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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Kommentar
Israel ist da und ebenso Palästina
Achtet die Grüne Linie!
Von Uri Avnery

DIE PRÄGNANTESTE Analyse des israelisch-palästinensischen Konflikts, die ich jemals gelesen habe, hat der jüdisch-polnisch-britische Historiker Isaak Deutscher geschrieben. Sie besteht aus einem einzigen Bild. Ein Mann lebt im Obergeschoss eines Gebäudes, das in Brand gerät. Um sein Leben zu retten, springt er aus dem Fenster und landet auf einem Passanten auf der Straße unten. Das Opfer ist schwer verletzt und zwischen beiden entsteht ein hartnäckiger Konflikt. Natürlich ist die Metapher nicht ganz und gar vollkommen. Die Zionisten haben die Palästinenser nicht zufällig gewählt, die Wahl beruhte auf unserer Religion. Der Gründer der Bewegung Theodor Herzl hätte zunächst lieber Argentinien gewählt. Und doch trifft das Bild im Grunde zu, jedenfalls tat es das bis 1967. Von da an begannen die Siedler über die Grüne Linie zu springen, obwohl es nirgendwo brannte.

Israelische Recht nur innerhalb der Grünen Linie

AN DER grünen Linie ist nichts Heiliges. Sie unterscheidet sich in nichts von anderen Grenzen in der Welt, welche Farbe die auch haben mögen. Die meisten Grenzen wurden von Geografie und Kriegsereignissen gezogen. Zwei Völker kämpfen um das Gebiet, das zwischen ihnen liegt; an irgendeinem Punkt kommt der Kampf zu einem Ende und eine Grenze ist entstanden. Die Landesgrenzen Israels – aus irgendeinem Grund „Grüne Linie“ genannt – wurden von den Kriegsereignissen gezogen. Ein Teil dieser Linie war das Ergebnis eines Handels zwischen der neuen israelischen Regierung und dem König von Jordanien Abdallah I, der uns das so genannte Dreieck als Bakschisch gab, als Gegenleistung für Israels Zustimmung zu seiner Annexion des größten Teils des übrigen Palästina. Was ist also so heilig an dieser Grenze? Nichts, außer dass sie vorhanden ist. Und das gilt für viele Grenzen in der Welt.

Eine Grenze wird durch Zufall errichtet und durch Vereinbarung bestätigt. Es stimmt, die Vereinten Nationen zogen 1947 in ihrer Resolution Grenzen zwischen dem jüdischen Staat und den arabischen Staaten, aber nachdem die arabische Seite einen Krieg angefangen hatte, um diese Entscheidung zu durchkreuzen, erweiterte Israel sein Gebiet außerordentlich. Der Krieg von 1948 endete ohne Friedensvertrag. Aber die Waffenstillstandslinien, die am Ende des Krieges gezogen wurden, wurden von der ganzen Welt als Grenzen Israels akzeptiert. Das hat sich auch in den 68 Jahren, die seither vergangen sind, nicht geändert. Diese Situation herrscht sowohl de facto als auch de jure. Das israelische Recht gilt nur innerhalb der Grünen Linie. Alles andere ist besetztes Gebiet, das dem Militärrecht untersteht. Zwei kleine Gebiete – Ostjerusalem und die Golanhöhen – erklärte Israel einseitig als von ihm annektiert, aber niemand in der übrigen Welt erkennt diesen Status an.

Was ist der große Unterschied zwischen uns und euch?

ICH HALTE MICH so lange bei diesen wohlbekannten Tatsachen auf, weil die Siedler in den besetzten Gebieten vor kurzem begonnen haben, ihre Kritiker in Israel damit zu verhöhnen, dass sie ein neues Argument aufs Tapet bringen: „He, worin besteht denn der große Unterschied zwischen uns und euch?“ „Ihr sitzt schließlich auch auf arabischem Land“, sagen sie uns. Es stimmt, vor 1948 siedelten die Zionisten auf Land, das sie für gutes Geld gekauft hatten, aber nur ein kleiner Teil davon wurde den Fellachen abgekauft, die es bebauten. Das meiste Land wurde von reichen abwesenden Landbesitzern erworben, die es billig vom türkischen Sultan gekauft hatten, als das Osmanische Reich in schlimmen finanziellen Schwierigkeiten steckte. Die Landbebauer wurden zunächst von der türkischen und später von der britischen Polizei vertrieben.

Weite Flächen wurden während der Kämpfe von 1948 „befreit“, als arabische Dorf- und Stadtbewohner in Massen vor dem herannahenden israelischen Militär flohen, wie Zivilpersonen es in jedem Krieg tun. Wenn sie noch nicht geflohen waren, genügten ein paar Maschinengewehrsalven, um sie zu vertreiben. Die Bewohner, die in Jaffa geblieben waren, nachdem die Stadt erobert worden war, wurden einfach auf Lastwagen verladen und nach Gaza transportiert. Die Bewohner von Lod (Lydda) mussten zu Fuß ausziehen. Am Ende waren etwa 750 Tausend Araber vertrieben worden, mehr als das damalige halbe palästinensische Volk. Die jüdische Bevölkerung in Palästina belief sich auf 650 Tausend.

An dieser Stelle zwingt mich eine innere Stimme dazu, einen kanadischen jüdischen Offizier namens Ben Dunkelmann, der damals 36 Jahre alt war, zu erwähnen. Er kommandierte eine Brigade in der neuen israelischen Armee. Im Zweiten Weltkrieg war er in der kanadischen Armee ausgezeichnet worden. Ihm wurde befohlen, Nazareth anzugreifen, die Heimatstadt Jesu, aber es gelang ihm, die lokalen Führer dazu zu überreden, sich kampflos zu ergeben. Die Bedingung war, dass der Bevölkerung des Ortes nichts zuleide getan würde.

Nachdem seine Soldaten die Stadt besetzt hatten, bekam Dunkelmann mündlich den Befehl, die Bevölkerung zu vertreiben. Empört weigerte sich Dunkelmann, sein Ehrenwort als Offizier und Ehrenmann zu brechen, und verlangte einen schriftlichen Befehl. Ein solcher Befehl kam jedoch natürlich nie (kein derartiger Befehl wurde niedergeschrieben), aber Dunkelmann wurde aus seinem Posten entfernt. Wenn ich heutzutage durch die blühende arabische Stadt Nazareth fahre, denke ich an den tapferen Mann. Nach jenem Krieg kehrte er in sein Geburtsland Kanada zurück. Ich denke, er ist niemals wieder nach Israel gekommen. Er starb vor 20 Jahren.

Wer seid ihr, dass ihr uns gering schätzt?

EHRLICHE ENTHÜLLUNG: An alledem habe ich teilgenommen. Als einfacher Soldat und später als Gruppenführer gehörte ich zu den Ereignissen. Aber sofort nach dem Krieg schrieb ich ein Buch, das die Wahrheit aufdeckte (Die Kehrseite der Medaille) und einige Jahre später veröffentlichte ich einen detaillierten Plan für die Rückkehr einiger Flüchtlinge und Entschädigungszahlungen an alle anderen. Der Plan wurde natürlich nie verwirklicht. Der größte Teil des Landes und die Häuser der Flüchtlinge wurden mit jüdischen Neueinwanderern gefüllt. Jetzt sagen die Siedler, nicht ohne ein gewisses Recht: „Wer seid ihr, dass ihr uns gering schätzt? Ihr habt dasselbe getan, was wir tun! Nur dass ihr es vor 1967 getan habt und wir es jetzt tun. Worin besteht da der Unterschied?“

Das eben ist der Unterschied: Wir leben in einem Staat, der von dem größten Teil der Welt innerhalb seiner Grenzen anerkannt wird. Ihr lebt auf einem Gebiet, das die Welt als besetztes palästinensisches Gebiet betrachtet. Der Staat Texas wurde im Krieg der USA mit Mexiko erbeutet. Wenn Präsident Trump jetzt in Mexiko einmarschieren und ein Stück Land annektieren würde (warum auch nicht?), wäre dessen Status ein ganz anderer als der Texas’. Benjamin Netanjahu – einige nennen ihn jetzt Trumpjahu – ist ganz und gar für die Erweiterung der Siedlungen. Unter dem Druck unseres Obersten Gerichtshofes inszenierte er die Entfernung der winzig kleinen Siedlung Amona, die dann unter viel Herzeleid und Tränen geräumt wurde, aber sofort versprach er, viele Tausend neue „Wohneinheiten“ in den besetzten Gebieten.

Grüne Linie ausradieren und besetzte Gebiete zum Teil Großisraels machen


EINANDER ENTGEGENGESETZTE politische Extreme berühren sich oft. So ist es auch jetzt. Die Siedler, die den Unterschied zwischen uns und sich auslöschen wollen, tun das nicht nur, um sich zu rechtfertigen. Ihr Hauptziel ist, die Grüne Linie auszuradieren und die besetzten Gebiete zu einem Teil Großisraels zu machen, das sich vom Mittelmeer bis zum Jordan erstrecken würde. Viele, die Israel hassen, wollen dieselben Grenzen – aber als Grenzen eines arabischen Staates. Ich würde tatsächlich liebend gern Vorsitzender einer Friedenskonferenz von Israel-Hassern und Palästina-Hassern. Ich würde vorschlagen, dass sie zuerst über den Punkt entscheiden, dem sie alle zustimmen, nämlich die Schaffung eines Staates, der vom Meer bis zum Fluss reicht. Bis zum Ende der Konferenz würde ich die Entscheidung aufschieben, ob er nun Israel oder Palästina heißen soll. Eine weltweite Bewegung, die sich BDS nennt, schlägt seit einiger Zeit vor, ganz Israel zu boykottieren, um dieses Ziel zu erreichen. Ich habe meine Schwierigkeiten damit.

Boykott, obwohl nach israelischem Gesetz illegal


DIE ISRAELISCHE Friedensorganisation Gush Shalom, zu der ich gehöre, ist sehr stolz darauf, dass sie schon vor vielen Jahren die erste war, die die Produkte der Siedlungen boykottierte. Wir erhalten diesen Boykott noch aufrecht, obwohl er jetzt nach israelischem Gesetz illegal ist. Wir haben nicht etwa Israel boykottiert. Und nicht nur darum nicht, weil es ziemlich ungeschickt ist, sich selbst zu boykottieren. Der Hauptgrund für unseren Boykott war, dass wir den Israelis beibringen wollten, zwischen sich, den Bewohnern Israels, und den Bewohnern der Siedlungen zu unterscheiden. Wir veröffentlichten und verteilten viele Tausende Exemplare einer Liste mit Unternehmen, die jenseits der Grünen Linie ansässig sind, und mit Produkten, die dort produziert werden. Sehr viele halten diesen Boykott ein. Der BDS-Boykott für ganz Israel erreicht genau das Gegenteil von dem, was er erreichen soll: Wenn man keinen Unterschied zwischen Israel innerhalb der Grünen Linie und den Siedlungen außerhalb macht, treibt man damit die Israelis in Israel den Siedlern in die Arme. Die Siedler sind natürlich nur allzu glücklich darüber, dass BDS ihnen hilft, die Grüne Linie auszuradieren.

Israel ist da und ebenso Palästina

ICH HABE emotional nichts gegen die BDS-Leute. Stimmt schon, einige davon scheinen Antisemiten alter Schule in neuem Gewand zu sein, aber ich habe doch den Eindruck, dass die meisten, die BDS befürworten, das aus aufrichtigem Mitgefühl mit den Leiden der Palästinenser tun. Das respektiere ich. Ich möchte jedoch die wohlmeinenden Idealisten, die BDS unterstützen, dazu bewegen, noch einmal über die überragende Bedeutung der Grünen Linie nachzudenken. Sie ist die einzige Grenze, die mit einigen kleinen miteinander zu vereinbarenden Anpassungen Frieden zwischen Israel und Palästina möglich macht. Israel ist da und ebenso Palästina. Keines von beiden kann weggewünscht werden. Wenn alle Beteiligten sich darüber einig sind, können wir uns auch darauf einigen, den Boykott der Siedlungen fortzusetzen – und zwar ausschließlich der Siedlungen.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Online-Flyer Nr. 599  vom 08.02.2017

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