NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 20. April 2024  

zurück  
Druckversion

Globales
Die Emigration der jungen Generation vom Balkan und die Rolle des Westens
Exodus vom Balkan wird von reichen EU-Staaten kontrolliert
Von Rudolf Hänsel

Seit Jahrzehnten emigrieren die Jungen und die gut Ausgebildeten aus den Balkanstaaten gen Westen. Die Folgen für die Volkswirtschaften und Menschen der Länder Südosteuropas sind katastrophal: Seit Jahren fehlen Fachkräfte, die Gesundheitssysteme kollabieren, die Mortalität nimmt zu, die Natalität geht zurück, die Löhne bleiben niedrig, die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch und ein Ende der Abwanderung ist nicht in Sicht. Als arme Billiglohnländer sind sie nicht in der Lage, die junge Generation und Elite im Land zu halten. Reiche EU-Staaten haben zu dieser Misere beigetragen, da sie den Exodus vom Balkan seit vielen Jahren massiv zu ihren Gunsten beeinflussen, ohne die Herkunftsländer dafür zu entschädigen. Deren Not wird dadurch verstärkt, die Abhängigkeit vergrößert. Dieses Gebaren der westlichen Länder grenzt an Ausbeutung – und Ausbeutung ist eine Methode des Neokolonialismus. Die Bürger der EU-Beitrittskandidaten vom Balkan stellen sich deshalb zunehmend die Frage, ob die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft wirklich erstrebenswert ist.

Eine ganze Generation verlässt den Balkan Richtung Westen

Die neueren Medienberichte über den Exodus vom Balkan sind alarmierend: Immer mehr talentierte Arbeitskräfte und junge Wissenschaftler verlassen den Balkan und suchen sich Arbeit in den reichen EU-Saaten wie Deutschland, weil sie in ihren Heimatländern keine Chance haben. Ob EU-Mitglied oder nicht, alle Länder Südosteuropas kämpfen gegen einen gewaltigen Brain-Drain – wie man diesen Talentschwund bzw. die Abwanderung der wissenschaftlich-technisch-medizinischen Elite einer Volkswirtschaft nennt – an. Aus Serbien, so der Belgrader Bevölkerungsforscher Vladimir Greig, seien in den vergangenen zwei Jahrzehnten 300.000 frisch ausgebildete junge Leute, darunter 40.000 Hochschulabsolventen, ins Ausland abgewandert – unter Mitnahme einer Qualifikation, die das verarmte Land rund 12 Milliarden Euro gekostet habe. (1)

Es geht aber nicht nur eine bestimmte Bildungsschicht, es geht eine ganze Generation. Zurück bleiben die Älteren. Für Rumänien ist der Massenexodus eine nationale Katastrophe, weil die Bevölkerungszahl seit der Wende 1989 um drei Millionen sank. Kroatien hat seit dem EU-Beitritt 2013 jährlich etwa 25.000 Einwohner verloren, oft ganze Familien. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens haben jahrelanger Krieg und Sanktionen in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Industrie nachhaltig zerstört. Allein in Serbien sind seit den 1990-Jahren etwa eine Million Industriearbeitsplätze weggefallen – bei sieben Millionen Einwohnern. Entsprechend schwach fällt deshalb die Qualifikation der Arbeitnehmer aus. So bleibt für viele Junge als Alternative zur Arbeitslosigkeit zu Hause und zur Abhängigkeit von den Eltern nur der Niedriglohnsektor in Deutschland. Einen Weg dorthin gibt es immer. (2)

Als besonders folgenschwer erweist sich die massenhafte Abwanderung von Ärzten und medizinischem Pflegepersonal. Bevorzugte Ziele sind Deutschland und Österreich, gefolgt von Skandinavien und Großbritannien. 2014 wanderten 2450 Ärzte aus Rumänien und rund 500 Ärzte aus Serbien aus. 2015 wollten laut einer Umfrage ca. 80 Prozent der jungen Ärzte und Medizinstudenten Bulgariens und Serbiens möglichst schnell ins Ausland wechseln. (3) Es sind vor allem die jungen Fachkräfte, die den maroden Gesundheitssystemen in ihrer Heimat mit bankrotten Krankenhäusern, Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten und Medizintechnik, blühender Korruption sowie unzureichenden Gehältern entfliehen. In Serbien verdient ein Spezialist bis zu 900 Euro im Monat, in Deutschland und Österreich liegen bereits die Anfangsgehälter für Ärzte bei ca. 2.200 Euro netto.

Auch größere Karrierechancen, gute Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder, die politische Stabilität des Ziellandes und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft sind Anreize für einen Neuanfang im Ausland. In den reichen EU-Staaten sind die Zuwanderer hochwillkommen. Laut Bundesärztekammer stieg die Zahl der in Deutschland gemeldeten ausländischen Ärzte und Ärztinnen durch Zuwanderung aus dem Ausland im Jahr 2016 um sagenhafte 9,7 Prozent auf 46.721. Den drittstärksten Zuwachs gab es aus Serbien mit + 218 Ärzten. Seit dem Jahr 2000 ist auch die Anzahl des Pflegepersonals in Deutschland permanent gestiegen, von etwas weniger als 1000 auf heute mehr als 1.100 pro 100.000 Einwohner. In den Ländern Südosteuropas sank deren Anzahl entsprechend oder sie stagnierte, weil die jungen Nachwuchskräfte abwanderten. (4)

Volkswirtschaftlicher Schaden und menschliches Leid sind immens

Dieser Kahlschlag durch den Exodus von Ärzten und medizinischem Pflegepersonal erschüttert die ohnehin angeschlagenen Gesundheitssysteme der Balkanländer bis in die Fundamente. Vielen droht deshalb der Kollaps. Leidtragende sind vor allem die älteren Menschen, denen zunehmend die Ärzte und Pflege für die Versorgung fehlen. In Serbien sind alle Altersstufen betroffen. Seit dem Angriffskrieg der US-NATO 1999 und dem völkerrechtswidrigen Einsatz von Uranmunition (10 bis 15 Tonnen) hat das Land eine sehr hohe Rate von Leukämie und multiplen Krebsarten zu beklagen. Nach einer Latenzzeit von eineinhalb Jahrzehnten explodierte die Zahl der Krebserkrankungen und die Sterblichkeitsrate (Mortalität) stieg enorm an. (5) Und diese Entwicklung hält bis heute an.

Eine weitere Gegebenheit belastet die Volkswirtschaften des Balkans. Ärzte wie Pflegepersonal verlassen die Heimat in der Regel erst nach Abschluss ihrer extrem teuren Ausbildung, die die Steuerzahler finanziert haben. Da die reichen Zielländer dafür keine Entschädigung bezahlen, bleiben die Heimatländer auf den milliardenschweren Ausbildungskosten sitzen. In Deutschland muss der Steuerzahler für das Studium eines approbierten Arztes etwa 200.000 Euro aufbringen. Rechnet man die mit der Lehre eng verbundenen Forschungskosten anteilig dem Medizinstudium hinzu, verdoppeln sich die Ausbildungskosten nahezu. Wenn sich eine 30-jährige Ärztin dann ins Ausland verabschiedet, kostet es den deutschen Steuerzahler mehr als eine Million Euro, so die Berechnungen des Münchner Ifo-Instituts. (6)

Bei dieser Berechnung sind die privaten Aufwendungen der Familien wie hohe Studiengebühren und Geld für Unterkunft und Verpflegung in oft fernen Universitätsstädten nicht mit einberechnet. Nach vielen entbehrungsreichen Jahren verlassen Sohn oder Tochter dann Familie und Heimat. Und die Hoffnung, dass die gebildeten Emigranten eines Tages zurückkehren, um ihr Wissen und ihre Erfahrung in die Heimat zu tragen, erfüllt sich nur ganz selten. Sie haben sich schnell an den neuen Lebensstil in der Wahlheimat gewöhnt. Und wenn sie doch zurückkommen, merken sie, dass sie durch Fortbildungen in den neuen Ländern viel dazugelernt haben und ihre Chefs fachlich übertreffen – und dann gehen sie für immer.

Verarmte Länder können junge Generation nicht im Land halten


Nach Auffassung des Balkan-Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Dusan Reljic, wurde die Balkanregion durch die Euro- und Schuldenkrise besonders stark betroffen. Anders als die EU-Staaten hätten die Balkanländer keine Hilfen bekommen, was die Staatsschulden in die Höhe trieb. Gleichzeitig würden ausländische Banken 90 Prozent des Bankkapitals in der Region kontrollieren. (7) Bei den sechs armen EU-Beitrittskandidaten kommt hinzu, dass sie keinen Zugang zu den EU-Strukturfonds haben, die das Ungleichgewicht zwischen reichen und armen Ländern in Europa ausgleichen sollen. Auch dürfen sie im Vorgriff auf den EU-Beitritt keine Zölle auf Waren aus der EU erheben. Und da sie selbst den reichen EU-Staaten weder Güter noch Dienstleistungen anbieten bzw. verkaufen können, aber viele lebensnotwendigen Güter importieren müssen, wird das Leistungsdefizit gegenüber dem Westen – besonders gegenüber Deutschland – immer größer. Dieses Defizit müssen sie mit teuren Krediten kompensieren. Für Investitionen, um eines Tages durch den Aufbau einer eigenen Industrie konkurrenzfähig zu werden und die junge Generation im Land halten zu können, bleibt da nichts übrig.

Zu dieser Misere haben die Regierungen der Balkanländer mit beigetragen. EU-Staaten werfen ihnen vor, dass sie als autokratische (quasi-autoritäre) Regierungen die „rechtsstaatlich-demokratische Transformation“ und die Eindämmung der Korruption nicht ernsthaft genug vorantreiben würden, dass sie Gewinne privatisieren und Verluste sozialisieren und dass immer noch zwei Qualifikationen bei der Jobsuche entscheidend sind: erstens Verwandtschaft und zweitens Parteibuch. (8) Alle Länder sind deshalb auf die Rücküberweisungen der Ausgewanderten angewiesen. Diese machten inzwischen 20 bis 50 Prozent des gesamten Bruttoinlandprodukts der Balkanländer aus. Doch diese Überweisungen sichern nicht nur den Unterhalt der Daheimgebliebenen, sie schaffen auch Kaufkraft – für europäische Waren. Weil Kompetenz, Jugend und Geld die Länder verlassen, bleibt oft graue Perspektivlosigkeit zurück – und maßlose Enttäuschung in den Bevölkerungen darüber, was ihnen Freiheit und Demokratie wirklich brachten.

Die Regierungen der Balkanländer halten still angesichts der großen Abwanderungswelle, weil sie eine geringere Arbeitslosigkeit erwarten. Auch wollen sie die reichen EU-Staaten nicht verärgern, da sie meinen, dass ein EU-Beitritt – auch wenn er in weiter Ferne liegt – ihre wirtschaftlichen Probleme lösen würde. Um den Kontakt zur Diaspora zu intensivieren, hat Serbien inzwischen ein Amt für Migrationsmanagement geschaffen und Programme gestartet, um die im Ausland lebenden Landsleute (in Deutschland ca. 300.000 bis 500.000) informiert zu halten über die Heimat, ihnen den Erwerb heimischer Ausweispapiere zu erleichtern – und sie irgendwann möglichst zurück zu locken. (9) Die reichen EU-Staaten sind aber nicht daran interessiert oder willens, den Exodus aufzuhalten, denn die Armutsmigration macht zwar den Osten ärmer, aber den Westen reicher.

Reiche EU-Staaten kontrollieren Abwanderung

Die westlichen EU-Staaten halten den Exodus vom Balkan nicht nur nicht auf, sie üben im Gegenteil durch Werbekampagnen, Sonderregelungen bei Arbeitsgenehmigungen und eine spezielle Willkommenskultur einen beherrschenden Einfluss auf ihn aus. Zum Beispiel locken deutsche und österreichische Krankenhäuser auf Beschäftigungsmessen und einschlägigen Internetportalen mit hohen Anfangsgehältern. Auch die übliche Bereitstellung einer Dienstwohnung  gehört dazu. An einen 2010 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedeten Verhaltenskodex, auf die Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften aus bestimmten Ländern zu verzichten, hält man sich nicht.

Auch wurden für Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten wie Serbien 2015 die gesetzlichen Bestimmungen für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt gelockert. Vom 1.1.2016 bis 31.12.2020 können Bürger aus diesen Ländern in Deutschland für alle Berufe, Ausbildungen und Helfertätigkeiten eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Das gilt auch dann, wenn sie keine qualifizierte Berufsausbildung haben oder ihre berufliche Qualifikation in Deutschland nicht anerkannt ist. Die „Zentrale Auslands- und Fachvermittlung“ und das „Virtuelle Welcome Center“ mit verschiedenen Dienstleistungen sind bei der Jobsuche behilflich. Bei Vorlage eines  verbindlichen Arbeitsplatzangebots aus Deutschland wird eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Bis Ende 2016 wurden für die Westbalkanländer 50.000 Arbeitsvisa ausgestellt. (10)

Die Angst in der Region vor den Folgen der massenhaften Auswanderung der Jungen wird dadurch immer größer. Da in vielen Staaten die Natalität ebenfalls zurückgeht, stellt man sich auch die Frage, wer später einmal die Renten finanzieren wird. Die Balkanstaaten geraten durch diese Entwicklung in eine immer größere Abhängigkeit von den reichen EU-Staaten. Nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ (11) wird die wirtschaftliche, technische wie auch politische Abhängigkeit aufrechterhalten bzw. weiter vertieft, ist dieses sozialpolitische Prinzip doch eine euphemistische Umschreibung des Prinzips „Zuckerbrot und Peitsche“: Gehorche mir und ich werde dir Gutes tun, widersetzt du dich mir, dann wird dir Böses widerfahren!

Das Gebaren der reichen EU-Staaten, die Abwanderung der jungen Generation – speziell der Elite – aus ärmeren und schwächeren Ländern um des eigenen Profits willen massiv zu beeinflussen, wodurch deren Not verstärkt und die Abhängigkeit vergrößert wird, grenzt an Ausbeutung – und Ausbeutung ist eine Methode des Neokolonialismus. Für die Bürger der EU-Beitrittskandidaten vom Balkan stellt sich deshalb zunehmend die Frage, ob die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft, die sich selbst gerne als Garant für Freiheit, Frieden und Wohlstand sieht, angesichts der imperialistischen Tendenzen ihrer reichen Mitglieder wirklich erstrebenswert ist.


Fussnoten

(1) S. http://www.dnn.de/Nachrichten/Politik/Der-Letzte-macht-das-Licht-aus.
(2) http://www.swp.de/bietigheim/nachrichten/politik/eine-ganze-generation-verlaesst-den-balkan-15462122.html?
(3) Pharmazeutische Zeitung online „Balkan: Deutschland profitiert von Ärzteflucht“ v. 19.01.2015.
(4) www.bdc.de: „Ärztestatistik 2016: Anzahl der Ärzte gestiegen“ v. 25.04.2017.
(5) S. Prof. Dr. med. Slobodan Cikari
 in „Blic“ online v. 13.12.2013.
(6) Deutsche Eliteakademie (DEA) „Was kostet das Medizinstudium den deutschen Staat“ v. 20.07.2017 und WELT N24 „Warum der ‚Brain Drain’ Deutschland belastet“ v. 25.04.2010.
(7) Spiegel online v. 12.07.2017: „EU bekräftigt Beitrittsperspektive für Westbalkanländer“.
(8) http://www.euractiv.de/sektion/eu-aussenpolitik/news/sigmar-gabriel-will-westbalkan-mehr-foerdern-und-fordern/
(9) WELT N24 „Abwanderung ist für den Osten eine Katastrophe“ v. 31.01.2014.
(10) Auswärtiges Amt: Arbeiten und leben in Deutschland, August 2017.
(11) http://www.euractiv.de/sektion/eu-aussenpolitik/news/sigmar-gabriel-will-westbalkan-mehr-foerdern-und-fordern/

Online-Flyer Nr. 625  vom 23.08.2017

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE