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Sport
Einig mit dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung
Fußball-EM als Mobilisierungsmittel gegen Ukraine
Von Hans Georg

Äußerungen prominenter deutscher Fußballspieler zur Lage in der Ukraine heizen die beginnende Massenkampagne gegen die Regierung in Kiew an. Wie der Kapitän der Fußball-Nationalmannschaft erklärt, finde er seine Ansichten etwa "zu demokratischen Grundrechten" in "der derzeitigen politischen Situation in der Ukraine nicht wieder". Aus dem DFB heißt es, Spieler und Funktionäre würden sich in den kommenden Tagen und Wochen noch öfter zu Wort melden und die ukrainische Regierung kritisieren. Dabei handele man in enger Absprache mit der Bundesregierung.

Joachim Löw fordert "humanitären Umgang mit Frau Timoschenko"
Quelle: www.southafrika2010.de
 
Die außenpolitische Nutzung von Fußball-Idolen eröffnet dem Auswärtigen Amt neue Möglichkeiten, breite Massen für seine Strategien zu nutzen. Dabei ist die entsprechende Agitation präzise abrufbar: Während die ukrainische Regierung attackiert wird, unterbleiben alle Einwände gegen das diktatorisch regierte Qatar, dessen Streitkräfte im vergangenen Frühjahr an der Niederschlagung demokratischer Proteste in Bahrain beteiligt waren. Qatar trägt die Fußball-WM 2022 aus; Anfang 2012 absolvierte ein Bundesliga-Spitzenclub ein Trainingsspiel gegen die Armee-Mannschaft von Qatar. Kritik wird dem DFB vom Auswärtigen Amt nicht nahegelegt, da das Land zu den engsten Kooperationspartnern Berlins in Mittelost gehört.
 
Deutlich positioniert
 
Mehrere prominente deutsche Fußballspieler haben sich in den letzten Tagen in die beginnende Berliner Massenkampagne gegen die ukrainische Regierung eingeschaltet. Schon am Wochenende ließ sich der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Philipp Lahm, mit der Erklärung zitieren, seine "Ansichten zu demokratischen Grundrechten, zu Menschenrechten, zu Fragen wie persönlicher Freiheit oder Pressefreiheit" finde er "in der derzeitigen politischen Situation in der Ukraine nicht wieder".[1] Der ehemalige Nationalspieler Christoph Metzelder äußerte kurz darauf, er sei sich "sicher", dass Trainer und Manager des Nationalmannschaft "sich gemeinsam mit der ganzen Mannschaft deutlich positionieren" würden, "auch als Zeichen an das ukrainische Volk".[2] Am gestrigen Montag hat sich nun Bundestrainer Joachim Löw zu Wort gemeldet. Löw verlangt, "Pressefreiheit", "Meinungsfreiheit", ein "Schutz für Minderheiten" und ein "humanitärer Umgang mit Frau Timoschenko" müssten überall gewährleistet sein.[3] Ähnlich hat sich schon zuvor der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) vernehmen lassen.
 
"Wirklich vorbildlich"
 
Die Äußerungen der Nationalspieler und ihres Trainers erfolgen in enger Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt. Wie DFB-Präsident Wolfgang Niersbach brieflich bestätigt, befinde er sich "im Dialog mit Markus Löning, dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung". Dessen Büro ist dem Außenministerium zugeordnet. Niersbach zufolge hat Löning bei einer Zusammenkunft am 13. April ganz "ausdrücklich begrüßt, dass sich der DFB in der Frage der Achtung von Bürger- und Menschenrechten eindeutig positionieren wird". Der Menschenrechtsbeauftragte zollt dem DFB im Rundfunk Lob: Der Verband verhalte sich mit seinen offensiven Forderungen an die Regierung der Ukraine "wirklich vorbildlich", sagte er jüngst im Deutschlandradio.[4] Während der Vorbereitung auf die EM erhalten die Spieler, heißt es in Berichten, "eine politische Einstimmung auf die beiden Gastgeberländer".[5] Der Manager der Nationalmannschaft hat ihnen bereits ein Interview mit dem DFB-Präsidenten zusenden lassen, in dem dieser deutliche Kritik an der Regierung der Ukraine übt. Zudem sind die Spieler ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass - im Unterschied zu anderen Sportereignissen - im ukrainischen Fall Äußerungen, die sich gegen die Regierung in Kiew richten, keinerlei Einschränkungen seitens des DFB unterliegen. Der Parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Volker Beck, erklärt: "Ich erwarte lautstarke Kritik von den Sportlern."[6]
 
Selektive Kritik
 
Die lautstarken Beschwerden des DFB und der deutschen Nationalmannschaft über die Lage in der Ukraine sind nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sich Verband und Spieler weder zum Zeitpunkt der Vergabe noch während der Qualifikationsphase kritisch über das Land äußerten. Als Polen und die Ukraine im April 2007 den Zuschlag für die Ausrichtung der EM erhielten, waren in Kiew noch prowestliche Kräfte an der Macht; Julia Timoschenko wurde im Dezember 2007 zum zweiten Male Ministerpräsidentin. Noch vor ihrem Sturz im März 2010 monierten Menschenrechtsorganisationen die miserable ärztliche Versorgung von Häftlingen in der Ukraine, unter der Timoschenko heute offenbar selbst leidet. Zu den über 350 Todesfällen in ukrainischer Haft allein 2010, die Amnesty International "auf mangelnde oder unsachgemäße medizinische Behandlung" zurückführte - die Verantwortung für sie trägt weitgehend noch die bis März 2010 amtierende Regierung Timoschenko -, war von Nationaltrainer und DFB nichts zu hören. Dasselbe trifft auf einen ausführlichen Bericht zu, den die weltweit tätige Fußballergewerkschaft Fifpro publizierte. Darin wurden nicht zuletzt rassistische Übergriffe ukrainischer Fans moniert; Stellungnahmen deutscher Fußballer dazu sind nicht bekannt, obwohl es auch in deutschen Stadien regelmäßig zu rassistischen und antisemitischen Aggressionen kommt.
 
Zu Gast bei Freunden
 
Kritische Stellungnahmen blieben ebenfalls aus, als mehrere deutsche Vereine in der vergangenen Winterpause ihr Trainingslager in Diktaturen auf der Arabischen Halbinsel aufschlugen. So behielt es Nationalmannschafts-Kapitän Philipp Lahm für sich, ob er seine "Ansichten zu demokratischen Grundrechten" oder "zu Menschenrechten" in Qatar wiederfinden konnte, wo sein Verein sich auf die Bundesliga-Rückrunde vorbereitete. In Qatar werden bis heute brutale Körperstrafen verhängt; ein gewähltes Parlament auf Landesebene existiert schlicht nicht. Wirtschaftskreise weisen darauf hin, dass der Emir von Qatar die dürftigen Freiheitsrechte in dem Land abzubauen beginnt und die staatliche Überwachung dort als die schärfste auf der gesamten Arabischen Halbinsel gilt.[7] Auch der Club von Ex-Nationalspieler Christoph Metzelder trainierte im Winter in Qatar und führte dort ein Testspiel gegen die Armee-Fußballmannschaft durch. Die qatarischen Streitkräfte waren letztes Jahr an der Niederschlagung der Proteste in Bahrain beteiligt. Die Vergabe der Fußball-WM 2022 an Qatar hat internationale Kritik hervorgerufen - unter anderem, weil 87 Prozent der Bevölkerung des Landes - es handelt sich um ausländische Arbeitskräfte - faktisch völlig entrechtet sind und als "moderne Sklaven" gehalten werden (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Der DFB hat sich mittlerweile auch über die Vergabe der Fußball-WM an Qatar beschwert - weil Korruption bei der Vergabe den Ausschlag gegeben habe und die klimatischen und infrastrukturellen Bedingungen in dem Wüstenstaat unzureichend seien. Von Protesten seitens des DFB oder von Nationalspielern in Sachen Demokratie und Menschenrechte in Qatar, einem engen Partner der Berliner Außenpolitik, ist nichts bekannt.
 
Kampagnenfähig
 
Die punktgenaue Nutzung des DFB zu PR-Zwecken im Sinne der deutschen Außenpolitik - beim aktuellen Streit mit Kiew geht es zuvörderst um dessen außenpolitische Loyalitäten [9] - eröffnet Berlin neue Spielräume. Bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland ist es gelungen, einen angeblich aufgeklärten und weltoffenen deutschen Nationalismus zu etablieren.[10] Er ließ sich bei populären Fußball-Events (EM 2008, WM 2010) problemlos abrufen und dürfte auch bei der bevorstehenden EM im weit überwiegenden Teil der deutschen Bevölkerung Zustimmung finden. In der Kampagne gegen die ukrainische Regierung verbindet sich der neue "Fußball-Nationalimus" mit Aggressionen gegen ein fremdes Land, die - verkleidet als "Einsatz für die Menschenrechte" - auf Zustimmung in breiten Massen stoßen. Das Vorgehen ist erprobt: Im Jahr 2008 kam es anlässlich eines Sportevents, der Olympiade in Beijing, zu einer Massenkampagne gegen die chinesische Regierung. Damals war Berlin ebenfalls direkt involviert - unter anderem über diverse Vorfeldorganisationen der deutschen Außenpolitik (german-foreign-policy.com berichtete [11]).
 
Europaweit

DFB-Präsident Wolfgang Niersbach hofft laut www.ran.de auf ein "Umdenken der ukrainischen Regierung im Umgang mit Julia Timoschenko"
Quelle: Sport-Informations-Dienst, Köln
 
Dabei zielt Berlin diesmal ausdrücklich darauf ab, die Öffentlichkeit europaweit unter deutscher Führung zu mobilisieren - mit Hilfe des europäischen Fußballverbandes UEFA. Wie DFB-Präsident Niersbach mitteilt, habe er "schon frühzeitig die UEFA darauf hingewiesen, sich als Ausrichter der Europameisterschaft" in Sachen Timoschenko "klar zu positionieren". Nationalelf-Kapitän Philipp Lahm verlangt von UEFA-Präsident Michel Platini, er müsse "Position beziehen".[12] Dasselbe fordert der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning. Das Vorgehen Berlins entspricht der inzwischen offen proklamierten Überzeugung im deutschen Establishment, man habe die Führungsrolle in der EU und müsse diese nun realisieren (german-foreign-policy.com berichtete [13]). Eine europaweite Massenkampagne gegen die ukrainische Regierung trüge diesem Anspruch Rechnung.
 
Anlässlich der beginnenden Massenkampagne gegen die Regierung in Kiew berichtet german-foreign-policy.com in den kommenden Wochen in lockerer Folge über die historische und die aktuelle Bedeutung der Ukraine für die Berliner Politik.
 
[1] Philipp Lahm kritisiert ukrainisches Regime; www.spiegel.de 05.05.2012
[2] Redefreiheit für die deutschen Spieler; www.faz.net 06.05.2012
[3] Bundestrainer Löw mahnt Menschenrechte in der Ukraine an; www.welt.de 07.05.2012
[4] Menschenrechtsbeauftragter gegen Boykott der Fußball-EM; www.dradio.de 26.04.2012
[5] Redefreiheit für die deutschen Spieler; www.faz.net 06.05.2012
[6] Was wird aus der EM? www.faz.net 21.04.2012
[7] s. dazu Kriegsdrohungen gegen Syrien
[8] s. dazu Zu Gast bei Freunden
[9] s. dazu Zwischen Moskau und Berlin
[10] s. dazu Ein Stück Volksverdummung und Bilanz der Nationalismus-Party
[11] s. dazu Die Fackellauf-Kampagne und Jederzeit mobilisierbar
[12] Philipp Lahm kritisiert ukrainisches Regime; www.spiegel.de 05.05.2012
[13] s. dazu Unter deutscher Führung (I) und Unter deutscher Führung (II)
 
Diesen Beitrag hat uns german-foreign-policy zur Verfügung gestellt
Mehr unter http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58322


Online-Flyer Nr. 353  vom 09.05.2012

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