fragte mich ein aufmerksamer Teilnehmer gegen Ende der Messe. „Nein. Doch halt, da gibt es ganz am Schluss noch einen Vortrag!“, sagte ich und ging zu Simon Sutterlütti, er referierte über „Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken“ (VSA). Zunächst beschrieb er, visuell unterstützt von anschaulicher Textprojektion, die Utopie der freien Gesellschaft, zu deren Prinzipien Inklusionslogik, d. h. das Einbeziehen der Anderen, und Freiwilligkeit wie auch Selbstorganisation vor Ort gehören. Zentrale Planung gibt es nicht mehr, dafür eine polyzentrische Organisation der kleinen Einheiten. Die Regelung der Bedürfnisse schafft Konflikte, die gelöst werden können.

Wie kommt man in die freie Gesellschaft? Sutterlütti distanzierte sich von der marxistischen Revolutionstheorie, in der nach einem historischen Bruch die unterdrückte Klasse die Macht übernimmt und zur herrschenden wird. Diese Theorie klebt, so des Autors Argumentation,  zu sehr an der Rolle des Staats, doch Befreiung innerhalb des Staates ist nicht möglich. Sutterlütti lehnt den „marxistischen Geschichtsdeterminismus“ ab und plädiert für eine Transformation, die bereits in der alten Gesellschaft ihre freiwilligen, kollektiven Keimformen entwickelt, Vorbedingungen für den späteren Aufbauprozess nach dem Bruch. Okay, dachte ich. Ein diskutables anarchistisches Modell, aber wir sollten die Machtfrage nicht völlig vergessen.

Die Linke Literaturmesse, mit ihren aufklärerischen Theorien, kritischen Analysen und anregenden Handlungsanweisungen, besitzt auch in diesem Jahr eine große Strahlkraft, und es liegt auch an uns, sie zum Leuchten zu bringen.


Artur Rümmler: geboren 1943 in Mainz, Schriftsteller, Mitglied im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt und im VS


Siehe auch:

Gespräch bei der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg
Der ganz gewöhnliche Imperialismus oder Wenn Syrien stirbt, dann stirbt die Welt
Eva und Markus Heizmann – interviewt von NRhZ (Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann)
NRhZ 681 vom 07.11.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25375

Online-Flyer Nr. 682  vom 14.11.2018

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