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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Globales
Interview: "Die israelische Regierung fürchtet die Versöhnung der Palästinenser"
Ursachen für die Gewalteskalation in Gaza
Von Sabine Schiffer

Mohamed Abuelqomsan von der Erlanger Initiative für Frieden in Israel und Palästina (IFIP) hat Verwandte in Gaza und beobachtet die Situation vor Ort genau. Er lebt seit 1987 in Deutschland und ist als Informatiker tätig. Er hat sich stets für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts eingesetzt, die seiner Meinung nach nur gelingen kann, wenn Gerechtigkeit zur Geltung kommt. Im Gespräch mit der Autorin am 21. Juli analysierte er die Ursachen für die aktuelle Gewalteskalation als wiederkehrendes Moment versäumter politischer Chancen.
 

Mohamed Abuelqomsan
Foto: privat
Sabine Schiffer: Sehr geehrter Herr Abuelqomsan, Sie stammen aus Gaza. Wie geht es Ihnen im Moment?
 
Mohamed Abuelqomsan: Sehr angespannt. Man rechnet jeden Moment mit der schlimmsten Nachricht. Meine Mutter berichtete heute, dass gestern Nacht Bombardierungen von allen Seiten (Kriegsschiffe vom Meer, aus der Luft und Panzer von der Ostseite) stattgefunden haben, sodass die Häuser die ganze Nacht erschüttert wurden und man das Gefühl hatte, das Haus kann jeden Moment von einer F16-Rakete zerstört werden.
 
Ist Ihre Familie von den Aufforderungen der israelischen Verantwortlichen betroffen ihre Häuser zu verlassen?
 
Nein, da sie im Landesinneren wohnen. Betroffen sind die Gebiete im Norden und Osten des Gazastreifens.
 
Wie halten sie Kontakt?
 
Telefonisch.
 
Wie sehen Sie die Rolle der Hamas?
 
Die Hamas stellt sicherlich unter normalen Umständen keine politische Alternative für die Palästinenser dar. Aber solange die PLO-Führung korrupt ist und politisch kein friedliches Ende des Konflikts erreichen konnte, wird der PLO und ihrer Autonomiebehörde nicht vertraut und sie nicht als Vertreter der Palästinenser und Beschützer vor der israelischen Aggression anerkannt.
 
Kann der aktuelle Beschuss des Gaza-Streifens die Menschen dazu bewegen sich von der Hamas abzuwenden?
 
Hamas bekommt Zulauf solange kein Friedensabkommen zur Beilegung des Konflikts erreicht wird.
Die Antwort auf die Frage wird Nein sein, solange weiterhin kein Friedensabkommen mit Israel geschlossen wird, das unabhängig vom Ausgang des Krieges ist. Im Gegenteil, der Hass auf Israel, seine Verbündeten und sogar den ganzen Westen wird immer größer - und das nicht nur unter Palästinensern sondern in der ganzen arabischen Welt.
 
Worin sehen Sie die Gründe für die wiederkehrenden Eskalationen?
 
Israel wollte mit allen Mitteln die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas und die daraus entstandene Regierung platzen lassen, deswegen nutzte man den traurigen Fall mit dem Verschwinden der 3 israelischen Siedlerjugendlichen, um einen Krieg gegen Gaza auszuführen. Der Krieg fing an, als Israel Hamas in Gaza wegen der Entführung der 3 Jugendlichen beschuldigte und Luftangriffe begann.
Die israelische Regierung fürchtet die Versöhnung der Palästinenser und somit, dass die Autonomiebehörde die Kontrolle über den Gazastreifen bekommt. Denn die israelischen Hardliner zielen auf die Trennung von Gaza von der Westbank, um mit der Zeit durchzusetzen, dass Gaza als Staat Palästina gilt und die Westbank langsam durch die Siedlungspolitik annektiert werden kann.
 
Das genau sind die Ziele der israelischen Regierung?
 
Ja, die Wiedervereinigung der palästinensischen Gebiete soll verhindert werden, sowie ein Einfluss von Hamas in der Westbank.
 
Warum wurde der Abzug der Israelis mit Raketen aus Gaza beantwortet?
 
Israel hat sich einerseits aus Gaza zurückgezogen, da der Verbleib der Siedler zu hohe Kosten hatte. Und zum anderen, um den Gazastreifen mit seinen riesigen Problemen und als dicht besiedeltes Gebiet los zu werden. Das heißt, die Motivation war nicht ein Friedenswille.
Außerdem erfolgte nach dem Räumen der illegalen Siedlungen sofort die Abriegelung. Im Grunde also eine Fortsetzung der Besatzung, ohne den Boden zu betreten.
Darüber hinaus griffen die israelischen Streitkräfte ständig den Gazastreifen mit Ihren F16-Bombern an, um gezielte Exekutionen oder die Bombardierung von staatlichen Gebäuden durchzuführen. Das führte dazu, dass die betroffenen palästinensischen Organisationen mit Raketen als Vergeltung antworteten.
 
Welche Lösung können Sie sich vorstellen?
 
In 2 Schritten: 1. Aufhebung des Embargos über den Gaza Streifen, damit die Menschen ein normales Leben führen können.
2. Israel muss sich bereit erklären sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, inkl. Ostjerusalem.
 
Glauben Sie, dass die Friedensverhandlungen weiter gehen werden? Mit den USA?
 
Die US-Regierung scheint keine Lust mehr zu haben, noch mehr Zeit und Aufwand zu investieren, außer wenn Israel Zugeständnisse signalisieren würde. Denn die sogenannten Friedensverhandlungen, wie sie von Israel in den letzten 15 Jahren geführt wurden, sind sinnlos und dienen nur dem Zeitgewinn, nämlich um mehr Zeit für den Siedlungsausbau in der Westbank und in Ostjerusalem zu haben. Das schafft Facts on the Ground und erweitert stetig die Verhandlungsmasse.
 
Was wäre die Grundvoraussetzung für eine Deeskalation bzw. einen konstruktiven Weg?
 
1.         Die Aufhebung der Blockade - inkl. Seeblockade - des Gazastreifens, um ein normales Leben in Gaza zu ermöglichen.
2.         Die Bereitschaft sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen und sich somit der Internationalen Resolution 338 nach so vielen Jahren zu unterwerfen, d.h. Auszug aus der Westbank und Ostjerusalem inkl. dem Abbau der Siedlungen.
3.         Eine Lösung für das Problem der 6000 Inhaftierten finden. Vor allem für die vielen, die ohne Gerichtsurteil in israelischer Haft für mehrere Jahre gefangen sind.
 
In Israel wird argumentiert, dass bei einer Einigung auch Israelis auf palästinensischem Gebiet leben können müssen, so wie es Palästinenser in Nordisrael tun beispielsweise. Das zielt sicher auf einige große Siedlungen in der Westbank ab. Was halten Sie davon?
 
Erstmal muss geprüft werden, auf welchem Boden diese Siedlungen gebaut wurden. Alles, was nicht auf legitimem Wege erbaut wurde, muss an die ursprünglichen palästinensischen Eigentümer oder die Erben zurückgehen. Der Rest, also Menschen auf gekauftem Grund, kann entschädigt werden oder unter Umständen auch als Bürger Palästinas akzeptiert werden. Es werden nicht mehr als ein paar Tausend sein. Aber dann müssen für alle die gleichen Rechte und Pflichten gelten und es darf keine Privilegien für bestimmte Bürger mehr geben. Abgeschafft werden muss die Steuerfreiheit, die Zuteilung von Unmengen an Wasser sowie die Umzäunung von Siedlungen etc., wie es die Siedler unter israelischer Herrschaft genießen. Ohne diese Privilegien kann ich es mir aber schwer vorstellen, dass Siedler Interesse an einem Leben wie die Palästinenser haben würden.
 
Ihre Forderungen richten sich vor allem an Israel. Warum geben Sie dem Staat den größeren Teil der Verantwortung?
 
Natürlich, den größeren Teil der Verantwortung trägt Israel, da es als Besatzungsmacht all diese Ungerechtigkeiten, die Maßnahmen zum Erschweren des Lebens der Palästinenser, das Annektieren von Ackerland in der Westbank und in Ostjerusalem, die Zerstörung von Häusern, die Enteignung von Eigentümern durch das Abwesenheitsgesetz, etc. implementiert hat. Das sind alles von Israel erfundene Maßnahmen, die alle Palästinenser in ihrer Existenz treffen.
Wenn Israel sich aus den besetzten Gebieten inklusive Ostjerusalem im Laufe des Friedensabkommens von 1993 zurückgezogen hätte, wäre die Lage niemals so eskaliert und das aktuelle Niveau der Auseinandersetzung wäre niemals erreicht worden. Denn die Palästinenser hatten vor der ersten 1. Intifada friedlich protestiert, aber erfolglos. Es gab bis zur 2. Intifada im September 2000 keine bewaffneten Flügel von Fatah und Hamas. Aber bis zum Jahr 2000 wurde von der Seite Israels nicht das Oslo-Abkommen von 1993 umgesetzt, das heißt die Umsetzungsfrist war schon seit zwei Jahren abgelaufen. Die Lösung lag seit spätestens 1993 in den Händen von Israel, indem Israel sich aus dem ohnehin kleinen Anteil des historischen Teils Palästinas (Gaza Streifen und Westbank stellen 22% des historischen Palästinas) zurückzog.
 
Halten Sie eine Versöhnung von Israelis und Palästinensern für möglich?
 
Ich halte eine Versöhnung für möglich, wenn Israel Abschied von seiner Apartheidpolitik und Siedlungspolitik nimmt und das Recht der Palästinenser auf ein Leben in Freiheit und Würde in ihrem Land akzeptiert.
 
Herr Abuelqomsan, danke für Ihre Einschätzung und alles Gute für Sie und Ihre Familie! (PK)
 
 
Sabine Schiffer ist Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit dem Islambild in deutschen Medien und „Hate Speeches“ (sinngemäß übersetzt: „Hassreden“) in islamfeindlichen Blogs. Im November 2005 gründete sie das unabhängige Institut für Medienverantwortung (IMV) in Erlangen, das sie bis heute leitet und mit freien Mitarbeitern betreibt.
http://www.medienverantwortung.de/
 


Online-Flyer Nr. 469  vom 30.07.2014

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