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Literatur
Eine schonungslose Analyse von Willy Wimmer
Steht Deutschland vor dem demokratischen Ruin?
Von Wolfgang Bittner
Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium und Vizepräsident der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Willy Wimmer, ist einer der erfahrensten und profiliertesten Beobachter der politischen Szene. In seinem Buch „Deutschland im Umbruch“ berichtet der Experte für Sicherheitspolitik und internationale Angelegenheit aus seiner dreiunddreißigjährigen Tätigkeit als Parlamentarier der CDU, und er liefert eine bestechende Analyse der heutigen Situation. Dass dies nicht ohne massive Kritik an der Aggressionspolitik des Westens, insbesondere der USA und der von ihr gesteuerten NATO gegenüber Russland möglich ist, liegt auf der Hand. Er schreibt dazu: „Seit dem Putsch in der Ukraine mit der Vertreibung des gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch ist im Westen insgesamt eine gefährliche Aggressivität gegenüber der Russischen Föderation und vornehmlich der Person Wladimir Putin zu beobachten.“
Die besondere Brisanz sieht Wimmer in dem Umstand, dass sich in den USA schon vor der Amtszeit von Präsident Barack Obama eine „parteiübergreifende Kriegskoalition“ herausgebildet hatte, die sich gegen alles richtet, „was sich der US-amerikanischen Hegemonialpolitik in den Weg stellte oder zu stellen drohte“. Als „Speerspitze“ dieser Konflikt- und Kriegspartei nennt er die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, und den republikanischen Senator John McCain.
Die Ukraine-Krise und die Auseinandersetzungen um die Krim sind nach Wimmer nur Teil eines weit größeren Konfliktstoffs, denn „die Region südlich der Russischen Föderation war schon lange das Ziel der Vereinigten Staaten“. Russland soll „deutlich geschwächt werden, damit amerikanische Interessen mit größter Durchschlagskraft durchgesetzt werden können“, und zwar unter Einbeziehung der Europäer, ob sie wollen oder nicht. Dazu habe der US-Vizepräsident Jo Biden in einer Harward-Rede triumphierend erklärt, den Europäern seien „die Arme auf den Rücken gedreht worden“, man habe sie „am Haken“.
Demgegenüber sei Donald Trump, der nicht dem republikanischen Parteiestablishment angehört, ursprünglich nicht auf Krieg und Dauerkonflikte gegen Russland aus gewesen. Vielmehr habe er sich bei seiner Amtseinführung am 20. Januar 2017 für Deeskalation ausgesprochen, seinen Amtsvorgängern in scharfen Sätzen Unvermögen vorgeworfen und sie für den desolaten innerstaatlichen Zustand der USA verantwortlich gemacht. Dafür habe sich das Establishment (der sogenannte „tiefe Staat“) wirkungsvoll gerächt, indem es in seine Personalentscheidungen eingriff und „eine russlandbezogene Kontaktsperre für Washington“ verhängte.
Trump sei unverzüglich „eingemauert“ und die Strategie gegenüber Russland nahezu bruchlos und sogar noch verstärkt mit dem Ziel weitergeführt worden, das Land zu destabilisieren. „Sollte es gelingen, die Russische Föderation in die Knie zu zwingen“, schreibt Wimmer, „wären die Vereinigten Staaten gleichsam am Ziel ihrer Träume. Der zur Übernahme reife russische Markt läge allein für sie, vorneweg für die Finanzindustrie, auf der Ladentheke, während die durch die Sanktionen praktischerweise gleich mit geschwächten Europäer das Nachsehen hätten und sich vonseiten der Russischen Föderation auch noch anhören müssten, sie hätten den langjährigen Vertragspartner schmählich im Stich gelassen.“ Wimmers Fazit für den Fall, dass sich die USA durchsetzen: „Russland stünde den Vereinigten Staaten offen wie ein Scheunentor.“
Fast beiläufig berichtet Wimmer von Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Militär, zum Beispiel mit dem Generalleutnant a.D. und kurzfristigen Nationalen Sicherheitsberater Michael T. Flynn. Er war Chef des Militärgeheimdienstes DIA und brachte ans Licht, dass der IS, die „Brandstifterorganisation im Nahen und Mittleren Osten“ (so Wimmer), auf amerikanische Initiative zurückgeht. Das sei allerdings nicht neu, meint der Autor. „Seit dem Aufkommen der Taliban Mitte der 90er-Jahre in Afghanistan haben wir im Westen mit Bedrohungen zu tun, die aus westlichen Bündnisreihen erschaffen worden waren. Hinzu kamen noch eine Reihe von Golfstaaten sowie die ‚Mutter allen Terrors‘, Saudi Arabien.“
Wie schon in den zuvor von Willy Wimmer erschienenen Büchern „Wiederkehr der Hasardeure“ (2014, Koautor Wolfgang Effenberger) und „Die Akte Moskau“ (2016) steckt der Autor auch in seinem neuen Werk einen größeren Rahmen ab. Bereits in seinem Vorwort schreibt er: „Die Soziale Marktwirtschaft, der Deutschland lange Zeit verpflichtet war, wurde als ‚dritter Weg‘ zwischen Kapitalismus und Kommunismus angesehen. Letzterer stand mit dem Zerfall der Sowjetunion auf verlorenem Posten, woraufhin Wallstreet und City of London keine Zeit verloren und das amerikanisch Wirtschaftsmodell ‚Shareholder Value‘ in Europa inthronisierten.“
Den Interessen amerikanischer Konzerne folgend
Damit wurde – so Wimmer – „alles umgestellt“. Deutschland sei seither kein Nationalstaat „mit starken demokratischen Strukturen“ mehr, sondern folge nun einer Ordnung, „die allein an den Interessen global agierender, zumeist amerikanischer Konzerne ausgerichtet“ sei. Das bedeute mit der von Angela Merkel eingeforderten „marktgerechten Demokratie“ sowie den Neuerungen des Maastrichter Vertrags das Ende „unseres auf Konsens ausgerichteten Staatswesens, die Beseitigung des sozialen und wirtschaftlichen Rückgrads Deutschlands“, und die Agenda 2010 sei der „passende Sargnagel“ dazu gewesen.
Hinzu komme, dass heute alles über Entscheidungen in der NATO und der EU laufe, „womit uns auch noch die letzten Reste militärischer Souveränität verloren gehen“. Somit sei es nicht mehr weit bis zum „militärischen Schengenraum“, einem „grenzenlosen Aufmarschgebiet für die NATO unter Befehlsgewalt der Vereinigten Staaten für den globalen Krieg – ohne jede Widerspruchsmöglichkeit der europäischen Staaten, welche offenbar als Bauernopfer angesehen werden“.
Das ist es, was dieses Buch so wertvoll macht: Weltpolitische Zusammenhänge werden schlagartig durchsichtig, aus lauter Mosaiksteinen setzt sich ein Bild zusammen. Ob es um den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan ging, den Eintritt Deutschlands in den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien oder um die „rote Linie“ zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, die 2000 auf der Konferenz in Bratislava festgeschrieben wurde – Willy Wimmer war dabei. Als Regierungsvertreter war er jahrzehntelang in der ganzen Welt unterwegs und führte Gespräche auf höchster Ebene. Sein Fundus an Erfahrungen und Wissen befähigt ihn – im Gegensatz zu den heute in Berlin agierenden Politikern – zu Prognosen in zentralen staatspolitischen Fragen.
So scheut Willy Wimmer sich nicht, immer wieder auf die konkrete Gefahr eines Krieges gegen Russland hinzuweisen. Diese Dramatik sei im Januar 2018 in einer Rede des britischen Generalstabschefs Nick Carter deutlich geworden, wovon man in Deutschland allerdings keine Notiz genommen habe. „Es ist offenkundig“, schreibt Wimmer, „dass Maßnahmen gegen die Russische Föderation eingeleitet werden sollten. Carter sprach von einem kommenden Krieg gegen Russland“. Die britische Premierministerin Theresa May habe den Kriminalfall in Salisbury zu massiven Beschuldigungen gegen Russland und Präsident Wladimir Putin genutzt, sie habe die Dreistigkeit besessen, ohne jeden Beweis den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Großbritannien zu behaupten und damit den Frieden auf dem Kontinent ernsthaft gefährdet.
Des Weiteren habe der langjährige Chef der NSA und der CIA, General a.D. Michal V. Hayden, im März 2018 in einem CNN-Interview gesagt, Amerika verfolge weltweite Interessen, wobei von Souveränität der Staaten oder vom Völkerrecht nicht die Rede gewesen sei. Die NATO habe seit dem Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien „als Ausdruck der amerikanischen Vormacht in Europa“ Fakten gesetzt, und diese Politik sei „ausschließlich“ verantwortlich für die heutige Kriegsgefahr in Europa. Wimmer ist der Überzeugung: „Die Kriegspolitik der USA überall auf der Welt muss als ein dramatischer zivilisatorischer Rückschritt gewertet werden, sie beschwört eine Situation herauf, die jederzeit einen globalen Krieg ermöglicht.“ An einem solchen Krieg wäre Deutschland nach Lage der Dinge entgegen den Bestimmungen des Artikels 26 Grundgesetz, wonach Angriffskriege verboten sind, beteiligt.
Über die Lage in den Medien beiderseits des Atlantik schreibt Wimmer: „Seit dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien setzte die NATO über ihren Kommunikationsapparat alles daran, sich die europäische Medienwelt für ihre Zielvorgaben gewogen zu machen… Es reichte schon, sich die führenden deutschen Tageszeitungen anzusehen, um sogleich die hinter den wiederkehrenden Informationen stehende Identität festzustellen. Von abgewogener Berichterstattung oder Pluralismus in politischer oder gesellschaftlicher Hinsicht ist schon längst keine Rede mehr.“ Donald Trump sei dieser Zustand von vornherein klar gewesen, daher habe er die sozialen Medien genutzt, um seine Sicht der Dinge an die potenziellen Wähler und später an die amerikanische Bevölkerung sowie den Rest der Welt gelangen zu lassen.
Freundschaftliche Beziehung zu Russland zunichte gemacht
Willy Wimmer beklagt die von der US-amerikanischen Regierung inszenierten zielgerichteten Hetzkampagnen gegen Staatsoberhäupter wie Wiktor Janukowitsch, Slobodan Milosevic, Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi. Insbesondere wendet er sich gegen die von den deutschen Politikern und Medien „in Vasallentreue“ mitgetragenen Diffamierungen Russlands und seines Präsidenten Wladimir Putin: „Dabei hatten wir in Deutschland doch keinerlei Grund, uns mit dem großen Nachbarn anzulegen. Moskau war der Motor der deutschen Wiedervereinigung gewesen, niemand sonst.“ Es habe eine gutnachbarliche, ja freundschaftliche Beziehung bestanden, die zunichte gemacht worden sei.
Dabei sei aus dem Blick geraten, dass Europa im Falle eines Krieges gegen die Russische Föderation „die Rolle des Brückenkopfes“ zukomme. Deutschland sowie weite Teile Europas würden „nicht einmal die Vorstufe eines nuklearen Konflikts überleben“. Im Übrigen sei die Aussage des langjährigen Chefs der Denkfabrik „Stratfor“, George Friedman zu berücksichtigen, wonach die Vereinigten Staaten „seit der Gründung des Deutschen Reiches alles, aber auch alles unternommen haben, um eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland zu hintertreiben“. Der hochangesehene ehemalige sowjetische Botschafter in Deutschland, Valentin Falin, habe mehrfach auf Konzepte der USA aufmerksam gemacht, die „einem Machtentzug Russlands dienen sollen“. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg sei geplant worden, „alles daran zu setzen, dass das Land in Einzelstaaten zerfällt“.
Am Ende seines Buches versammelt der Autor wesentliche Dokumente zur Zeitgeschichte, und er ruft nicht ohne Grund den Amtseid nach Artikel 56 des Grundgesetzes in Erinnerung, den der Bundespräsident, der Bundeskanzler und die Bundesminister bei ihrem Amtseintritt zu leisten haben: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Die Diskrepanz zwischen Auftrag und Realität ist unübersehbar.
„Was ist zu tun?“, fragt Wimmer gegen Ende des Buches. Seine Antwort: „Was hindert uns, zu einer Entwicklung der Europäischen Union beizutragen, in der die Nation als Grundlage des demokratischen Staates konstitutiver Bestandteil sein muss? Was hindert uns daran, eine militärische Zusammenarbeit der EU-Länder an den rechtlichen und tatsächlichen Standards der ehemaligen Westeuropäischen Union auszurichten und damit Angriffskriege auszuschließen?“ Und was hindert uns, die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO daran zu binden, wofür der Bundestag einst sein Einverständnis gab: dass sie in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen allein der Verteidigung dient?“
Selbst wenn man nicht mit allen Auffassungen und Folgerungen des Autors einverstanden sein sollte, so ist doch eines festzustellen: Willy Wimmer hat eine überaus bedeutende Leistung vollbracht, denn insgesamt gesehen entsteht ein Panorama heutiger Politik mit vielen Rückblicken und Einsichten hinter die Kulissen des Tagesgeschehens. Dazu gehören nicht nur diese umfassenden Erfahrungen und Kenntnisse, über die er souverän und mit einer erstaunlichen Abgeklärtheit verfügt, dazu gehört heutzutage auch Mut. Dafür ist ihm zu danken.
Willy Wimmer, Deutschland im Umbruch. Vom Diskurs zum Konkurs – eine Republik wird abgewickelt
Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2018, 280 S., 40 Abb., geb., 22,90 Euro.
Erstveröffentlichung bei NachDenkSeiten am 7.5.2018
Online-Flyer Nr. 659 vom 16.05.2018
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Literatur
Eine schonungslose Analyse von Willy Wimmer
Steht Deutschland vor dem demokratischen Ruin?
Von Wolfgang Bittner
Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium und Vizepräsident der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Willy Wimmer, ist einer der erfahrensten und profiliertesten Beobachter der politischen Szene. In seinem Buch „Deutschland im Umbruch“ berichtet der Experte für Sicherheitspolitik und internationale Angelegenheit aus seiner dreiunddreißigjährigen Tätigkeit als Parlamentarier der CDU, und er liefert eine bestechende Analyse der heutigen Situation. Dass dies nicht ohne massive Kritik an der Aggressionspolitik des Westens, insbesondere der USA und der von ihr gesteuerten NATO gegenüber Russland möglich ist, liegt auf der Hand. Er schreibt dazu: „Seit dem Putsch in der Ukraine mit der Vertreibung des gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch ist im Westen insgesamt eine gefährliche Aggressivität gegenüber der Russischen Föderation und vornehmlich der Person Wladimir Putin zu beobachten.“
Die besondere Brisanz sieht Wimmer in dem Umstand, dass sich in den USA schon vor der Amtszeit von Präsident Barack Obama eine „parteiübergreifende Kriegskoalition“ herausgebildet hatte, die sich gegen alles richtet, „was sich der US-amerikanischen Hegemonialpolitik in den Weg stellte oder zu stellen drohte“. Als „Speerspitze“ dieser Konflikt- und Kriegspartei nennt er die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, und den republikanischen Senator John McCain.
Die Ukraine-Krise und die Auseinandersetzungen um die Krim sind nach Wimmer nur Teil eines weit größeren Konfliktstoffs, denn „die Region südlich der Russischen Föderation war schon lange das Ziel der Vereinigten Staaten“. Russland soll „deutlich geschwächt werden, damit amerikanische Interessen mit größter Durchschlagskraft durchgesetzt werden können“, und zwar unter Einbeziehung der Europäer, ob sie wollen oder nicht. Dazu habe der US-Vizepräsident Jo Biden in einer Harward-Rede triumphierend erklärt, den Europäern seien „die Arme auf den Rücken gedreht worden“, man habe sie „am Haken“.
Demgegenüber sei Donald Trump, der nicht dem republikanischen Parteiestablishment angehört, ursprünglich nicht auf Krieg und Dauerkonflikte gegen Russland aus gewesen. Vielmehr habe er sich bei seiner Amtseinführung am 20. Januar 2017 für Deeskalation ausgesprochen, seinen Amtsvorgängern in scharfen Sätzen Unvermögen vorgeworfen und sie für den desolaten innerstaatlichen Zustand der USA verantwortlich gemacht. Dafür habe sich das Establishment (der sogenannte „tiefe Staat“) wirkungsvoll gerächt, indem es in seine Personalentscheidungen eingriff und „eine russlandbezogene Kontaktsperre für Washington“ verhängte.
Trump sei unverzüglich „eingemauert“ und die Strategie gegenüber Russland nahezu bruchlos und sogar noch verstärkt mit dem Ziel weitergeführt worden, das Land zu destabilisieren. „Sollte es gelingen, die Russische Föderation in die Knie zu zwingen“, schreibt Wimmer, „wären die Vereinigten Staaten gleichsam am Ziel ihrer Träume. Der zur Übernahme reife russische Markt läge allein für sie, vorneweg für die Finanzindustrie, auf der Ladentheke, während die durch die Sanktionen praktischerweise gleich mit geschwächten Europäer das Nachsehen hätten und sich vonseiten der Russischen Föderation auch noch anhören müssten, sie hätten den langjährigen Vertragspartner schmählich im Stich gelassen.“ Wimmers Fazit für den Fall, dass sich die USA durchsetzen: „Russland stünde den Vereinigten Staaten offen wie ein Scheunentor.“
Fast beiläufig berichtet Wimmer von Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Militär, zum Beispiel mit dem Generalleutnant a.D. und kurzfristigen Nationalen Sicherheitsberater Michael T. Flynn. Er war Chef des Militärgeheimdienstes DIA und brachte ans Licht, dass der IS, die „Brandstifterorganisation im Nahen und Mittleren Osten“ (so Wimmer), auf amerikanische Initiative zurückgeht. Das sei allerdings nicht neu, meint der Autor. „Seit dem Aufkommen der Taliban Mitte der 90er-Jahre in Afghanistan haben wir im Westen mit Bedrohungen zu tun, die aus westlichen Bündnisreihen erschaffen worden waren. Hinzu kamen noch eine Reihe von Golfstaaten sowie die ‚Mutter allen Terrors‘, Saudi Arabien.“
Wie schon in den zuvor von Willy Wimmer erschienenen Büchern „Wiederkehr der Hasardeure“ (2014, Koautor Wolfgang Effenberger) und „Die Akte Moskau“ (2016) steckt der Autor auch in seinem neuen Werk einen größeren Rahmen ab. Bereits in seinem Vorwort schreibt er: „Die Soziale Marktwirtschaft, der Deutschland lange Zeit verpflichtet war, wurde als ‚dritter Weg‘ zwischen Kapitalismus und Kommunismus angesehen. Letzterer stand mit dem Zerfall der Sowjetunion auf verlorenem Posten, woraufhin Wallstreet und City of London keine Zeit verloren und das amerikanisch Wirtschaftsmodell ‚Shareholder Value‘ in Europa inthronisierten.“
Den Interessen amerikanischer Konzerne folgend
Damit wurde – so Wimmer – „alles umgestellt“. Deutschland sei seither kein Nationalstaat „mit starken demokratischen Strukturen“ mehr, sondern folge nun einer Ordnung, „die allein an den Interessen global agierender, zumeist amerikanischer Konzerne ausgerichtet“ sei. Das bedeute mit der von Angela Merkel eingeforderten „marktgerechten Demokratie“ sowie den Neuerungen des Maastrichter Vertrags das Ende „unseres auf Konsens ausgerichteten Staatswesens, die Beseitigung des sozialen und wirtschaftlichen Rückgrads Deutschlands“, und die Agenda 2010 sei der „passende Sargnagel“ dazu gewesen.
Hinzu komme, dass heute alles über Entscheidungen in der NATO und der EU laufe, „womit uns auch noch die letzten Reste militärischer Souveränität verloren gehen“. Somit sei es nicht mehr weit bis zum „militärischen Schengenraum“, einem „grenzenlosen Aufmarschgebiet für die NATO unter Befehlsgewalt der Vereinigten Staaten für den globalen Krieg – ohne jede Widerspruchsmöglichkeit der europäischen Staaten, welche offenbar als Bauernopfer angesehen werden“.
Das ist es, was dieses Buch so wertvoll macht: Weltpolitische Zusammenhänge werden schlagartig durchsichtig, aus lauter Mosaiksteinen setzt sich ein Bild zusammen. Ob es um den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan ging, den Eintritt Deutschlands in den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien oder um die „rote Linie“ zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, die 2000 auf der Konferenz in Bratislava festgeschrieben wurde – Willy Wimmer war dabei. Als Regierungsvertreter war er jahrzehntelang in der ganzen Welt unterwegs und führte Gespräche auf höchster Ebene. Sein Fundus an Erfahrungen und Wissen befähigt ihn – im Gegensatz zu den heute in Berlin agierenden Politikern – zu Prognosen in zentralen staatspolitischen Fragen.
So scheut Willy Wimmer sich nicht, immer wieder auf die konkrete Gefahr eines Krieges gegen Russland hinzuweisen. Diese Dramatik sei im Januar 2018 in einer Rede des britischen Generalstabschefs Nick Carter deutlich geworden, wovon man in Deutschland allerdings keine Notiz genommen habe. „Es ist offenkundig“, schreibt Wimmer, „dass Maßnahmen gegen die Russische Föderation eingeleitet werden sollten. Carter sprach von einem kommenden Krieg gegen Russland“. Die britische Premierministerin Theresa May habe den Kriminalfall in Salisbury zu massiven Beschuldigungen gegen Russland und Präsident Wladimir Putin genutzt, sie habe die Dreistigkeit besessen, ohne jeden Beweis den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Großbritannien zu behaupten und damit den Frieden auf dem Kontinent ernsthaft gefährdet.
Des Weiteren habe der langjährige Chef der NSA und der CIA, General a.D. Michal V. Hayden, im März 2018 in einem CNN-Interview gesagt, Amerika verfolge weltweite Interessen, wobei von Souveränität der Staaten oder vom Völkerrecht nicht die Rede gewesen sei. Die NATO habe seit dem Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien „als Ausdruck der amerikanischen Vormacht in Europa“ Fakten gesetzt, und diese Politik sei „ausschließlich“ verantwortlich für die heutige Kriegsgefahr in Europa. Wimmer ist der Überzeugung: „Die Kriegspolitik der USA überall auf der Welt muss als ein dramatischer zivilisatorischer Rückschritt gewertet werden, sie beschwört eine Situation herauf, die jederzeit einen globalen Krieg ermöglicht.“ An einem solchen Krieg wäre Deutschland nach Lage der Dinge entgegen den Bestimmungen des Artikels 26 Grundgesetz, wonach Angriffskriege verboten sind, beteiligt.
Über die Lage in den Medien beiderseits des Atlantik schreibt Wimmer: „Seit dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien setzte die NATO über ihren Kommunikationsapparat alles daran, sich die europäische Medienwelt für ihre Zielvorgaben gewogen zu machen… Es reichte schon, sich die führenden deutschen Tageszeitungen anzusehen, um sogleich die hinter den wiederkehrenden Informationen stehende Identität festzustellen. Von abgewogener Berichterstattung oder Pluralismus in politischer oder gesellschaftlicher Hinsicht ist schon längst keine Rede mehr.“ Donald Trump sei dieser Zustand von vornherein klar gewesen, daher habe er die sozialen Medien genutzt, um seine Sicht der Dinge an die potenziellen Wähler und später an die amerikanische Bevölkerung sowie den Rest der Welt gelangen zu lassen.
Freundschaftliche Beziehung zu Russland zunichte gemacht
Willy Wimmer beklagt die von der US-amerikanischen Regierung inszenierten zielgerichteten Hetzkampagnen gegen Staatsoberhäupter wie Wiktor Janukowitsch, Slobodan Milosevic, Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi. Insbesondere wendet er sich gegen die von den deutschen Politikern und Medien „in Vasallentreue“ mitgetragenen Diffamierungen Russlands und seines Präsidenten Wladimir Putin: „Dabei hatten wir in Deutschland doch keinerlei Grund, uns mit dem großen Nachbarn anzulegen. Moskau war der Motor der deutschen Wiedervereinigung gewesen, niemand sonst.“ Es habe eine gutnachbarliche, ja freundschaftliche Beziehung bestanden, die zunichte gemacht worden sei.
Dabei sei aus dem Blick geraten, dass Europa im Falle eines Krieges gegen die Russische Föderation „die Rolle des Brückenkopfes“ zukomme. Deutschland sowie weite Teile Europas würden „nicht einmal die Vorstufe eines nuklearen Konflikts überleben“. Im Übrigen sei die Aussage des langjährigen Chefs der Denkfabrik „Stratfor“, George Friedman zu berücksichtigen, wonach die Vereinigten Staaten „seit der Gründung des Deutschen Reiches alles, aber auch alles unternommen haben, um eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland zu hintertreiben“. Der hochangesehene ehemalige sowjetische Botschafter in Deutschland, Valentin Falin, habe mehrfach auf Konzepte der USA aufmerksam gemacht, die „einem Machtentzug Russlands dienen sollen“. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg sei geplant worden, „alles daran zu setzen, dass das Land in Einzelstaaten zerfällt“.
Am Ende seines Buches versammelt der Autor wesentliche Dokumente zur Zeitgeschichte, und er ruft nicht ohne Grund den Amtseid nach Artikel 56 des Grundgesetzes in Erinnerung, den der Bundespräsident, der Bundeskanzler und die Bundesminister bei ihrem Amtseintritt zu leisten haben: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Die Diskrepanz zwischen Auftrag und Realität ist unübersehbar.
„Was ist zu tun?“, fragt Wimmer gegen Ende des Buches. Seine Antwort: „Was hindert uns, zu einer Entwicklung der Europäischen Union beizutragen, in der die Nation als Grundlage des demokratischen Staates konstitutiver Bestandteil sein muss? Was hindert uns daran, eine militärische Zusammenarbeit der EU-Länder an den rechtlichen und tatsächlichen Standards der ehemaligen Westeuropäischen Union auszurichten und damit Angriffskriege auszuschließen?“ Und was hindert uns, die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO daran zu binden, wofür der Bundestag einst sein Einverständnis gab: dass sie in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen allein der Verteidigung dient?“
Selbst wenn man nicht mit allen Auffassungen und Folgerungen des Autors einverstanden sein sollte, so ist doch eines festzustellen: Willy Wimmer hat eine überaus bedeutende Leistung vollbracht, denn insgesamt gesehen entsteht ein Panorama heutiger Politik mit vielen Rückblicken und Einsichten hinter die Kulissen des Tagesgeschehens. Dazu gehören nicht nur diese umfassenden Erfahrungen und Kenntnisse, über die er souverän und mit einer erstaunlichen Abgeklärtheit verfügt, dazu gehört heutzutage auch Mut. Dafür ist ihm zu danken.
Willy Wimmer, Deutschland im Umbruch. Vom Diskurs zum Konkurs – eine Republik wird abgewickelt
Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2018, 280 S., 40 Abb., geb., 22,90 Euro.
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