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Kultur und Wissen
Heimat – Reaktionäre Ideologie oder sozialistische Zukunft
Der Ort der Geborgenheit
Von Rudolph Bauer
Der marxistische Philosoph Ernst Bloch sprach vom Kommunismus als vom „Umbau der Welt zur Heimat“. Ein solch emanzipatorisches Verständnis von Heimat ist bei einem Minister der deutschen Bundesregierung nicht zu erwarten. Der Heimatbegriff, der dem künftigen Ressortzuschnitt des Innenministeriums zu Grunde liegt, dient reaktionären Zwecken. Er knüpft an einem Heimatverständnis an, welches einer vaterländisch-nationalistischen Volkstumsideologie entspricht und ursprünglich von der bürgerlichen Klasse und ihren Ideologen den Frauen und Männern der Arbeiterklasse gepredigt worden ist.
Im Verlauf der Industrialisierung und der Entstehung des Kapitalismus entstand die Klasse der Proletarier. Diese mussten ihre ursprünglichen Heimatorte verlassen und in die Fremde der Städte auswandern. Teils angelockt („Stadtluft macht frei"), teils der Not gehorchend, mussten sie in den Fabriken, im Transportwesen, im Verkehrswege- und Bergbau arbeiten, um ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen und nicht zu verhungern.
„Der Proletarier ist eigentumslos“, heißt es im Kommunistischen Manifest. Und weiter: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“ Die Lohnarbeiter mussten ihre Heimat, wo sie geboren waren, verlassen. Sie wurden heimatlos und waren vogelfrei.
An Stelle der Heimat, welche die Arbeiter und Arbeiterinnen verlassen mussten, bot ihnen die Bourgeoisie „Herbergen zur Heimat“. Die „wandernden Brüder von der Landstraße“, wie der Bielefelder Pastor Friedrich von Bodelschwingh sie nannte, wurden in „Kolonien“ aufgenommen, um sesshaft und zur Arbeit erzogen zu werden. Es wurden „Pilgerhütten“ und „Pilgerstübchen“ eingerichtet. Ein Jahr nach der Revolution von 1848 veröffentlichte der Gründer der protestantischen „Inneren Mission“ (heute: Diakonisches Werk), Johann Hinrich Wichern aus Hamburg, seine „Denkschrift an die deutsche Nation“.
Auf „christlich-germanischem Fundament“
Darin hieß es mit betonter Frontstellung gegen die Arbeiterbewegung: „Die innere Mission hat sich klar zu machen, wie sie gegenüber diesen communistischen Instituten und neben den vielfach tief verpesteten Herbergen die sozialeAufgabe für die wandernden Gesellen zu lösen hat. Uns dünkt, sie hat in ihren Anstalten für Gesellen auf dem großen, umfassenden, ächt-kirchlichen, christlich-germanischen Fundament einen Ersatz für die in der Fremde entbehrte Häuslichkeit, also die Herberge oder den ‚Verkehr‘, und damit zugleich die Mittel zur geistigen und technischen Fortbildung im Gewerk zu bieten.“
Beraten durch Wichern, wurde die erste „Herberge zur Heimat“ 1854 durch den Bonner Rechtsprofessor Clemens Perthes gegründet. Bei der Gründungsveranstaltung anwesend war auch der „Nationalschriftsteller“ Ernst Moritz Arndt (Titel seiner Werke: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ und „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“). Die Herberge, so verkündete Perthes in der Eröffnungsansprache, werde „alles von sich fernhalten, was den jungen, ohne Familienhalt in der Welt umherstreifenden Mann zur leiblichen und geistigen Verwilderung verführen könnte“.
Davon, dass der Kapitalismus in seiner Profitgier die Menschen entwurzelte, war nicht die Rede. Die Auswirkungen des ökonomischen Zwangs wurden zu einer sozialen Aufgabe umgedeutet sowie durch Missionierung und Mildtätigkeit erwidert. Auf die Verelendung des Proletariats antworteten die Ideologen der Bourgeoisie mit Vereinsgründungen, Almosen und Disziplinierung.
Binnen sieben Jahren entstanden von da an rund 200 „Herbergen zur Heimat“. Pastor von Bodelschwingh, als Kind Spielgefährte des preußischen Prinzen, gründete mehrere „Arbeitskolonien“: 1882 „Wilhelmsdorf“, 1889 die „Moorkolonie Freistatt“, 1905 die „Hoffnungstaler Anstalten“, bald darauf auch noch „Lobetal“ und „Gnadental“. Insgesamt entstanden damals 33 ländliche und städtische „Arbeitskolonien“.
Untergang „in Elend oder Sünde“
Zeitgleich wurden in den 1890er Jahren die ersten „Bahnhofsmissionen“ und der „Verband evangelischer deutscher Bahnhofsmissionen“ gegründet. Zielgruppe waren vor allem „Töchter unseres Volkes“, die mit den Eisenbahnen als Verkehrsmittel vom Land in die großen Städte kamen, um in den Bürger- und Beamtenhaushalten eine Anstellung als Dienstmädchen zu finden. „Wie viele junge Mädchen sind“, so klagte der Verband, „in den großen Städten oder gar im Ausland dadurch in Elend oder Sünde untergegangen, dass sie in der Heimat niemand in sachverständiger Weise beraten hat.“
Abseits von Industriegebieten und Großstädten entstanden Organisationen der so genannten „Wohlfahrtsund Heimatpflege“. Diese Vereine sollten „die schroffen Klassengegensätze mildern, zwischen Arbeitgeber und Arbeiter ein harmonisches Verhältnis herbeiführen helfen und alles in allem: die Liebe zur Heimat und dem heimischen Volkstum wecken und pflegen“, so ihr Selbstverständnis.
Das Wort Heimat wurde zunehmend gleichbedeutend verwendet wie die Wörter Landschaft, Volkstum und Vergangenheit. Die Kultur der Heimat und der vergangenen, „guten alten Zeit“ wurde hochstilisiert zur völkischen Traditionspflege. Die Heimat wurde zur Grundlage von vaterländisch-nationalistischer Volkstumsideologie und -gesinnung. Letztere überdauerte unbeschadet den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, die Nazidiktatur und den Zweiten Weltkrieg. Sie kehrt gegenwärtig wieder in der Neonazi-Szene, bei Pegida, den Identitären und der AfD, nicht zuletzt als das „neue“ Heimatressort des Ministeriums für Inneres, zurück.
Gegen die „bolschewistische Gefahr“
Noch in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs diente der vaterländisch-nationale Heimatbegriff für Propagandazwecke. Neben der Frontdienst-Werbung entstand die „Heimatdienst“-Propaganda. Zu diesem Zweck wurde am 1. März 1918 die „Reichszentrale für Heimatdienst“ gegründet. Sie diente laut Gründungserlass als „amtliches Organ der Reichsregierung für staatspolitische Aufklärung und Erziehung“.
Im katholischen „Staatslexikon“ von 1927 sind die Geschichte und antisozialistische Ausrichtung der Reichszentrale kurz umrissen: „Nach dem Zusammenbruch oblag ihr die Propaganda für die Nationalversammlung und den demokratischen Gedanken gegenüber der bolschewistischen Gefahr. Eine ähnliche nationale Aufgabe fiel ihr in der Zeit des Ruhrkampfs zu.“
In einer Entschließung am 7. Juli 1921 hat der Reichstag die Aufgaben für den „Heimatdienst“ wie folgt umschrieben: „Die Reichszentrale für Heimatdienst dient der sachlichen Aufklärung über außenpolitische, wirtschaftspolitische, soziale und kulturelle Aufgaben, und zwar nicht im Geist einzelner Parteien, sondern vom Standpunkt des Staatsganzen.“
Das „Gesetz des Führertums“
In der Jubiläumsschrift zum zehnjährigen Bestehen der Reichszentrale entpuppte sich die staatspolitische Linie des „Heimatdienstes“ als führer-, volks- und staatspädagogisch im Stil der späteren NS-Propaganda. Der damalige Reichsinnenminister Karl Severing von der SPD (!) hatte für die Schrift einen Beitrag verfasst, der mit „Führerauslese und Führerbildung“ betitelt war.
Wörtlich lesen wir aus der Feder des sozialdemokratischen Innenministers: „Es gehört zum Gesetz des Führertums, dass es um einige Pferdelängen voran steht. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine gewisse Distanz zu den übrigen Volksgenossen. … Der moderne Führer des Volksstaats braucht gleichermaßen Autorität und Vertrauen. … Das Vertrauen soll er nicht durch seine Nachgiebigkeit erhalten, sondern durch Festhalten an dem als richtig Erkannten, durch die Staatsgesinnung und das soziale Selbstbewusstsein der Volksgemeinschaft.“
Auch der national-konservative Philosoph und Pädagogik-Professor Eduard Spranger war in der Festschrift von 1931 mit einem Aufsatz vertreten. Darin führte er aus, „dass Disziplin, Dienst, Einfügung in das Ganze das zentrale Geheimnis der Staatserziehung ist“. An diese Art von Staatsbürgererziehung durch den „Heimatdienst“ konnte die Nazidiktatur problemlos anknüpfen und darauf aufbauen.
Eduard Spranger veröffentlichte nach der Nazi-Niederlage erneut wieder „Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung“. Erschienen ist Sprangers Text in Heft 16 einer Schriftenreihe der bundesrepublikanischen Nachfolgeorganisation der „Reichszentrale“: bei der „Bundeszentrale für Heimatdienst“ (später umbenannt in die heutige „Bundeszentrale für politische Bildung“).
Ernst Blochs „Umbau der Welt zur Heimat“
Vor dem Hintergrund der reaktionären und völkisch-nationalistisch aufgeladenen Bedeutung des Heimatbegriffs verwundert die Bloch'sche Utopie vom „Umbau der Welt zur Heimat“. Auch in seinem Werk „Prinzip Hoffnung“ von 1959 spricht Ernst Bloch von der Heimat als von etwas Positivem – von einer neuen Gesellschaft unter den Voraussetzungen des Sozialismus. Bloch hebt hervor, dass „die Wurzel der Geschichte … der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch (ist). Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Das Bloch'sche (linke) Heimatverständnis hat seine Wurzeln im ursprünglichen Sinn des Heimatbegriffs, wie er im 15. und 16. Jahrhundert existierte und für die Menschen von lebenswichtig materieller Bedeutung war: Heimat als Ort existenzieller Sicherheit und Geborgenheit. Mit Heimat verband sich in jener Zeit ein realer Kern lebensweltlichen Seins der Armen, die nicht durch Grundbesitz oder die Ausübung eines Amtes oder Handwerks abgesichert waren: die Gewährung von Unterstützung und Wohnsitz durch diejenige Gemeinde, in der jemand geboren und aufgewachsen ist.
Heimat war, in juristischer Sprache, „armenrechtlicher Verweisungsort“. Darunter wurden sowohl die Pflichten der Gemeinde gegenüber ihren mittellosen Bewohnern verstanden, als auch entsprechend deren Rechte gegenüber der Gemeinde. Die Stadt- und Landgemeinden waren verpflichtet, ihre Armen zu unterstützen und ihnen den Aufenthalt in der Gemeinde zu gestatten, sie nicht auszuweisen und bei Rückkehr nach Abwesenheit nicht abzuweisen.
Für die Armen entstand aus der Hilfeverpflichtung der Gemeinden das so genannte Heimatrecht: die Anwartschaft auf Unterstützung und Wohnrecht. Der Rechtshistoriker Hermann Rehm betont den ursprünglich materiellen Kern von Heimat: „Die Gemeinde aber, gegen welche der Arme Anwartschaft auf Unterstützung hatte und aus welcher er wegen Armut und damit zusammenhängender Sicherheitsgefährlichkeit nicht ausgewiesen werden durfte, war die Heimat der Armen, in ihr hatte er sein Heimatrecht.“
„Heimat“ als kommunistisches Projekt der Zukunft
So gesehen verbindet sich mit dem Begriff Heimat nicht nur eine reaktionäre Bedeutung, wie sie von den Herrschenden und ihren Ideologen im Sinne rechten Gedankenguts gebraucht wird. Heimat kann auch Teil eines Programms sein, das fortschrittlich und emanzipatorisch auf die grundlegende Veränderung der herrschenden kapitalistischen und imperialistischen Verhältnisse abzielt.
Es liegt an den linken Kräften, der reaktionären, rückwärtsgewandten Heimatersatz-Ideologie der Herrschenden und ihres völkischfaschistischen Fußvolks ein eigenes, fortschrittliches Heimatverständnis dialektisch entgegenzusetzen: einen Heimatbegriff, der auf eine sozialistische Perspektive hin ausgerichtet ist. Die kommunistische Zukunft der Freien und Gleichen, auf die der emanzipatorisch-fortschrittliche Heimatbegriff verweist, muss programmatisch klar erkennbar sein. Nur so ist es möglich, den spalterischen Querfrontvorwürfen in den eigenen und gegnerischen Reihen entschieden Paroli zu bieten. Aus Furcht vor Denunziation den Begriff Heimat ausschließlich und kampflos den Herrschenden und Reaktionären zu überlassen, ist undialektisch.
Mir Dank übernommen aus der sozialistischen Wochenzeitung "Unsere Zeit", Ausgabe vom 16. März 2018
Online-Flyer Nr. 653 vom 04.04.2018
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Kultur und Wissen
Heimat – Reaktionäre Ideologie oder sozialistische Zukunft
Der Ort der Geborgenheit
Von Rudolph Bauer
Der marxistische Philosoph Ernst Bloch sprach vom Kommunismus als vom „Umbau der Welt zur Heimat“. Ein solch emanzipatorisches Verständnis von Heimat ist bei einem Minister der deutschen Bundesregierung nicht zu erwarten. Der Heimatbegriff, der dem künftigen Ressortzuschnitt des Innenministeriums zu Grunde liegt, dient reaktionären Zwecken. Er knüpft an einem Heimatverständnis an, welches einer vaterländisch-nationalistischen Volkstumsideologie entspricht und ursprünglich von der bürgerlichen Klasse und ihren Ideologen den Frauen und Männern der Arbeiterklasse gepredigt worden ist.
Im Verlauf der Industrialisierung und der Entstehung des Kapitalismus entstand die Klasse der Proletarier. Diese mussten ihre ursprünglichen Heimatorte verlassen und in die Fremde der Städte auswandern. Teils angelockt („Stadtluft macht frei"), teils der Not gehorchend, mussten sie in den Fabriken, im Transportwesen, im Verkehrswege- und Bergbau arbeiten, um ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen und nicht zu verhungern.
„Der Proletarier ist eigentumslos“, heißt es im Kommunistischen Manifest. Und weiter: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“ Die Lohnarbeiter mussten ihre Heimat, wo sie geboren waren, verlassen. Sie wurden heimatlos und waren vogelfrei.
An Stelle der Heimat, welche die Arbeiter und Arbeiterinnen verlassen mussten, bot ihnen die Bourgeoisie „Herbergen zur Heimat“. Die „wandernden Brüder von der Landstraße“, wie der Bielefelder Pastor Friedrich von Bodelschwingh sie nannte, wurden in „Kolonien“ aufgenommen, um sesshaft und zur Arbeit erzogen zu werden. Es wurden „Pilgerhütten“ und „Pilgerstübchen“ eingerichtet. Ein Jahr nach der Revolution von 1848 veröffentlichte der Gründer der protestantischen „Inneren Mission“ (heute: Diakonisches Werk), Johann Hinrich Wichern aus Hamburg, seine „Denkschrift an die deutsche Nation“.
Auf „christlich-germanischem Fundament“
Darin hieß es mit betonter Frontstellung gegen die Arbeiterbewegung: „Die innere Mission hat sich klar zu machen, wie sie gegenüber diesen communistischen Instituten und neben den vielfach tief verpesteten Herbergen die sozialeAufgabe für die wandernden Gesellen zu lösen hat. Uns dünkt, sie hat in ihren Anstalten für Gesellen auf dem großen, umfassenden, ächt-kirchlichen, christlich-germanischen Fundament einen Ersatz für die in der Fremde entbehrte Häuslichkeit, also die Herberge oder den ‚Verkehr‘, und damit zugleich die Mittel zur geistigen und technischen Fortbildung im Gewerk zu bieten.“
Beraten durch Wichern, wurde die erste „Herberge zur Heimat“ 1854 durch den Bonner Rechtsprofessor Clemens Perthes gegründet. Bei der Gründungsveranstaltung anwesend war auch der „Nationalschriftsteller“ Ernst Moritz Arndt (Titel seiner Werke: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ und „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“). Die Herberge, so verkündete Perthes in der Eröffnungsansprache, werde „alles von sich fernhalten, was den jungen, ohne Familienhalt in der Welt umherstreifenden Mann zur leiblichen und geistigen Verwilderung verführen könnte“.
Davon, dass der Kapitalismus in seiner Profitgier die Menschen entwurzelte, war nicht die Rede. Die Auswirkungen des ökonomischen Zwangs wurden zu einer sozialen Aufgabe umgedeutet sowie durch Missionierung und Mildtätigkeit erwidert. Auf die Verelendung des Proletariats antworteten die Ideologen der Bourgeoisie mit Vereinsgründungen, Almosen und Disziplinierung.
Binnen sieben Jahren entstanden von da an rund 200 „Herbergen zur Heimat“. Pastor von Bodelschwingh, als Kind Spielgefährte des preußischen Prinzen, gründete mehrere „Arbeitskolonien“: 1882 „Wilhelmsdorf“, 1889 die „Moorkolonie Freistatt“, 1905 die „Hoffnungstaler Anstalten“, bald darauf auch noch „Lobetal“ und „Gnadental“. Insgesamt entstanden damals 33 ländliche und städtische „Arbeitskolonien“.
Untergang „in Elend oder Sünde“
Zeitgleich wurden in den 1890er Jahren die ersten „Bahnhofsmissionen“ und der „Verband evangelischer deutscher Bahnhofsmissionen“ gegründet. Zielgruppe waren vor allem „Töchter unseres Volkes“, die mit den Eisenbahnen als Verkehrsmittel vom Land in die großen Städte kamen, um in den Bürger- und Beamtenhaushalten eine Anstellung als Dienstmädchen zu finden. „Wie viele junge Mädchen sind“, so klagte der Verband, „in den großen Städten oder gar im Ausland dadurch in Elend oder Sünde untergegangen, dass sie in der Heimat niemand in sachverständiger Weise beraten hat.“
Abseits von Industriegebieten und Großstädten entstanden Organisationen der so genannten „Wohlfahrtsund Heimatpflege“. Diese Vereine sollten „die schroffen Klassengegensätze mildern, zwischen Arbeitgeber und Arbeiter ein harmonisches Verhältnis herbeiführen helfen und alles in allem: die Liebe zur Heimat und dem heimischen Volkstum wecken und pflegen“, so ihr Selbstverständnis.
Das Wort Heimat wurde zunehmend gleichbedeutend verwendet wie die Wörter Landschaft, Volkstum und Vergangenheit. Die Kultur der Heimat und der vergangenen, „guten alten Zeit“ wurde hochstilisiert zur völkischen Traditionspflege. Die Heimat wurde zur Grundlage von vaterländisch-nationalistischer Volkstumsideologie und -gesinnung. Letztere überdauerte unbeschadet den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, die Nazidiktatur und den Zweiten Weltkrieg. Sie kehrt gegenwärtig wieder in der Neonazi-Szene, bei Pegida, den Identitären und der AfD, nicht zuletzt als das „neue“ Heimatressort des Ministeriums für Inneres, zurück.
Gegen die „bolschewistische Gefahr“
Noch in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs diente der vaterländisch-nationale Heimatbegriff für Propagandazwecke. Neben der Frontdienst-Werbung entstand die „Heimatdienst“-Propaganda. Zu diesem Zweck wurde am 1. März 1918 die „Reichszentrale für Heimatdienst“ gegründet. Sie diente laut Gründungserlass als „amtliches Organ der Reichsregierung für staatspolitische Aufklärung und Erziehung“.
Im katholischen „Staatslexikon“ von 1927 sind die Geschichte und antisozialistische Ausrichtung der Reichszentrale kurz umrissen: „Nach dem Zusammenbruch oblag ihr die Propaganda für die Nationalversammlung und den demokratischen Gedanken gegenüber der bolschewistischen Gefahr. Eine ähnliche nationale Aufgabe fiel ihr in der Zeit des Ruhrkampfs zu.“
In einer Entschließung am 7. Juli 1921 hat der Reichstag die Aufgaben für den „Heimatdienst“ wie folgt umschrieben: „Die Reichszentrale für Heimatdienst dient der sachlichen Aufklärung über außenpolitische, wirtschaftspolitische, soziale und kulturelle Aufgaben, und zwar nicht im Geist einzelner Parteien, sondern vom Standpunkt des Staatsganzen.“
Das „Gesetz des Führertums“
In der Jubiläumsschrift zum zehnjährigen Bestehen der Reichszentrale entpuppte sich die staatspolitische Linie des „Heimatdienstes“ als führer-, volks- und staatspädagogisch im Stil der späteren NS-Propaganda. Der damalige Reichsinnenminister Karl Severing von der SPD (!) hatte für die Schrift einen Beitrag verfasst, der mit „Führerauslese und Führerbildung“ betitelt war.
Wörtlich lesen wir aus der Feder des sozialdemokratischen Innenministers: „Es gehört zum Gesetz des Führertums, dass es um einige Pferdelängen voran steht. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine gewisse Distanz zu den übrigen Volksgenossen. … Der moderne Führer des Volksstaats braucht gleichermaßen Autorität und Vertrauen. … Das Vertrauen soll er nicht durch seine Nachgiebigkeit erhalten, sondern durch Festhalten an dem als richtig Erkannten, durch die Staatsgesinnung und das soziale Selbstbewusstsein der Volksgemeinschaft.“
Auch der national-konservative Philosoph und Pädagogik-Professor Eduard Spranger war in der Festschrift von 1931 mit einem Aufsatz vertreten. Darin führte er aus, „dass Disziplin, Dienst, Einfügung in das Ganze das zentrale Geheimnis der Staatserziehung ist“. An diese Art von Staatsbürgererziehung durch den „Heimatdienst“ konnte die Nazidiktatur problemlos anknüpfen und darauf aufbauen.
Eduard Spranger veröffentlichte nach der Nazi-Niederlage erneut wieder „Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung“. Erschienen ist Sprangers Text in Heft 16 einer Schriftenreihe der bundesrepublikanischen Nachfolgeorganisation der „Reichszentrale“: bei der „Bundeszentrale für Heimatdienst“ (später umbenannt in die heutige „Bundeszentrale für politische Bildung“).
Ernst Blochs „Umbau der Welt zur Heimat“
Vor dem Hintergrund der reaktionären und völkisch-nationalistisch aufgeladenen Bedeutung des Heimatbegriffs verwundert die Bloch'sche Utopie vom „Umbau der Welt zur Heimat“. Auch in seinem Werk „Prinzip Hoffnung“ von 1959 spricht Ernst Bloch von der Heimat als von etwas Positivem – von einer neuen Gesellschaft unter den Voraussetzungen des Sozialismus. Bloch hebt hervor, dass „die Wurzel der Geschichte … der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch (ist). Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Das Bloch'sche (linke) Heimatverständnis hat seine Wurzeln im ursprünglichen Sinn des Heimatbegriffs, wie er im 15. und 16. Jahrhundert existierte und für die Menschen von lebenswichtig materieller Bedeutung war: Heimat als Ort existenzieller Sicherheit und Geborgenheit. Mit Heimat verband sich in jener Zeit ein realer Kern lebensweltlichen Seins der Armen, die nicht durch Grundbesitz oder die Ausübung eines Amtes oder Handwerks abgesichert waren: die Gewährung von Unterstützung und Wohnsitz durch diejenige Gemeinde, in der jemand geboren und aufgewachsen ist.
Heimat war, in juristischer Sprache, „armenrechtlicher Verweisungsort“. Darunter wurden sowohl die Pflichten der Gemeinde gegenüber ihren mittellosen Bewohnern verstanden, als auch entsprechend deren Rechte gegenüber der Gemeinde. Die Stadt- und Landgemeinden waren verpflichtet, ihre Armen zu unterstützen und ihnen den Aufenthalt in der Gemeinde zu gestatten, sie nicht auszuweisen und bei Rückkehr nach Abwesenheit nicht abzuweisen.
Für die Armen entstand aus der Hilfeverpflichtung der Gemeinden das so genannte Heimatrecht: die Anwartschaft auf Unterstützung und Wohnrecht. Der Rechtshistoriker Hermann Rehm betont den ursprünglich materiellen Kern von Heimat: „Die Gemeinde aber, gegen welche der Arme Anwartschaft auf Unterstützung hatte und aus welcher er wegen Armut und damit zusammenhängender Sicherheitsgefährlichkeit nicht ausgewiesen werden durfte, war die Heimat der Armen, in ihr hatte er sein Heimatrecht.“
„Heimat“ als kommunistisches Projekt der Zukunft
So gesehen verbindet sich mit dem Begriff Heimat nicht nur eine reaktionäre Bedeutung, wie sie von den Herrschenden und ihren Ideologen im Sinne rechten Gedankenguts gebraucht wird. Heimat kann auch Teil eines Programms sein, das fortschrittlich und emanzipatorisch auf die grundlegende Veränderung der herrschenden kapitalistischen und imperialistischen Verhältnisse abzielt.
Es liegt an den linken Kräften, der reaktionären, rückwärtsgewandten Heimatersatz-Ideologie der Herrschenden und ihres völkischfaschistischen Fußvolks ein eigenes, fortschrittliches Heimatverständnis dialektisch entgegenzusetzen: einen Heimatbegriff, der auf eine sozialistische Perspektive hin ausgerichtet ist. Die kommunistische Zukunft der Freien und Gleichen, auf die der emanzipatorisch-fortschrittliche Heimatbegriff verweist, muss programmatisch klar erkennbar sein. Nur so ist es möglich, den spalterischen Querfrontvorwürfen in den eigenen und gegnerischen Reihen entschieden Paroli zu bieten. Aus Furcht vor Denunziation den Begriff Heimat ausschließlich und kampflos den Herrschenden und Reaktionären zu überlassen, ist undialektisch.
Mir Dank übernommen aus der sozialistischen Wochenzeitung "Unsere Zeit", Ausgabe vom 16. März 2018
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