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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Gehobene Mittelschicht: Die wahrhaft herrschende Klasse
Garant der Ungleichheit
Von Harald Schauff

Geld bedeutet Macht, zweifelsohne. Deshalb sind die reichsten Leute der Welt, Milliardäre wie Bill Gates, Warren Buffett, die Aldi-Brüder oder diverse russische Oligarchen, noch lange nicht die mächtigsten. Auch wenn ihnen ihre Riesenvermögen erlauben, den einen oder anderen Hebel in Bewegung zu setzen. Mit den nächsten Etagen darunter auf der Vermögenspyramide, denen der Millionäre, verhält es sich ähnlich. Sie und die Milliardären bilden die vergoldete Spitze der Weltbevölkerung. Diese wächst immer höher und breiter. Weniger, weil sie immensen Druck auf die Politik ausübt, sondern vielmehr, weil sie von jenen Schichten, die genau das tun, still schweigend geduldet wird.

Diese Schichten, die gehobenen Mittelklassen, sind so etwas wie ihre Brückenpfeiler. Weltweit besetzen sie in den Gesellschaftsgefügen Schlüsselpositionen: Sei es in Ministerien, Ämtern, Behörden, Dienststellen, Informationsbüros, Krankenhäusern. Oder in Unternehmen, Kultureinrichtungen, Redaktionen und Hochschulen. Überall sitzen sie in Zwischenetagen, Abteilungen und Verwaltungen. Und das eher in leitender Funktion. Wie der Betrieb läuft, bestimmen maßgeblich sie. Ihre Situation ist wirtschaftlich gut, der Verdienst überdurchschnittlich und sie besitzen häufig Immobilien.

Funktion und Einfluss dieser umgangssprachlich auch als ‘Schimmelschicht’ bezeichneten Gesellschaftsklasse verdeutlicht eindrucksvoll das Beispiel der ‘upper middle class’ in den USA. Gegen ihre Interessen und Privilegien ist schwerlich Politik zu machen, wie der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard V. Reeves in seinen Büchern aufzeigt. Le monde diplomatique druckte daraus einen Auszug mit dem Titel ‘Chancen horten’ (Okt. 2017).

Der Text beginnt mit einem steuerpolitischen Fehlversuch von Barack Obama Anfang 2015. Der damalige US-Präsident wollte Steuervorteile streichen, von denen zu über 90 % Familien des obersten Einkommensviertels profitierten. Konkret ging es um das steuerbegünstigte Ansparen von Geld für die College-Ausbildung nach § 529 des Einkommenssteuergesetzes (529 College Saving Plans).

Dieses Privileg sollte entfallen, um mit den Mehreinnahmen die breite Bevölkerungsmasse steuerlich zu entlasten. Doch innerhalb der demokratischen Partei regte sich Widerstand. Dieser fand bei Nancy Pelosi, Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus, offenes Gehör. Sie überzeugte den Präsidenten, die Reform fallen zu lassen. Im Hintergrund spielte dabei eine Rolle, dass Pelosi einen wohlhabenden Wahlkreis mit hohem Bildungsstand vertrat. Offensichtlich befürchtete sie, die Steuerreform könne viele ihrer Wähler vergraulen.

Jene gehören mehrheitlich einer Gruppe an, die man laut einem Blog von Paul Waldman in der Washington Post nicht vergraulen dürfe: Der oberen Mittelschicht. Sie sei reich genug, um Einfluss auszuüben und zahlreich genug, um einen homogenen Wählerblock zu bilden.

Obamas geplatzte Steuerpläne machen Reeves zufolge die wirkliche Bruchlinie in der amerikanischen Gesellschaft sichtbar wie auf einem Röntgenbild: Die zwischen der oberen Mittelschicht, welche grob betrachtet das oberste Fünftel der amerikanischen Gesellschaft bildet, und dem großen Rest.

Diskussionen über Ungleichheit fixieren sich auf das oberste eine Prozent. So entsteht der Eindruck, die restlichen 99 % seien in einer mehr oder weniger gleich misslichen Lage. Oft scheinen die Leute unterhalb der Spitze sich besonders über jene ganz oben aufzuregen: Über ein Drittel der Teilnehmer der Occupy-Wall-Street- Demonstration am 1. Mai entstammten Haushalten mit mehr als 100.000 Dollar Jahreseinkommen. Der politische Rückhalt für den linken Flügel der Demokraten um Bernie Sanders kommt überwiegend aus der gehobenen Mittelschicht. Allerdings auch die Unterstützung für die rechte ‘Tea Party’-Fraktion der Republikaner. Die Fixierung auf die dünne Oberschicht lässt die Angehörigen der oberen Mittelschicht glauben, mit dem restlichen Amerika in einem Boot zu sitzen. Reeves stellt klar fest: Das stimmt nicht. Er bezieht sich selbst mit ein, schreibt von ‘wir’.

Für den Eindruck vieler US-Amerikaner, die obere Mittelschicht lasse alle anderen hängen, sieht er einen guten Grund: Sie tut es tatsächlich. Das einkommensstärkste Fünftel, Haushalte mit einem Jahreseinkommen von ungefähr 112.000 Dollar und darüber, sondert sich ab. Primär wirtschaftlich, wie an Kontoständen und Gehältern ablesbar. Doch auch bei Bildung, Familienstruktur, Gesundheit und Lebenserwartung, sogar beim staatsbürgerlichen Verhalten und den Alltag in der jeweiligen Nachbarschaft, zeigt sich die vertiefende Kluft zwischen den Klassen.

Der Erfolg des Milliardärs Trump erklärt sich laut Reeves dadurch, dass dieser die Kultur der Arbeiterklasse hochhielt, was seine Anhänger begeisterte. Diese haben kein Problem mit den Reichen, im Gegenteil, sie bewundern jene sogar. Als ihren Feind betrachten sie eher die Akademiker der gehobenen Mittelschicht, darunter: Journalisten, Bürokraten, Wissenschaftler, Manager. Eben Leute mit akademischen Abkürzungen hinter den Namen.

Reeves findet die Kritik an seiner Klasse in vielen Punkten zutreffend. Besonders in Hinsicht auf ihre verteidigten Privilegien. So hebt sie die Vorteile des Freihandels, des technischen Fortschritts und der Zuwanderung in der Gewissheit hervor, davon zu profitieren. Wegen ihres gut ausgebildeten ‘Humankapitals’ gelingt es ihr, sich in einer globalen Wirtschaft zu entfalten. In den Städten lebt sie geschützt in ihren eigenen Wohlstandsvierteln, die Unqualifizierten nicht zugänglich sind. Sie nimmt die knallharte Konkurrenz, die sich ungelernte Arbeiter und Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt liefern, billigend in Kauf. Sie lobt den Wettbewerb und den Nutzen des freien Marktes, ohne dessen Risiken ausgeliefert zu sein. Das erzeugt Wut in den übrigen Bevölkerungsschichten.

Sie stehen schlechter da, mit weitaus geringeren Chancen. Auch infolge der in den USA geringen sozialen Mobilität, die inzwischen Politiker und Wissenschaftler besorgt. Nirgends ist diese so gering wie an der Spitze. Der Nachwuchs wohl habender Eltern ist von Beginn an besser abgesichert. Ihm eröffnen sich später bessere Chancen und mehr Möglichkeiten, weil jene von seiner Schicht regelrecht ‘gehortet’ werden, meint Reeves. Und ergänzt: Falls erforderlich auch mit unfairen Methoden.

Herkunft oder Beziehungen geben bereits beim Ergattern von College- oder Praktikumsplätzen den Ausschlag. Zum Nachteil des Nachwuchses der übrigen Bevölkerung. Gleichwohl denken viele Angehörige der gehobenen Mittelschicht nach wie vor, ihr Erfolg oder der ihrer Kinder beruhe allein auf Talent und Tüchtigkeit. Beides mag eine Rolle spielen, jedoch eher unter ferner liefen. Davor werden andere Mittel zum Zweck des Erfolges bemüht, die Reeves aufzählt: Die Abgrenzung von Wohngebieten, die Einflussnahme oder ererbte Bevorzugung bei der Zulassung zum College und die undurchsichtige Vergabepraxis bei Praktika. All dieses sichert Kindern aus der gehobenen Mittelschicht bessere Ausgangsvoraussetzungen. Reeves bescheinigt seiner Klasse, Macht zu haben. Einerseits beteiligen sich ihre Angehörigen zu fast 80 % regelmäßig an Wahlen, gehen also beinahe als geschlossener Block zur Urne.

Andererseits macht sie ihren Einfluss über die wichtigste Form von Macht geltend. Gemäß dem englischen Philosophen Bertrand Russel ist das die Macht über die (öffentliche) Meinung. Praktisch jeden Posten, der mit Meinungsbildung zu tun hat, bekleiden Leute aus der oberen Mittelschicht, gleich in welcher Sparte: Medien, Verlage, Kunst, Werbung, Forschung, Wissenschaft etc. Alle diese Richtungen sind Reeves zufolge ‘fast schon definitionsgemäß’ Hochburgen seiner Klasse. Jene nutzt die Macht tendenziell zum Schutze ihres Status und ihrer Position und kümmert sich nicht um Fairness.

Politische Bündnisse lassen sich schwerlich gegen sie formieren, eben weil sie so weit verzweigt und einflussreich ist. Deshalb werden bevorzugt kleinere und fernere Gruppen zum Angriffsziel: Konservative schießen sich auf Einkommensschwache und Zuwanderer ein, in dem sie behaupten, diese würden Amerika ruinieren. Linke machen dagegen das eine Prozent der Superreichen für alles Schlechte verantwortlich.

Gleich wohin sich die gehobene Mittelschicht orientiert, ihre Angehörigen zählen stets zu den Guten, schreibt Reeves. Allerdings hält er diese ‘Selbstbeschwichtigungsstrategie’ für ein Auslaufmodell. Die Angst, die Privilegierten zu vergrätzen, lähmt die Politik und sichert der upper middle class ein angenehmes Leben, während die Bevölkerungsmehrheit gezwungen ist, sich durchzukämpfen.

Diese Tatsache einzugestehen ist für Reeves die Voraussetzung, das gesellschaftliche Klima zu verändern. Ehrlichkeit der oberen Mittelklasse, zu anderen wie zu sich selbst, wäre also aller Anfang der gesellschaftlichen Besserung. Nun gedeiht Eigennutz besser im Schatten der Verlogenheit. Da Angehörige der gehobenen Mittelschicht weitestgehend unter sich zu bleiben pflegen, können sie sich immer gegenseitig bestätigen, dass es ‘alle so machen’ und es ‘normal’ ist, an seinen Privilegien festzuhalten.

Das sich in diesen Kreisen mehr oder weniger auf Augenhöhe begegnet wird, erscheint ihnen soziale Ungleichheit als zu vernachlässigendes Problem. Armut ist für sie schlicht nicht relevant. Wer aus sozial schwächeren Schichten kommt, soll sich halt mehr anstrengen und sich besser qualifizieren, dann kann er/sie auch den Aufstieg ins bessere Viertel schaffen, hin zu den ‘Normalen’.

Eher wenigen gelingt es. Kein Wunder, die Privilegierten wollen schließlich unter sich bleiben. ‘Bildung’ bzw. ‘Qualifikation’ sind nur vorgeschobene Scheinkriterien. Ausschlaggebend ist vielmehr die bereits bestehende Zughörigkeit zum oberen Fünftel.

So wird die Ungleichheit zementiert, die Schere offen gehalten bzw. in Kauf genommen, dass sie sich weiter öffnet. Die dünne goldene Spitze der Superreichen am Ende der oberen Schneide stört nicht weiter. Primär kommt es darauf an, die untere Schneide auf Distanz zu halten.

Auf diese Weise verschärft sich die Ungleichheit, keine Frage. Verwerfungen und Krisen sind die Folge. Sie werden den gehobenen Schichten irgendwann die Erkenntnis aufdrängen: Das ewige ‘Weiter so’ der Besitzstandswahrung ist keine Zukunftsoption.


Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Dezember 2017, erschienen.

Online-Flyer Nr. 640  vom 06.12.2017

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