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Inland
Das Mittelmeer ist das große Menschengrab von Europa - und der ARD-Rommel-Film
Wem Rassismus nützt
Von Jutta Ditfurth

Am 8. November hat Jutta Ditfurth im Zusammenhang mit dem "Demonstrativen Spaziergang gegen Rassismus und Polizeigewalt" in Frankfurt/Main die hier folgende Rede gehalten, die wir hier ungekürzt wiedergeben. Am Abend des 9. November, pünktlich zum 75sten Jahrestag der Reichspogromtage und -nächte vom 6.-13. November 1938, hat sie im ARD-Programm dessen "Film-Highlight" über Hitlers Generalfeldmarschall Erwin Rommel gesehen. Dazu hat Jutta Ditfurth uns einige Anmerkungen geschickt, die wir unter ihrer Frankfurter Rede wiedergeben. - Die Redaktion

Jutta Ditfurth auf dem "Demonstrativen Spaziergang" in Frankfurt/Main
Foto: Annette Ludwig
 
Deutschland ist durchtränkt von Antisemitismus und Rassismus. Die Reihe der rassistischen und antisemitischen Anschläge ist endlos: Sarrazin – NSU – Schneeberg – das Vorgehen des Hamburger SPD-Senats gegen die Lampedusa-Flüchlinge – Frontex und die rassistischen Ereignisse, die sich in Frankfurt häufen, sind nur wenige Beispiele.
 
Derege Wevelsiep wurde 2012 in Frankfurt/M. anlässlich einer Fahrscheinkontrolle von U-Bahn-Kontrolleuren und von vier Polizisten beleidigt und so schwer verprügelt, dass er sich im Krankenhaus wiederfand. "Ihr seid hier nicht in Afrika" hat man ihm ins Gesicht gebrüllt. Seit einem Jahr wird ergebnislos ermittelt.
 
Kürzlich wurde ein junger Mann ohne Fahrschein von vier Sicherheitsmitarbeitern der Bahn verprügelt, attackiert, rassistisch beleidigt. Daniel Mack, der ihm zu Hilfe kommen wollte, schrie man zu: "Hau ab, Du Nigger!"
 
Woher kommt Rassismus? Rassismus war anfangs innereuropäisch und farbenblind. Da waren die "weißen" Sklaven der antiken Sklavenhaltergesellschaft, die rassistischen Unterscheidungen zwischen Germanen und Franken, zwischen West- und Osteuropäern sowie zwischen Adel und Bauern. Mit der Versklavung afrikanischer Menschen und dem Kolonialismus klebte sich der Rassismus dann fest an die dunkleren Farben menschlicher Haut. Der Weg von der rassistischen Eugenik vor dem Ersten Weltkrieg – einer weiteren Wurzel des heutigen Rassimus – zu den "Rassegesetzen" der Nazis war nicht weit.
 
Immer geht es beim Rassismus um den Versuch, Herrschaft zu legitimieren, krasse soziale Unterschiede biologisch zu definieren, einen Teil der Menschheit systematisch als minderwertig zu beschreiben, Menschen zu entwerten und auf diese Weise Herrschaft, Krieg, Unterdrückung und Vernichtung zu rechtfertigen.
 
Nicht mit uns!
 
Die Weltwirtschaftskrise schafft Millionen von "Überflüssigen", das heißt für den Kapitalismus "Nutzlose", sogenannte unproduktive Menschen. Damit kein Aufruhr entsteht, keine neuen sozialen Unruheherde, sollen die Erniedrigten, Gedemütigten und Ausgebeuteten gegeneinander gehetzt werden. Das ist ein wesentlicher Zweck des Rassismus und hat in Deutschland eine lange Tradition.
 
Die reale oder eingebildete Angst vor dem sozialen Niedergang macht das deutsche Bürgertum und das Kleinbürgertum aggressiv. Hetzbilder von fremden, dunkelhäutigen Menschenmassen stabilisieren die herrschende Ordnung, die eine Ordnung struktureller Gewalt und sozialen Terrors ist.
 
Das Mittelmeer ist das große Menschengrab von EU-Europa. Rund 1.500 Menschen ertranken im Jahr 1912 auf dem Passagierdampfer "Titanic". Darunter übrigens die meisten Arbeiter im Maschinenraum. Etwa zwanzig Mal so viele Menschen ertranken in den letzten 20 Jahren im Mittelmeer. Über ihr Leben gibt es keine Spielfilme, kaum Dokumentationen, wenige Bücher.
 
Das Mittelmeer ist das große Menschengrab der Neuzeit. Der Friedhofswächter, mitbezahlt und aufgerüstet von Deutschland, heißt Frontex (1). Dabei handelt es sich auch um deutsche Paramilitärs, die Flüchtlinge jagen und so selbst dafür sorgen, dass der Friedhof sich füllt. Die Vernichtung der Unerwünschten ist lautlos. Die Sprache, in der über ihren Tod berichtet wird, diese seltsame Mitleidlosigkeit verrät den stählernen Willen, so viele wie möglich sterben zu lassen.
 
Eifrig versuchen Staat und Kapital gegenwärtig, die Opfer des Kapitalismus aus dem Blickfeld der Menschen zu schieben, weg in afrikanische Lager. Es sollen hier keine durch Empathie erzeugten Zweifel an den Geschäftsgrundlagen der herrschenden Verhältnisse aufkommen.
 
Wie rassistisch ist Deutschland?
 
Nur ein Messinstrument sind faschistische und rechtsextreme Parteien. Wesentlich aber ist, wie einflussreich faschistisches, antisemitisches und rassistisches Denken in der sonstigen Gesellschaft ist, im Staatsapparat und in großen Teilen des Bürgertums, oft auch in solchen Kreisen, die sich aufgeklärt geben. Beispiele sind die Kumpanei der Staatsschutzorgane mit dem NSU. Die widerliche Art der Medienberichterstattung über die NSU-Morde. Der offene Pakt des Mobs mit der Elite, z.B. in Gestalt der "Alternative für Deutschland", jener "Reinkarnation" der Alldeutschen und Völkischen.
 
Der in Jahrhunderten geformte Untertanengeist ist Produkt und zugleich Garant von Herrschaft. Bevor die meisten Deutschen auf die Idee kommen, den Herrschenden in den Arsch zu treten, ziehen sie hundertmal schneller gegen sozial Schwächere los und am liebsten gegen Menschen nichtgermanischer Herkunft. Rassismus ist ein extrem wirksames traditionsreiches Gift.
 
EU-Europa ist, unter deutscher Führung, eine feindselige, rassistische "Gated Community" geworden, eine gegen Flüchtlinge und Migranten verbarrikadierte, waffenstarrende Gemeinschaft, in deren Inneren sich soziale Segregation und Ghettoisierung breit machen.
 
Auch wenn wir in Frankfurt über Rassismus diskutieren, greifen wir viel zu selten den Rassismus und den Antisemitismus der Oberschicht, der "feinen Leute", der Ideologen, der faschistischen Intellektuellen an. Aber Dumpfbacken, Knobelbecher-Nazis und – z.B. – die Ideologen der "Alternative für Deutschland" sind eins: Kennen wir den Pakt von Mob und Elite nicht aus der deutschen Geschichte?
 
Für Rassisten und Rassistinnen, ob Mob oder Elite, ob in Knobelbechern oder Nadelstreifen, ob auf der Straße oder im Parlament, in Banken, Schulen oder bei der Bahn: Für Rassisten und Rassistinnen in Frankfurt gilt: NO PASARAN! (PK)
 

Hitlers Generalfeldmarschall Erwin Rommel
Quelle: wikipedia/Bundesarchiv
Am Tag danach: Der Rommel-Abend im Ersten
 
Die ARD, das erste öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm, hat es ungeheuerlicherweise fertig gebracht, ausgerechnet am 9. November 2013 einen Rommel-TV-Abend zu veranstalten. Dies ist nur ein Element in dem langjährigen Versuch, nicht-jüdische Deutsche mehr und mehr als Opfer, und Generäle – wie Rommel – als bedauernswerte, gebrochene Männer darzustellen, die doch nur das Beste "für Deutschland" wollten. Die Blutspur, die sie durch Europa zogen, bleibt nebensächlich. Zu den geschichtsklitternden "Informationen" über die Reichspogromtage und -nächte vom 6.-13. November 1938 gehören auch Filme wie "Die Flucht", "Dresden" und "Unsere Mütter, unsere Väter". (PK)
 
(1) Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, französisch: Agence européenne pour la gestion de la coopération opérationnelle aux frontières extérieures
 
Als Gegenmittel und Mittel der Aufklärung empfehle ich diese Bücher:
 
Markus Roth, Sascha Feuchert, Christiane Weber (Hg.):
Eine Nacht im November 1938 - Ein zeitgenössischer Bericht von Konrad Heiden
Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 192 Seiten, 19,90 Euro
 
Raphael Gross: November 1938 - die Katastrophe vor der Katastrophe, C.H. Beck Verlag, München 2013, 128 Seiten, 8,95 Euro, auch als e-book erhältlich
 
Mehr Infos auf: www.jutta-ditfurth.de und https://www.facebook.com/Jutta.Ditfurth


Online-Flyer Nr. 432  vom 13.11.2013

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