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Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2024  

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Kommentar
Zwischen SPD-Parteitag und Bundestagswahl:
„Kämpfen, kämpfen, kämpfen“ ist zu wenig
Von Peter Vonnahme

Die Partei und ihr Kanzlerkandidat scheuen sich, eine echte Alternative anzubieten. In zwei Monaten sind Bundestagswahlen. Die Schlacht scheint entschieden, bevor sie richtig losgeht. Doch egal, wer gewinnt: Nach derzeitigem Stand wird sich in Deutschland nichts Wesentliches ändern. Zu halbherzig sind CDU/CSU und SPD bei den wichtigsten Fragen für die Zukunft. Die Kanzlerin dominiert die Schlagzeilen, ohne dass sie Bedeutsames tut. Es genügt, dass sie allgegenwärtig ist und den Großen dieser Welt wahlweise die Hand oder die Wange zur Begrüßung hinhält. Zwischendurch faltet sie ihre Hände zur „Raute“, dem einprägsamsten Markenzeichen ihrer Kanzlerschaft. Ungeachtet dieser wenig inspirierenden Performance scharwenzeln die Programmverantwortlichen in den TV-Anstalten um Merkel herum, als käme sie von einem anderen Stern. Es macht fassungslos, wie viel journalistische Aufmerksamkeit die verschwurbelten und inhaltsarmen Statements der Amtsinhaberin finden.

Demgegenüber fristet ihr Herausforderer auf den TV-Bildschirmen und den Titelseiten der Printmedien ein Schattendasein. Der Schulz-Hype vom Jahresbeginn ist zusammengefallen wie ein Quarksoufflé. Martin Schulz wirkt nicht wirklich kampfentschlossen. Manchmal scheint es, als hätte er sich schon damit abgefunden, nur auf Platz und nicht auf Sieg zu spielen. Immer wenn Medienrelevantes geschah (z. B. Terroranschläge, Landtagswahlen, G20-Gipfel), war Martin Schulz im medialen Off. Vor einem halben Jahr war das noch anders. Damals stieg er wie Phönix aus der Asche. Innerhalb weniger Tage wollten ihn 49 Prozent der Deutschen zum Kanzler (Merkel nur noch 38 Prozent). Von da an ging es stetig bergab, obwohl Schulz scheinbar keinen Fehler gemacht hat. In Wirklichkeit war es ein schwerer Fehler, sich bei den folgenden drei Landtagswahlen zu „verstecken“. Das hat ihn nicht davor bewahrt, dass die absehbaren SPD-Debakel als seine persönlichen Niederlagen wahrgenommen wurden. Der außerordentliche SPD-Bundesparteitag von Essen sollte den Weg aus dem Umfragetief weisen. Schulz, Schröder und Schwesig schworen ihre Genossen ein: Kämpfen, kämpfen, kämpfen! Kampf als ultima ratio!

Doch Kämpfer müssen wissen, wofür sie in den Kampf ziehen sollen. An dieser Stelle beginnt das doppelte Dilemma der deutschen Sozialdemokratie bzw. ihres Kanzlerkandidaten. Erstens hat dieser kein unverwechselbares politisches Profil und zweitens will er es allen recht machen. Er scheut das Risiko. Das unterscheidet ihn von Leuten wie Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Bei ihnen wusste man, warum man SPD wählen sollte – oder nicht. Schulz hingegen will alles, was die Wähler gerne hören: Fortschritt, Sicherheit und mehr Gerechtigkeit. Sein Problem ist, dass das alle wollen, angefangen bei den Leichtmatrosen der AfD bis hin zu den Kapitalismusverächtern der Linkspartei.

Das Wahlprogramm

Auch die Einzelbausteine des SPD- Wahlprogramms gleichen einem bunten Potpourri: langfristiges Rentenkonzept; steuerliche Entlastung der unteren und mittleren Einkommen; geringe Mehrbelastung der „starken Schultern“; Gebührenfreiheit für Bildung - von der Kita über den Meisterbrief bis hin zur Uni; Stärkung von Familie und Ehe; gleiche Bezahlung von Männern und Frauen; Verbot befristeter Arbeitsplätze; Absage an Profitgier; Digitalisierungsoffensive; mehr Schutz vor Kriminalität; ein gerechtes Deutschland; ein gestärktes, friedliches und solidarisches Europa; weniger Waffenexporte; Distanzierung von den Autokraten Erdogan, Orban und Trump. Kurzum: Friede, Solidarität und Anstand!

Vor allem aber fordert Schulz Respekt!! Respekt für die Ärztin, die Leben erhält. Respekt aber auch für den Busfahrer, der Schulkinder sicher nach Hause bringt. Respekt für die ältere Generation, Respekt für die Lebensleistung, Respekt für alles, was irgendwie Respekt verdient. Wer könnte sich diesem bunten Blumenstrauß an Wohlfeilem verweigern? Merkel wird sich hüten, einen solchen Fehler zu machen. Denn was Schulz verkündet, sind ehrenwerte Ziele. Das weiß Merkel auch. Deshalb wird sie das, was ihr genehm ist, huldvoll abnicken. Den Rest wird sie in bewährter Manier „klauen“, spätestens dann, wenn Umfragen zeigen, dass Vorschläge des Gegners beim Wahlvolk gut ankommen (Beispiele: Atomausstieg, Mindestlohn). Wie gut sie den Themenklau beherrscht, hat sie jüngst wieder bewiesen, als sie das heikle Streitthema „Ehe für Schwule und Lesben“ zum Entsetzen ihrer konservativen Parteifreunde handstreichartig abgeräumt hat. Dadurch ist eine bisher unüberwindliche Barriere für das Modell Schwarz-Grün beseitigt. In Sachen Unverfrorenheit macht Merkel keiner etwas vor. Notfalls scheut sie sich auch nicht, etwas zu versprechen („Mit mir wird es keine Maut geben“), um nach gewonnener Wahl das schiere Gegenteil zu machen. Und wenn sie ein Thema gar nicht mag, dann verbannt sie es mit eisigem Schweigen ins politische Niemandsland. Nicht ohne Grund geißelt Schulz diese Merkel-Strategien als „asymmetrische Demobilisierung“; das sei ein „Anschlag auf die Demokratie“. Das Hauptproblem des wackeren Herausforderers besteht darin, dass er trotz seines prallgefüllten Programmbaukastens über kein markantes Alleinstellungsmerkmal verfügt, das die über viele Jahre eingelullten Wähler wachrüttelt und zu einer definitiven Wahlentscheidung zwingt.

Zwischenergebnis

Mit seinen bisherigen Vorschlägen wird Martin Schulz die mit allen Wassern gewaschene Kanzlerin aller Voraussicht nach nicht in Bedrängnis bringen. Zu ähnlich sind die Schulz-Sonderangebote dem Merkelschen Gemischtwarenladen. Denn es gilt der Grundsatz: in dubio pro Angela. Auch die beim Essener Parteitag vehement eingeforderte Kampfbereitschaft wird nicht genügen. Wichtiger wären ein zukunftsweisendes Politikkonzept und lutherische Unerschrockenheit beim Entrümpeln überholter politischer Leitbilder. Es gibt zentrale Politikfelder, in denen der eigenständig denkende Teil der Gesellschaft heute schon wesentlich weiter ist als das sie regierende Politikestablishment. Doch diese geistige Avantgarde hat in den Altparteien keinen überzeugenden Fürsprecher.

Änderungsbedarf

Viele Wähler haben es satt, von der selbstsüchtigen Hegemonialmacht USA bevormundet zu werden, die ihre moralische Legitimation verspielt hat. Viele Menschen sind es auch leid, dass deutsche Soldaten fernab der Heimat den Kopf hinhalten müssen. Das gilt zumal dann, wenn Kriege mutwillig entfacht worden sind und der Preis für das militärische Engagement Terrorismus und Massenzuwanderung hierzulande sind. Viele Menschen lehnen Waffenexporte ab, insbesondere dann, wenn zu befürchten ist, dass die Waffen in die Hände von Terrororganisationen gelangen und sich letztlich gegen uns selbst richten. Ein Großteil der Deutschen hat zunehmend weniger Verständnis dafür, dass Israel weiter militärisch und politisch unterstützt wird, jedenfalls solange nicht, wie dieser Staat ein anderes Volk unter Missachtung von Völkerrecht und fundamentalen Menschenrechten ausbeutet und demütigt. Keiner versteht mehr, dass die deutsche Politik eingeschüchtert zusieht, wie der notorische Rechtsverächter Erdogan – ermutigt durch ein windiges Flüchtlingsabkommen – Deutschland immer dreister auf der Nase herumtanzt.

Und die meisten haben inzwischen begriffen, dass eine entschlossene Klimapolitik für die Weiterexistenz der Menschheit auf diesem Planeten unverzichtbar ist und dass der beschämende Kotau der politischen Eliten vor den Automobil- und Energielobbies selbstzerstörerisch ist. Wer spürt nicht die Frivolität der Kanzlerin, wenn sie sich auf internationalen Konferenzen als Klimakanzlerin feiern lässt und zuhause die schützende Hand über industrielle Luftverschmutzer hält? Jeder weiß inzwischen auch, dass es in einem humanitären Chaos enden wird, wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich unaufhaltsam weiter öffnet. Und alle denkenden Menschen wissen, dass unsere Zivilisation dem Untergang geweiht ist, wenn die Mächtigen in Politik und Ökonomie unbelehrbar auf wirtschaftliches Wachstum setzen. Dieses infantile Verhalten führt in einer Welt mit begrenzten Ressourcen unweigerlich zum totalen Zusammenbruch.

Wunsch nach Veränderung

All diese Menschen warten auf einen weisen und charismatischen Anführer, der den Kampf mit dem Establishment und der Übermacht des Kapitals aufnimmt. Die Vorzeichen für eine Veränderung sind günstig wie lange nicht mehr. Wie anders wären der Triumph des Newcomers Emmanuel Macron in Frankreich und die erstaunlichen Stimmengewinne der linken Außenseiter Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien zu erklären? Jugendliche Ausstrahlung scheiden bei den Letztgenannten als Erklärung aus. Offensichtlich votierten ihre Wähler für grundlegend andere Politikinhalte.

Selbst der überaus bizarre Wahlsieg von Donald Trump belegt einen ausgeprägten Veränderungswunsch der Normalbürger. Trump war es groteskerweise gelungen, sich zum Frontmann gegen das verhasste US-Establishment zu stilisieren. Dem dadurch erschwindelten Sieg liegen Überdruss, Wut und (leichtfertige!) Hoffnungen der Benachteiligten zugrunde. Spiegelbildlich entspricht Trumps Sieg die demütigende Wählerklatsche für Hillary Clinton, dem fleischgewordenen Sinnbild des korrupten US-Establishments. Das mag verstörend sei, aber es ist in sich logisch.

Nicht zuletzt ist auch der beispiellose Höhenflug von Martin Schulz in den letzten Januartagen 2017 Beleg für den verbreiteten Veränderungswunsch der deutschen Gesellschaft. Die Situation erinnert an 1998, als eine Mehrheit der Deutschen des Systems Kohl überdrüssig geworden war und sich Schröder zuwandte. Allerdings ist Schulz kein Wahlkämpfer vom Format eines Gerhard Schröder.

Als im Frühjahr erkennbar wurde, dass die auf Schulz gesetzten Hoffnungen verfrüht waren, folgte postwendend sein unaufhaltsamer Absturz. Dort wo mutiger Veränderungswille und Orientierung vonnöten gewesen wären, hat Schulz beredt geschwiegen. Das war zwar falsch, aber es passt ins Bild. Denn Schulz ist sowohl durch seinen Werdegang als auch durch seine politische Verankerung Teil des Systems, im Ergebnis Merkel nicht unähnlich. Anstatt einen tiefgreifenden Politikwechsel einzufordern, tummelte er sich in der bequemen parteipolitischen Mitte, obwohl dieser Bereich von Merkel seit 2005 souverän besetzt wird. Hasenfüßig versäumte er es, realistische Machtoptionen zu erarbeiten. Seine betonten Abgrenzungsbemühungen zur Partei Die Linke mögen der inneren Befindlichkeit der SPD entsprechen, wahlstrategisch sind sie verfehlt. Sinnvoll wäre es gewesen, sich von den durchsichtigen Dämonisierungsritualen der Union abzugrenzen und stattdessen inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der linken Konkurrenz auszuloten. Das erschien dem Wahlkämpfer Schulz jedoch zu heikel, weil er sich dadurch reflexhaften Angriffen von Union, Grünen und FDP ausgesetzt hätte.

Die letzte Chance

Viel Zeit bleibt nicht mehr. Wenn sich Martin Schulz eine kleine Chance auf die Kanzlerschaft erhalten will, dann darf er sich – fußballerisch gesprochen – nicht mit Ballhalten vertun, sondern er muss auf alles oder nichts spielen. Er muss sich vor allem entscheiden, ob er sich auf die oben beispielhaft dargestellten Politikfelder mit brennenden Zukunftsfragen wagt. Die Entscheidung ist insofern erleichtert, weil Schulz nichts mehr zu verlieren hat. Umso mehr gilt der Grundsatz, wer nichts wagt, nichts gewinnt. Steuer- und Rentenarithmetik verbunden mit Kampfaufrufen und pathetischer Respektrhetorik sind zu wenig. Schulz müsste sich zum glaubwürdigen Verfechter einer universalistischen, friedliebenden, gerechten und ökologisch ausgerichteten Politik aufschwingen. Er müsste beispielsweise die Courage aufbringen, den Wählern unumwunden zu erklären, dass die Flüchtlingsströme von 2015 und die wachsende Zahl terroristischer Anschläge (z. B. Nizza, Paris, Brüssel, Berlin, London) die direkte Antwort auf eine im Ansatz verfehlte westliche, europäische und deutsche Wirtschafts- und Bündnispolitik sind. Er müsste außerdem sagen, dass sich beide Phänomene weiter verstärken werden, wenn der Westen nicht die Kraft zu einem radikalen Wandel aufbringt. Mehr als das: Schulz müsste es nicht nur sagen, sondern die Wähler müssten auch spüren, dass er mit Überzeugung dahinter steht. Unterstellt, Schulz macht das, wäre das noch Martin Schulz? Er war immer Teil des Systems, ob als Bürgermeister von Würselen oder als angesehener Präsident des Europäischen Parlaments. Querdenken war nicht seine Sache. Würden es ihm die Wähler also abnehmen, wenn er sich in der schwierigen Endphase des Wahlkampfs vom systemtreuen Saulus zum universalistisch denkenden Paulus wandeln würde? Wohl kaum. Die Erfahrung lehrt nämlich: Wer zeitlebens brave Hauskatze war, wird nicht über Nacht zum Löwen. Ich glaube, dass Schulz zu klug ist, um diese Gefahr nicht zu sehen. Er wird deshalb wohl so bleiben, wie wir ihn kennen, beredt, anständig und sehr respektvoll, ein Mann ohne Fehl und Tadel, eben Martin Schulz. Merkel wird wie immer im Ungefähren verweilen, wenn nötig flunkern und sich alle Machtoptionen offen halten.

Am Wahlabend 2017 wird sie voraussichtlich vergnügt lächelnd vor den Fernsehkameras stehen und als äußeres Zeichen des Sieges ihre unnachahmliche Raute machen. Und Martin Schulz wird betonen, dass er und die Seinen bis zuletzt gekämpft haben und er wird seinen Respekt vor der Wählerentscheidung bekunden. Wetten, dass...? Ja, und Deutschland bekommt, was es verdient, weitere vier Jahre Treten am Platz. Denn die Mehrheit glaubt immer noch, es genüge, die Wahl zwischen Merkel und Schulz zu haben…


Siehe auch:

Fotogalerie
Am 1. Mai 2017 mit SCHULZ in Aachen
Kann ein trojanisches Pferd Schaum schlagen?
NRhZ 611 vom 03.05.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23759

Online-Flyer Nr. 622  vom 19.07.2017

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