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Krieg und Frieden
Kontroverse Debatte um das Thema "Feindbild Putin"
Putins Atombombe
Von Dietrich Schulze

In der Friedensbewegung und der Linken ist das Verhältnis zu Russland und seinem Präsidenten Putin eine umstrittene Frage. Klar ist, dass Putin wegen seiner eigenständigen Politik und des Zurückdrängens kolonialer Strukturen vom "Westen" und seinen Medien als Feindbild aufgebaut wird. Teile der Friedensbewegung und der Linken stimmen in diesen Kanon ein. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie Äußerungen Putins zu bewerten sind - wenn er z.B. sagt: "Mir gefielen und gefallen kommunistische und sozialistische Ideen noch immer." Oder wenn er mit Bezug auf Lenin äußert: "Auch, wenn die Idee an sich richtig ist. Im Endergebnis führte dieses Denken zum Zerfall der Sowjetunion, genau daran lag es. Es gab viele Überlegungen solcher Art: Autonomisierung und so weiter – die legten eine Atombombe unter das Gebäude, das Russland heißt, und die zerriss es dann auch." Dietrich Schulze sieht in Putins Äußerung "eine folgenschwer verlogene Geschichtsinterpretation des Präsidenten Russlands". Wir werten seinen Artikel als Einladung zu einer kontroversen Debatte um das Thema "Feindbild Putin".


Aufmacher von de.sputniknews.com am 21. Januar 2016

Die diversen Presseberichte mit dem perversen Putin-Zitat hatte ich nicht glauben wollen. Dann habe ich am 21. Januar in SputnikNews [1] mit den Bildern von Lenin und Putin das gleiche Zitat gefunden: »Unter Lenin sei „unter Russland eine Atombombe gelegt worden“, sagte Putin am Donnerstag in einer Sitzung des Forschungsrats in Moskau nach Angaben russischer Medien. Dabei verwies der Staatschef auf die Idee der Bolschewiki von einer „Autonomisierung“ der damaligen russischen Regionen. Diese Tätigkeit habe im Ergebnis zum Zerfall der Sowjetunion geführt. „Unter das Gebäude, das Russland hieß, legte man eine Atombombe, die dann in die Luft ging.“«

Präsident Wladimir Putin habe dem Begründer der Sowjetunion Wladimir Lenin eine destruktive Rolle in der Geschichte bescheinigt, so die Kommentierung in SputnikNews. Die Tätigkeit des marxistischen Theoretikers und führenden Kopfes der Oktober-Revolution von 1917 habe das „historische Russland zerstört“.

Ich bekenne, dass ich zutiefst empört bin über eine derartig verfälschende Geschichtsinterpretation, die alles konservativ-reaktionäre, gegen die Oktober-Revolution ins Feld geführte in den Schatten stellt.

Ich bekenne gleichzeitig, dass ich zusammen mit vielen Personen und Organisationen zu den politischen Auseinandersetzungen um die Krim einen Offenen Brief an Putin unterschrieben, der in der NRhZ am 28.03.2014 [2] veröffentlicht wurde. Darin heißt es nach der Analyse des Ukraine-Konflikts:

»Russland hat seine im Zweiten Weltkrieg zu Tode gekommenen 27 Millionen Menschen selbst im Kalten Krieg nicht gegen Deutschland politisch instrumentalisiert. Diese innere Größe allein verdiente eine andere Qualität in den Beziehungen zwischen unseren Ländern. .... Wir sind überzeugt: nur wenn die Staaten und Völker des eurasischen Doppelkontinents ihre Angelegenheiten miteinander friedlich, respektvoll, kooperativ, auf der Grundlage des Rechtes und ohne Einmischung von außen regeln, wird dies auch auf die übrige Welt ausstrahlen. Wir verstehen Sie in diesem Sinn als Verbündeten.«

Über diese Annahme, einen Verbündeten an der Seite zu haben, bin ich zutiefst verunsichert. In der Wochenzeitung „unsere zeit“ ist dankenswerter Weise bereits am 29. Januar 2016 unter dem Titel „Putin kontra Lenin - Antikommunistische Märchen aus dem Kreml“ [3] ausführlich zur Sache Stellung bezogen worden:

- Es wird daran erinnert, dass Karl Marx - der Gründungspate der Neuen Rheinischen Zeitung - als erster von der sozialistischen Weltrevolution sprach, die 1917 von Lenin und den Bolschewiki mit der Oktober-Revolution im rückständigen Russland zum ersten Mal vollstreckt wurde. Lenin hatte gehofft, dass die industriell am weitesten entwickelten Länder Deutschland und Tschechoslowakei folgen würden. Wer die in der November-Revolution liegende Hoffnung zerstörte, ist bekannt.

- Die Idee der Autonomisierung vertrat eine gewisse Zeit der Volkskommissar für Nationalitätenfragen J. W. Stalin, der dabei die Stärkung und Festigung und nicht die Absonderung der Sowjetrepubliken im Auge hatte. W. I. Lenin wandte sich gegen diesen Vorschlag, weil er berücksichtigte, dass zu dieser Zeit in den Sowjetrepubliken bereits Institute staatlicher Selbstständigkeit entstanden waren, und eine Absage daran nur die Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung hervorrufen konnte.

- Juri Jemeljanow bezeichnet in der „Sowjetskaja Rossija“ Putins Unterstellung, die „Autonomisierung“ habe zu den Hauptideen Lenins gehört, als geradezu lächerlich. Und weiter „Bis heute hat uns der Reformator Putin nicht überzeugend darlegen können, warum unser Land solange es den Ideen Lenins folgte und den Sozialismus aufbaute, sich schnell entwickelte, erstarkte und zu einem der bedeutendsten Mächte der Welt wurde. Lenin zu beschuldigen, den Zerfall des Landes vorbereitet und eine ‚Atombombe‘ unter die UdSSR gelegt zu haben, das kann nur derjenige, der den gesunden Menschenverstand mit Füßen tritt.“

- Schließlich weist Jemeljanow noch auf den Widerspruch hin, dass Präsident Putin kürzlich mit der Eröffnung des Jelzin-Museums in Jekaterinburg gerade demjenigen höchste Ehren erwies, der die Hauptverantwortung für die Auflösung des Unionsvertrages über die Bildung der UdSSR und damit für deren Ende trägt.

Tatsächlich hat also der andere Wladimir eine atomare Zeitbombe unter Russlands Geschichte und Selbstverständnis gelegt. Die Mächtigen der NATO dürften sich über diese neue folgenschwere innere Fäulnis die Hände reiben.

In der letzten NRhZ-Ausgabe [4] habe ich im Zusammenhang mit einer Würdigung von Peter Kleinert weltpolitische Themen behandelt und bin auch auf die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar vor 71 Jahren durch die Rote Armee eingegangen. Dazu habe ich Gedanken an den deutschen kommunistischen Widerstandskämpfer Karl Wagner vorgetragen, der mich zum Antifaschisten und Friedenskämpfer gemacht und mir die Kraft zum Widerstand gegeben hat.

Dieser Widerstand bedeutet für mich die redliche Zusammenarbeit mit allen Strömungen der antifaschistischen und antimilitaristischen Bewegung für gemeinsame konkrete Ziele und das Aushalten von Widersprüchen bis eine konstruktive Lösung erreicht ist.

Der Marx und Engels zugeschriebene Gedanke eines Auswegs aus dem kapitalistischen Gesellschaftssystem als Aufstieg zum Sozialismus oder Untergang in die Barbarei ist alles andere als überholt. Die sich häufenden Artikel über einen möglichen Untergang der Welt in einem atomaren Armageddon sind nicht weltfremd, sondern real.

Es gibt nur eine mögliche Antwort: Die Anstrengungen für eine Welt ohne Atomwaffen und ohne Krieg, für eine Abschaffung der NATO müssen – so aussichtslos das gegenwärtig auch erscheinen mag – verstärkt werden.

Lenin gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Ihn so zu beschmutzen, wie Putin das getan hat, ist unverzeihlich.

Ich habe einen Traum. Hunderttausende friedens- und geschichtsbewusste Menschen pilgern zu Lenins Grabmal nach Moskau und ehren ihn auf diese Weise.


Quellen:

[1] http://de.sputniknews.com/politik/20160121/307277885/putin-bescheinigte-lenin-zerstoererische-rolle.html#ixzz3ydUiJ5BB
[2] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=20163
[3] http://www.unsere-zeit.de/de/4804/hintergrund/1722/Putin-kontra-Lenin.htm
[4] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22483


Über den Autor: Dr.-Ing. Dietrich Schulze (Jg. 1940) war nach 18-jähriger Forschungstätigkeit im Bereich der Hochenergie-Physik von 1984 bis 2005 Betriebsratsvorsitzender im Forschungszentrum Karlsruhe (jetzt KIT Campus Nord). 2008 gründete er mit anderen in Karlsruhe die Initiative gegen Militärforschung an Universitäten (WebDoku www.stattweb.de/files/DokuKITcivil.pdf ). Er ist Beiratsmitglied der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit sowie in der Initiative „Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel“ und publizistisch tätig. Für das Karlsruher Vorbereitungsteam der Whistleblower-Preisverleihung 2015 zeichnet er verantwortlich. Email dietrich.schulze@gmx.de


Online-Flyer Nr. 547  vom 03.02.2016

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