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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Kommentar
Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
Die Herrschaft der Absurdiotie
Von Uri Avnery

So etwas wie „internationalen Terrorismus“ gibt es nicht. Dem „internationalen Terrorismus“ den Krieg erklären ist Unsinn. Politiker, die das tun, sind entweder Narren oder Zyniker und wahrscheinlich sind sie beides. Terrorismus ist eine Waffe. Wie eine Kanone. Wir würden über einen, der der „internationalen Artillerie“ den Krieg erklärt, lachen. Eine Kanone gehört zu einer Armee und dient den Zielen dieser Armee. Die Kanone der einen Seite schießt auf die Kanone der anderen Seite. Terrorismus ist eine Vorgehensweise. Sie wird oft von unterdrückten Völkern eingesetzt, wie z. B. von der französischen Resistance gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg. Wir würden über jeden, der der „internationalen Resistance“ den Krieg erklärt, lachen.

 


Carl von Clausewitz

Quelle: wikipedia, nach einem Gemälde
von Karl Wilhelm Wach

 

Der preußische Militärdenker Carl von Clausewitz schrieb bekanntlich: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Wenn er heute unter uns leben würde, würde er vielleicht schreiben: „Der Terrorismus ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“.

Terrorismus bedeutet wörtlich: Den Opfern Angst einflößen, damit sie sich dem Willen des Terroristen unterwerfen.

Terrorismus ist eine Waffe. Im Allgemeinen ist es die Waffe der Schwachen. Derer, die keine Atombomben haben wie die, die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, die die Japaner in die Unterwerfung terrorisierten. Oder die Flugzeuge, die Dresden im (vergeblichen) Versuch bombardierten, den Deutschen Angst einzuflößen, damit sie aufgäben.

Gruppen und Länder, die Terrorismus einsetzen, haben meist unterschiedliche Ziele, Ziele, von denen viele einander widersprechen. Daran ist nichts „Internationales“. Jede terroristische Aktion hat ihren eigenen Charakter. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass niemand sich als Terroristen betrachtet, sondern er sieht sich selbst als Kämpfer für Gott, Freiheit oder sonst was.

(Ich kann nicht umhin, mich damit zu brüsten, dass ich vor langer Zeit die Formel erfunden habe: „Der Terrorist des einen ist der Freiheitskämpfer des anderen.“) 


VIELE EINFACHE Israelis fühlten eine tiefe Befriedigung nach den Pariser Ereignissen: „Jetzt empfinden die verdammten Europäer endlich auch einmal, was wir die ganze Zeit über empfinden!“

Der zwergenhafte Denker, aber glänzende Verkäufer Benjamin Netanjahu ist auf die Idee gekommen, eine direkte Verbindung zwischen dem dschihadistischen Terrorismus in Europa und dem palästinensischen „Terrorismus“ in Israel und den besetzten Gebieten zu erfinden.

Es ist ein Geniestreich: Wenn die messerschwingenden palästinensischen Jugendlichen und die belgischen Anhänger von ISIS ein und dieselben sind, dann gibt es kein israelisch-palästinensisches Problem, keine Besetzung, keine Siedlungen. Nur muslimische Fanatiker. (Dabei werden übrigens die vielen christlichen Araber in den säkularen palästinensischen „Terroristen“-Organisationen ignoriert.)

Das hat nichts mit der Realität zu tun. Palästinenser, die für Allah kämpfen und sterben wollen, gehen nach Syrien. Palästinenser – sowohl religiöse als auch säkulare -, die in diesen Tagen schießen, auf jemanden mit einem Messer einstechen oder israelische Soldaten und Zivilpersonen überfahren, wollen Freiheit von der Besatzung und einen eigenen Staat.

Dies ist eine so offensichtliche Tatsache, dass selbst Leute mit dem eingeschränkten IQ unserer gegenwärtigen Minister sie begreifen könnten. Aber wenn sie sie begriffen, dann ständen sie sehr unangenehmen Entscheidungen im israelisch-palästinensischen Konflikt gegenüber.

Halten wir uns also an die bequeme Schlussfolgerung: Sie töten uns, weil sie geborene Terroristen sind, weil sie die versprochenen 72 Jungfrauen im Paradies haben wollen, weil sie Antisemiten sind. Deshalb werden wir, wie Netanjahu glücklich vorhersagt, „immer und ewig durch das Schwert leben.“

 

SO TRAURIG die Ergebnisse eines jeden terroristischen Ereignisses auch sein mögen, gleichzeitig ist etwas Absurdes an den europäischen Reaktionen auf die neuesten Ereignisse.

Der Höhepunkt der Absurdiotie wurde in Brüssel erreicht, als ein einsamer flüchtiger Terrorist tagelang eine ganze Hauptstadt lahmlegte, ohne dass auch nur ein einziger Schuss abgefeuert worden wäre. Es war der ultimative Erfolg des Terrorismus im wahrsten Sinne des Wortes: Angst als Waffe einsetzen.

Die Reaktion in Paris war allerdings auch nicht viel besser. Die Anzahl der Opfer der Gräueltat war hoch, sie war etwa gleich hoch wie die Anzahl der Menschen, die innerhalb von ein paar Wochen auf den Straßen Frankreichs sterben. Sie war sicherlich weit niedriger als die Anzahl der Opfer während einer einzigen Stunde im Zweiten Weltkrieg. Aber rationales Denken zählt nicht. Der Terrorismus wirkt auf die Gefühle.

Es scheint unglaublich, dass zehn mittelmäßige Individuen mit ein paar primitiven Waffen eine weltweite Panik auslösen. Aber es ist eine Tatsache. Verstärkt von den Massenmedien, die durch derartige Ereignisse blühen und gedeihen, werden örtliche terroristische Akte heutzutage zu weltweiten Bedrohungen aufgeblasen. Die modernen Medien sind einfach durch ihr Wesen der beste Freund des Terroristen. Ohne sie könnte Terror nicht florieren.

Der zweitbeste Freund des Terroristen ist der Politiker. Es ist für einen Politiker fast unmöglich, der Versuchung zu widerstehen, auf der Panik-Welle zu reiten. Panik schafft „nationale Einheit“, den Traum eines jeden Regierenden. Panik schafft die Sehnsucht nach einem „starken Führer“. Das ist ein menschlicher Urtrieb.

François Hollande ist ein typisches Beispiel. Als mittelmäßiger, aber geschickter Politiker ergriff er die Gelegenheit, sich als Führer in Szene zu setzen: „Das ist Krieg!“, erklärte er und peitschte zum Nationalrausch auf. Natürlich ist das kein „Krieg“. Es ist nicht der Dritte Weltkrieg. Es ist nur ein terroristischer Angriff eines verborgenen Feindes. 

Eine der Tatsachen, die diese Ereignisse offenbart haben, ist in der Tat die unglaubliche Torheit der politischen Führer überall. Sie verstehen nicht, welche Aufgabe sich ihnen stellt. Sie reagieren auf eingebildete Bedrohungen und ignorieren die wirklichen. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Deshalb tun sie, was ihnen eben so einfällt: Reden halten, Treffen einberufen und jemanden (ganz gleich wen und wofür) bombardieren.

Da sie die Krankheit nicht verstehen, ist ihre Medizin schlimmer als die Krankheit an sich. Bombardieren verursacht Zerstörung, Zerstörung schafft neue Feinde, die nach Rache dürsten. Es ist eine direkte Zusammenarbeit mit den Terroristen.

Es war ein trauriges Schauspiel: alle diese Führer in der Welt, die Befehlshaber mächtiger Nationen, wie Mäuse im Labyrinth umherlaufen zu sehen, wie sie sich treffen, Reden halten, sinnlose Behauptungen aufstellen und vollkommen unfähig dazu sind, mit der Krise umzugehen.

 

DAS PROBLEM ist tatsächlich viel schwieriger, als sich einfache Gemüter vorstellen können, und zwar wegen einer ungewöhnlichen Tatsache: Dieses Mal ist der Feind keine Nation, kein Staat, nicht einmal ein reales Gebiet, sondern ein undefiniertes Gebilde: eine Idee, ein Geisteszustand, eine Bewegung, die zwar eine territoriale Basis oder etwas Ähnliches hat, die jedoch kein realer Staat ist.

Das ist keineswegs ein noch nie dagewesenes Phänomen: Vor mehr als hundert Jahren beging die anarchistische Bewegung überall terroristische Akte, ohne dass sie irgendeine territoriale Basis gehabt hätte. Und vor 900 Jahren terrorisierte eine religiöse Sekte ohne Land, die Assassinen (ein entstelltes arabisches Wort für „Haschischkonsumenten“) die muslimische Welt.

Ich weiß nicht, wie man den Islamischen Staat (oder eher Nicht-Staat) wirksam bekämpfen kann. Ich glaube fest, dass das niemand weiß. Und schon gar nicht die Trottel, die in den verschiedenen Regierungen sitzen.

Ich bin nicht einmal sicher, dass eine territoriale Invasion dieses Phänomen zerstören würde. Aber selbst eine derartige Invasion scheint unwahrscheinlich. Die Koalition der nicht Gewillten, die die USA zusammengebracht haben, scheint nicht geneigt, Bodentruppen zu schicken. Die einzigen Mächte, die das versuchen könnten – die Iraner und die syrische Regierungsarmee – werden von den USA und ihren Verbündeten in der Region gehasst.

Wenn man nach einem Beispiel für vollkommene Desorientierung, die an Schwachsinn grenzt, sucht, dann ist das tatsächlich die Unfähigkeit der USA und der europäischen Mächte, sich zwischen der Assad-Iran-Russland-Achse und dem IS-Saudi-Sunni-Lager zu entscheiden. Selbst wenn wir das türkisch-kurdische Problem, die russisch-türkische Feindlichkeit und den israelisch-palästinensischen Konflikt hinzufügen, ist das Bild noch lange nicht vollständig.

(Geschichtsliebhaber können sich vom in dieser neuen Situation erneut auflebenden jahrhundertealten Kampf zwischen Russland und der Türkei faszinieren lassen. Schließlich übertrumpft die Geografie alles andere.)

Es heißt, Krieg sei eine viel zu wichtige Angelegenheit, als dass man sie Generälen überlassen sollte. Die gegenwärtige Situation ist viel zu kompliziert, als dass man sie Politikern überlassen sollte. Aber wen gibt es schließlich sonst?

 

WIR ISRAELIS GLAUBEN (wie gewöhnlich), dass wir die Welt belehren können. Wir kennen den Terrorismus. Wir wissen, was zu tun ist.

Aber stimmt das wirklich?

Israelis leben jetzt seit Wochen in Panik. Aus Mangel an einem besser geeigneten Wort wird das, was geschieht, „die Terrorwelle“ genannt. Täglich greifen jetzt zwei, drei, vier Jugendliche – darunter 13jährige Kinder – Israelis mit Messern an oder überfahren sie mit Autos und werden dann gewöhnlich an Ort und Stelle erschossen. Unsere angesehene Armee unternimmt alles Mögliche, darunter auch drakonische Vergeltungsmaßnahmen gegen die Familien und kollektive Bestrafungen von Dörfern, jedoch vergeblich.

Es sind Taten von Einzelnen, oft ganz spontan, und deshalb ist es geradezu unmöglich, sie zu verhindern. Es ist kein militärisches Problem. Das Problem ist ein politisches, psychisches.

Netanjahu versucht wie Hollande und seinesgleichen auf dieser Welle zu reiten. Er zitiert den Holocaust (vergleicht einen 16-jährigen Jungen aus Hebron mit einem verhärteten SS-Offizier in Auschwitz) und redet endlos über Antisemitismus.

Dies alles tut er, um eine offenkundige Tatsache zu vertuschen: die Besetzung mit ihrem täglichen, tatsächlich stündlichen und minütlichen Schikanieren der palästinensischen Bevölkerung. Einige Minister machen kein Geheimnis mehr daraus, dass es das Ziel ist, das Westjordanland zu annektieren und schließlich die Palästinenser aus ihrer Heimat zu vertreiben.

Es gibt keine direkte Beziehung zwischen IS-Terrorismus in aller Welt und dem palästinensischen nationalen Kampf um Staatlichkeit. Wenn aber die Probleme nicht gelöst werden, werden sie am Ende miteinander verschmelzen. Und ein weit mächtigerer IS wird die muslimische Welt einen, wie es Saladin einmal tat, um uns, den neuen Kreuzfahrern, die Stirn zu bieten.

Wenn ich gläubig wäre, würde ich flüstern: Gott bewahre! (PK)

 

Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer Mitarbeiterinnen für die NRhZ rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Buches und von Avnerys Artikeln aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie hat selbst auch ein neues eBuch bei Amazon veröffentlicht: "Ira Chernus, Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Alle ihre Bücher findet man unter
http://www.amazon.com/s/ref=nb_sb_noss?url=search-alias%3Daps&field-keywords. http://ingridvonheiseler.formatlabor.net

 

 



Online-Flyer Nr. 539  vom 02.12.2015

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