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Globales
Interview zur Schließung des Flüchtlingslagers Choucha in Tunesien
Zurückgelassen in der Wüste
Von Martin Dolzer und Peter Kleinert

Seit 6 Tagen sind 3 junge Menschen aus Deutschland (Sarah Weber, Frieder Kleinert) und Tunesien (Walid Bouraoui) im Rahmen des Projektes "Choucha in Limbo" im Flüchtlingslager Choucha, um die Situation der dort lebenden Menschen in einem Film zudokumentieren. Das Lager befindet sich in der Wüste, im Süden Tunesiens, 6 km von der lybischen Grenze entfernt. Martin Dolzer hat zur Situation der 530 Menschen in dem Lager ein Interview mit Conni Gunßer vom Flüchtlingsrat gemacht, von der wir auch einige Fotos erhalten haben.

Die Flüchtlinge im Lager Choucha protestieren gegen dessen Schließung
Alle Fotos: Choucha in Limbo
 
Die aktuell im Choucha Camp lebenden 530 Menschen stammen allem aus subsaharischen Ländern wie Sudan/Dafur, Tschad und Somalia, aber auch aus Staaten wie Libyen, Pakistan und Palästina. Darunter 46 Frauen und 59 Kinder/Säuglinge. Diese Menschen sind aus den verschiedensten Gründen, wie Krieg oder Armut, aus ihren Herkunftsländern geflohen, viele nach Lybien. Aufgrund der Krieges dort (2011) mussten die Menschen Lybien verlassen und kamen so ins Choucha Camp. Nun warten viele von ihnen schon seit über 2 1/2 Jahren in der Wüste auf die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben in einem sicheren Drittstaat führen zu können. Das Choucha Camp wurde von der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) aufgebaut und am 30.Juni 2013 offiziell geschlossen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass dort weiterhin 530 Flüchtlinge um ihr Überleben kämpfen.
 
Conni Gunßer vom Flüchtlingsrat
 
Martin Dolzer: Die Flüchtlinge aus dem Lager Choucha im Süden Tunesiens, die vor Krieg und Verfolgung in Libyen geflohen sind, befinden sich in einer dramatischen Situation. Wie viele Kriegsflüchtlinge leben dort und wie sind deren Lebensbedingungen?
 
Conni Gunßer: Zu Beginn des Libyenkriegs im Februar 2011, als das Lager Choucha in einem wüstenähnlichen Gebiet an der tunesisch-libyschen Grenze vom UNHCR (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) eröffnet wurde, befanden sich dort bis zu 20.000 Flüchtlinge, vor allem aus Subsahara-Afrika. Sie hatten als ArbeitsmigrantInnen oder im Transit Richtung Europa in Libyen gelebt und flohen vor den Bombardierungen der NATO und vor Massakern vor allem gegen Schwarze. Die Mehrheit dieser Menschen ist mehr oder weniger freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, andere versuchten, unter Lebensgefahr per Boot Europa zu erreichen. Ein geringer Teil - etwa 3.500 - wurde per sogenanntem Resettlement in Drittstaaten umgesiedelt. Ende Juni waren noch etwa 530 Flüchtlinge im Lager.
 
Die Lebensbedingungen in Choucha waren schon immer äußerst hart: im Sommer unerträgliche Hitze, im Winter eiskalte Nächte, Sandstürme, Skorpione und Schlangen, schlechte Wasser-, Essens- und medizinische Versorgung. Dazu kamen z.B. im Mai 2011 pogromartige Angriffe von Teilen der Bevölkerung des Nachbarorts, bei denen mehrere Menschen getötet und verletzt wurden.
 
Seit etwa einem halben Jahr hat sich die Situation im Camp gravierend verschlechtert, vor allem für die noch im Camp lebenden Geflüchteten, deren Asylanträge wegen fehlerhaft durchgeführter Verfahren abgelehnt wurden. Sie erhalten seitdem keinerlei Nahrungsmittel mehr. Letzteres gilt seit dem 1. Juli auch für alle anderen Flüchtlinge, die noch im Camp Choucha ausharren. Inzwischen wurden auch die Toiletten abgerissen und die Wasser- und Elektrizitätsversorgung gekappt. Das heißt, die Menschen werden ausgehungert und ohne Wasser zum Sterben verurteilt.
 
Ende Juni 2013 sollte das Lager in der Wüste geschlossen werden – ohne eine Lösung für den größten Teil der noch dort verbliebenen Menschen. Welche Perspektive haben die Betroffenen danach?
 
Da Europa sich weigert, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und vom UNHCR das Resettlementprogramm mit Ende des Libyenkriegs abgeschlossen wurde, bleiben für die meisten der verbliebenen Flüchtlinge nur wenige Perspektiven: Zurück in ihre Herkunftsländer können die meisten nicht, entweder weil sie dort verfolgt wurden und/oder weil sie durch ihren z.T. jahrzehntelangen Aufenthalt in Libyen gar keinen Bezug mehr dazu haben. In Libyen sind Schwarze mit Verfolgung und Inhaftierung als angebliche Söldner Gaddafis sowie mit rassistischer Diskriminierung bedroht. Das einzige, was UNHCR den anerkannten Flüchtlingen, die nicht mehr ins Resettlementprogramm kamen, anbietet, ist "lokale Integration" im Süden Tunesiens mit geringfügigen finanziellen Hilfen, gefördert durch 60.000 Euro aus Deutschland. Dies Programm ist nicht nur wegen der instabilen politischen Lage und der hohen Arbeitslosigkeit in Tunesien zum Scheitern verurteilt, sondern die Flüchtlinge klagen auch über rassistische Beleidigungen und Übergriffe. Außerdem hat Tunesien bis jetzt kein Asylgesetz, und so haben selbst anerkannte Flüchtlinge keinen legalen Status. Sie dürfen sich noch nicht einmal frei bewegen in Tunesien, ohne von Polizei aufgehalten zu werden. Noch gravierender ist die Situation der abgelehnten Asylsuchenden, die in die Illegalität getrieben werden und täglich von Inhaftierung und Abschiebung bedroht sind.
 
Ende März haben Flüchtlinge in Tunis einen Hungerstreik begonnen. Mit welchen Forderungen und welchem Ergebnis?
 
Der Hungerstreik von etwa 50 bis 100 anerkannten Flüchtlingen, denen das Resettlement verwehrt wurde, war nicht die erste Aktion der Menschen in Choucha. Im Lager selbst gab es mehrfach Proteste, im Januar 2013 belagerten etwa 100 abgelehnte Asylsuchende eine Woche lang das UNHCR-Gebäude in Tunis, und während des Weltsozialforums im März 2013 in Tunis traten Geflüchtete in Workshops auf und demonstrierten am Eingang des Geländes. Die Abgelehnten fordern die Wiederaufnahme ihrer Asylverfahren, und gemeinsam mit den Anerkannten verlangen sie die Aufnahme in einem Land, in dem ihre Rechte garantiert sind. Leider hat auch der Hungerstreik den UNHCR nicht bewegt, diesen Forderungen nachzugeben. Ursula Schulze-Aboubacar, die (deutsche) Vertreterin des UNHCR in Tunis, verlautbarte auf einer Pressekonferenz im März, der UNHCR sei kein Reisebüro. Das fordert ja auch niemand, aber seine Aufgabe ist der Schutz von Geflüchteten! Sowohl UNHCR als auch die tunesische Regierung scheinen sich aber eher den Forderungen der EU-Flüchtlingspolitik zu unterwerfen, deren Ziel es ist, den Zugang nach Europa für Unerwünschte abzuschotten und den Flüchtlingsschutz in Länder an den Rändern der EU auszulagern.

Choucha-Flüchtlinge vor dem UNHCR in Tunis
 
Der Hungerstreik wurde inzwischen abgebrochen, aber die Flüchtlinge sind in wechselnder Zahl weiter vor dem UNHCR-Sitz in Tunis präsent, belagern den Eingang und stellen ihre Forderungen. Sie organisieren zusammen mit tunesischen Organisationen weiter Pressekonferenzen, sogenannte Sit-ins vor Ministerien und der EU-Vertretung in Tunis.
 
Zahlreiche antirassistische Gruppen haben die Forderungen der Flüchtlinge nach Resettlement in Europa in den vergangenen zwei Jahren mit diversen Aktionen unterstützt. Hatte das Erfolg?
 
Schon im Mai 2011 war ich mit einer Delegation aus Mitgliedern verschiedener migrationspolitischer Netzwerke in Choucha und wir haben dort Interviews gemacht. Anschließend an die Reise veröffentlichten wir zusammen mit Pro Asyl und medico international einen Appell "Voices from Choucha", den mehr als 2.000 Menschen unterschrieben haben. Das und weitere Aktionen trugen - neben den Protesten der Flüchtlinge - dazu bei, dass die deutsche Innenministerkonferenz im Dezember 2011 den Beschluss fasste, 200 Menschen aus Choucha hier aufzunehmen. Es fanden auch koordinierte Aktionen vor verschiedenen UNHCR-Büros in Europa statt. Leider haben all diese Aktionen nicht dazu geführt, dass weitere Flüchtlinge aus Choucha hier aufgenommen wurden.
 
Zurzeit leben 300 Kriegsflüchtlinge aus Libyen auf Hamburgs Straßen. Die EU hatte vor dem Krieg in Libyen angekündigt, 300.000 Flüchtlinge aus Libyen aufzunehmen. Nun sind ca. 60.000 gekommen. Was sind die Forderungen des Flüchtlingsrats bezüglich dieser Thematik?
 
Die 60.000 Libyen-Flüchtlinge - sehr wenig im Vergleich zu den 500.000, die z.B. Tunesien aufgenommen hat - kamen alle "uneingeladen" per Boot nach Europa und nur die wenigsten von ihnen sind bis nach Deutschland gelangt. Die sogenannte Dublin II-Verordnung verlangt, dass Flüchtlinge im Ersteinreiseland ihren Asylantrag stellen und bei Weiterwanderung dorthin zurück geschickt werden können. Das soll laut Landes- und Bundesregierung auch mit den Kriegsflüchtlingen, die sich "Lampedusa in Hamburg" nennen, geschehen. Wir unterstützen die Flüchtlinge in ihrer Forderung nach einem humanitär und völkerrechtlich begründeten Aufenthaltsrecht in Deutschland gemäß §23 Aufenthaltsgesetz. Darüber hinaus fordern wir die Abschaffung der Dublin-Verordnung, die freie Wahl des Aufenthaltsortes und Bewegungsfreiheit für alle - hier und anderswo. – Ende des Interviews.
 
Aktuelle Ergänzungen von Conni Gunßer
 
Seit dem 30.06.2013 ist in dem offiziell geschlossenen Lager auch der Strom abgestellt. Sowohl die UNHCR als auch der tunesische Staat entziehen sich seitdem komplett der Verantwortung, diesen Menschen Hilfe zu leisten.
Die Situation spitzt sich dramatisch zu. Ohne genügend Wasser, Essen und Strom ist an ein menschenwürdiges Leben nicht mehr zu denken. Das steht im Widerspruch zu den in der Präambel der Charta der Vereinigten Nationen formulierten Zielen.
Heute (am 6. Juli) fand eine Demonstration der Flüchtlinge gegen die unterlassene Hilfeleistung der Verantwortlichen (UNHCR/Staat Tunesien/EU) vor dem Camp statt. Es war das erste Mal, dass sich Vertreter aller Gruppierungen und Nationalitäten aus dem Lager organisiert hatten und anwesend waren. Nun werden weiter Gesprächsrunden geplant, um gemeinsam für eine Lösung der Problematik zu kämpfen.
 
Die Forderungen der Flüchtlinge sind:
– Funktionierende Wasser-, Nahrungs- und Stromversorgung im Camp
– Bewilligung des Rechts auf Asylschutz
– Aufnahme in ein sicheres Drittland für alle im Camp lebenden
Wir fordern die UNHCR, aber auch die Europäische Union und die Medien dazu auf, diese Forderungen ernst zu nehmen, sofortige Hilfe zu leisten und die Menschen in Choucha nicht zu vergessen! (PK)
 
Hier die Facebook-Seite der eingangs erwähnten jungen Filmemacher des Projektes "Choucha in Limbo" mit aktuellen Infos: https://www.facebook.com/choucha3006
 


Online-Flyer Nr. 414  vom 10.07.2013

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