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Glossen
Ist mit uns Deutschen ein Staat zu machen?
Mein Wahlsonntag
Von Volker Bräutigam

Hab ich nicht mindestens dreimal mitgeteilt, ich wolle nicht wählen, sondern allenfalls eine ungültige Stimme abgeben? Warum also fragt mich dann meine geliebte Frau an diesem herbstlichen Septembersonntagmorgen anno 2013, was ich mittags zu speisen wünschte: Pilzsuppe und hernach Pflaumenauflauf aus deutscher Küche, oder doch lieber Pflaumensuppe und danach gebratene Steinpilze auf Reis, chinesisches Rezept? Gut, in unserem Haushalt ist sie eh Chefin, ich bin nur fürs Grobe und fürs Bezahlen zuständig. Was also fragt sie mich am Vormittag, wenn doch mein Wählerwille erst punkt 18 Uhr bekannt gegeben werden darf und hernach eh alles erst mal wieder vorbei ist? Entsprechend werde ich meine Antwort hier am Ende des Textes mitteilen.
 
„... Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, alles zu werden, strömt zuhauf!...“ Und was passiert? Zuhauf nicht strömten, sondern schritten sie, und nur zum Wahllokal, diese sonntäglich Gekleideten. Pustekuchen: „...reinen Tisch macht mit dem Bedränger!“ Es zog sie nur zu einem die Herrschaft der Eliten bestätigenden Spektakulum, zu dem sie alle vier Jahre mal eingeladen werden. Glaubte auch nur einer von ihnen im Ernst, an den herrschenden Verhältnissen etwas ändern zu können?
 
Was für ein Wahlsonntag! Tränen gelacht hab ich immerhin über unsere Promi-Journaille und ihre konstante Weigerung, auch nur eine Sekunde lang kritische Reflexion aufkommen zu lassen. Dies jedoch mit so bedeutungshochschwangerem Ausdruck, dass sie schier aus allen Nähten platzten. Unübertrefflich z.B. ZDF-Marietta Slomkas investigative Sonntagsfrage: „Woran hat´s gelegen?“ Und darauf die Antworten der Vollpfosten unterschiedlichster Parteicouleur: „Das müssen wir erst analysieren“. „Jetzt müssen die Gremien beraten.“ „Da müssen wir nun darüber nachdenken“. Au weia, mein Zwerchfell!
 
Allein der Blick auf die Gesichter der FDP-Granden war mir ausnahmsweise den Zeitverlust vor dem TV-Bildschirm wert. Diese Glubschaugen! Betroffenheitsbesoffene! Nur der Leuthäuser-Schnarrenberger galt mein Restrespekt, weil sie wenigstens manchmal in den verflossenen vier Jahren versucht hatte, Schlimmeres zu verhüten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten ... Doch kaum war sie aus dem Bild, konnte man die Realsatire schon wieder in vollen Zügen genießen, dieses Änschiii-Programm als Solches, mit Trittin- und Gabriel-Beilagen im Politikersatzquadrat. Und mit einem Gysi, der wohl was genommen hatte, denn für seine Lachnummer „Jetzt ist es vorbei mit der Ausgrenzeritis!“ musste man ihn zumindest bisher für zu gescheit halten: Die Ausgrenzeritis hängt ja nicht davon ab, wie weit seine Partei bei welchen Spielchen aus der Kurve fliegt, sondern davon, dass sie nicht in die Nato eintritt und sich ihr soziales Rest-Rückgrat nicht wegoperieren lässt. Mit seiner Parodie auf die erhoffte Rolle als „Oppositionsführer“ – von wegen drittstärkste Kraft im Parlament – kam er der Wirklichkeit immerhin etwas näher. Wäre das ein Gas gewesen, der Gysi hätte abgehoben wie Graf Zeppelin...

Sonntagswahl: Bei der antidemokratischen 5%-Hürde vor dem parlamentarischen Minimalerfolg kann es doch gar nicht um einen Wettbewerb unterschiedlichster politischer Ideen gehen, sondern nur um das Bölken der Platzhirsche. Wenn die dann auch noch in die TV-Wahl“arena“ gelassen werden, haben wir die personifizierte Postdemokratie auf dem Bildschirm. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ...ausgeübt“. Am Arsch die Räuber!  Seit einem halben Jahrhundert enthält unser Grundgesetz zwar die ausdrückliche Möglichkeit, Volksentscheide zu veranstalten. Und was passiert? Sonntagswähler schreiten zu den Urnen. Und Sonntagsjäger gehen auf die Platzhirschpirsch. Ist mit uns Deutschen ein Staat zu machen?

„Der Wähler entscheidet.“ Meine geliebte Frau behauptet das von mir auch gern. Heute schon wieder. Ich hatte mich für das chinesische Menü entschieden. Bekomme aber das deutsche. Meine Frau hatte das nämlich schon vorbereitet, bevor sie mich fragte. Postdemokratie, wohin man schaut. (PK)


Online-Flyer Nr. 425  vom 25.09.2013

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