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Kultur und Wissen
Die braune Soße des Wertkonservativismus von Sarrazin
"Angriff der Eliten"
Von Hans-Dieter Hey

Während die braune Gefahr wieder unübersehbar ist und Nazimorde und -terror Deutschland erschüttern, findet seit Jahren ein weiterer Angriff auf uns statt, der wegen mancher aktueller Ereignisse übersehen wird. Es ist die konservative Revolution der sogenannten Eliten, die die Gesellschaft in vielen Lebensbereichen zunehmend spaltet. Buchautor und Historiker Volker Weiß ist der Überzeugung, das solche Angriffe „von oben“ einer Linie vom 19. Jahrhundert bis heute folgen, und musste sich am 24. November im Kölner NS-Dokumentationszentrum Köln deshalb nochmal mit Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ befassen.
 
Sprachlicher Zündstoff
 
Volker Weiß, Autor des Buches „Angriff der Eliten“, befasste sich mit Thilo Sarrazins sprachlichem Zündstoff, seinen apokalyptischen Untergangs-

Thilo Sarrazin bei der Vor-
stellung seines Buches 2010
Foto: R. Hebstreit/wikipedia
szenarien von Dekadenz, Verfall und Verfremdung in Deutschland. Danach sind dessen Thesen vor allem eines: genauso falsch wie nicht neu. Erschreckend ist, dass diese Thesen offenbar in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, seit sein Buch mit Unterstützung von Spiegel, BILD („Das wird man ja noch sagen dürfen) und manchen Talk-Shows zum Bestseller avancierte. Offenbar zeigt sich dabei in der Mitte der Gesellschaft eine unerschütterliche Ahnungslosigkeit, wenn nicht gar klammheimliche Unterstützung. Letzteres wäre der Worst-Case.
Nach Weiß zielt Sarrazins nationale Untergangsliteratur auf einen politischen Effekt, nämlich den Untergang des Abendlandes. Damit will er Panik erzeugen. Doch dieses Buch „sollte man deshalb nicht zu ernst nehmen. Was man aber nicht unterschätzen darf, sind seine gesellschaftlichen Wirkungen“. Weiß untersuchte deshalb, wie sich manche Endzeitpropheten von heute zum Gestern unterscheiden.
 
Sehr große Ähnlichkeiten zu Sarrazins Buch sieht Weiß im Vergleich zu Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ (1918), das von der Fachwelt heftig kritisiert wurde, zu Edgar Julius Jungs „Die Herrschaft der Minderwertigen“ (1930) oder zu Friedrich Sieburgs „Die Lust am Untergang“ (1954). Zum Kulturpessimismus des Letztgenannten meinte einst Theodor Adorno treffend: „Was Kultur ist, trägt die Spur des Todes“. Sieburg wechselte als Aufsteiger des 3. Reichs nahtlos zum Feuilletonchef der FAZ, als Vorläufer von Marcel Reich-Ranicki. Als Gegenliteratur zur 68er-Bewegung erwähnt Weiß auch den von der Industrie geförderten Arnold Gehlen mit seinem Buch „Moral und Hypermoral“ (1969). Sarrazin hätte auch eine inhaltlich verdächtige Nähe zu dem in rechten Kreisen beliebten Kulturpessimisten und Filmemacher Hans Jürgen Syberberg. 
 
Schuld waren immer die Opfer
 
Allen sei jedoch immer die gleiche Krisendiagnose zu eigen. Schuld seien Kulturverfall, Verlust der nationalen Identität und der Leistungskraft der Nation, was man der sogenannten „Unterschicht“ oder nicht zur „Volksgemeinschaft“ Zugehörigen in die Schuhe schob. Früher sei das noch unverblümt genannt worden. Schuld waren die „Arbeiter, Polen und Juden“. Nach dem Krieg waren es vor allem die Demokratiesierungsversuche der Siegermächte, die Anti-Wiederbewaffnungsbewegung, die 1968er-Bewegung, die Emanzipation oder Selbstbestimmung, die angeblich die deutsche Nation bedrohten. Der Radikalisierung des Konservativismus diente auch die christlich-konservative Denkfabrik „Studienzentrum Weikersheim“, das die Gesellschaft auf antidemokratische Basisstrukturen zurückführen wollte, so Autor Weiß.


Dunkle Untergangsrhetorik für Menschen mit BILD-Gen
Quelle: Titel BILD v. 4.9.2010
 
Weiß beschreibt ein inzwischen umfangreiches rechtes Milieu, beispielsweise auch um die Zeitschrift „Junge Freiheit“, die „Sezession“ die „Blaue Narzisse“, das „Institut für Staatspolitik“ oder die „Konservativ-Subversive Aktion“. „Es sind also eindeutige Kreise, in denen der nationale Niedergang bisher essayistisch beschworen wurde und diese Thesen Schritt für Schritt in die bürgerliche Mitte gewandert sind und mit Thilo Sarrazin selbst in sozialdemokratischen Kreisen hoffähig wurden“.
 
Konservativismus bedeutet immer Spaltung
 
Die Kur der Konservativen wurde immer in der „Ausscheidung der Fremden, minderwertigen Elemente“ gesehen, so Weiß. In der Sarrazin-Debatte erkenne man das zentral in der Empfehlung, die materiellen Zuwendungen für die „als minderwertig Ausgemachten, die Unterschichten“ drastisch zu reduzieren bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf die Nationalität mit „ihrer als Deutsch ausgemachten Schaffenskraft und Produktivität“. Die „soziale Selektion“ führe angeblich zu internationaler Konkurrenzfähigkeit. Solchen Autoren geht es immer um die Spaltung der Gesellschaft, deshalb wählte Volker Weiß auch den Buchtitel „Der Angriff der Eliten“. Die alten Thesen ließen sich auch bei Thilo Sarrazin finden und folgten dem Dreiklang nach dem Politologen Kurt Lenk: „Apokalypse, Dekadenz und Heroismus". Und diesen Dreiklang finde man in aller Faschismusforschung.
 
Im Klappentext des Buches heißt es: "Die Forderung nach 'Elite' hat Konjunktur. Dabei wohnt der Debatte die Tendenz inne, vom Bestehen gesellschaftlicher Funktionseliten auf die Existenz einer generell höher begabten Menschengruppe zu schließen". Die Befähigung zur "Elite" sei daher eine "Rasse" mit vererbter Intelligenz und Veranlagung. Angeblich käme man aus diesem Dilemma nur „durch Opfergänge junger Männer, auch militärisch gewalttätige, die die entgleiste Nation wieder auf das rechte Gleis setzen“, so Weiß. In der rechten, totalitären und reaktionären Literatur findet man das immer wieder. Auch in der islamistischen Literatur, die die islamische Welt durch die westliche Dekadenz als bedroht darstelle. Neu sei dieser konservative Fundamentalismus nicht. Neu sei nur, dass solche Inhalte von einem bekannten Parteimitglied der SPD beschworen würden, der trotzdem in dieser Partei bleiben durfte. Sarrazin habe beispielsweise schon vor seinem Buch von den „40 Prozent Unterschichten-Geburten“ gewarnt, jener „bildungsfernen und von Transfers abhängigen Schicht“, die die Aussichten Deutschlands verdüsterten. 
        
Weiß stellt erstaunliche Parallelen im Vergleich von Edgar Julius Jung („Die Herrschaft der Minderwertigen“, 1930) und Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“, 2010) fest: „Diese finden sich nicht nur in der Stoßrichtung der Argumente und dem ebenso ausführlichen wie selektiven Umgang beider mit empirischen Daten zur Etablierung einer Ideologie der Ungleichheit der Verknüpfung des 'Wertes' und der 'Erbmasse' des Menschen, sondern erstrecken sich bis in die Details.
 
Beide sehen in den äußeren Einflüssen und Prägungen nachrangige Faktoren für die Entwicklung individueller Fähigkeiten und betonen stattdessen die Vererbbarkeit von Begabung. Sarrazin schreibt zu dieser Frage unmissver-ständlich: 'geistige Fähigkeiten unterliegen den Mendelschen Gesetzen'.“ Das Unglück unserer Gesellschaft sei die Kinderlosigkeit von Akademikern und dies bedeute eine "Verschärfung der Gegenauslese". Damit folge Sarrazin in seinem Kulturpessimismus einem rassistisch-eugenischen Diskurs, der bereits im Mittelalter begonnen habe. Doch dies – so Weiß – entbehre jeder historischen Grundlage.
 
Die Klassengesellschaft der Rechten
 
Sarrazins Warnung vor dem Bevölkerungsrückgang und die auf „angebliche Dekadenz, Verweichlichung und Bequemlichkeit abzielende Argumentation“ ähnlich den früheren Texten steche ins Auge. Doch danach wären die Deutschen schon im vergangenen Jahrhundert ausgestorben. Das alles - so Weiß - „verstärkt den Eindruck, dass die hier artikulierten Ängste wenig mit der historischen Situation und viel mit einer nationalistischen politischen Grundhaltung zu tun haben“.
 
Sarrazins Buch ist ein zutiefst antidemokratisches Buch für eine Klassengesellschaft der Führung durch die sogenannte Elite, wozu auch die gehören dürften, die früher wie gegenwärtig wieder einiges an die Wand fahren. In seiner „Rassenhygiene“ sei es „die besondere egalitäre sozialstaatliche Tradition der Bundesrepublik“ gewesen, die „sozusagen den gesunden, vitalen Bodensatz Deutschlands ausgehöhlt hätte“, so Weiß. Er wirft Sarrazin vor, sich auch bei dem sogenannten Intelligenzforscher Volkmar Weiss Referenzen zu holen, der sich im Umfeld der NPD bewegt und der von ihr in eine Kommission in den sächsischen Landtag berufen wurde. Ihm wird vorgeworfen, sich in der Vererbungslehre der NS-Tradition zu bewegen. Offenbar war das nur wenigen aufgefallen.
 
Rechte Opfer als Täter
 
„Thilo Sarrazin inszenierte sich als ein Aufbegehrender gegen eine 'repressive Übermacht'. Sein Gegner war – wie er es nannte – ein Heer der Beschwichtiger und Verharmloser, die Gutmenschen und 68er, gegen die er mit reformatorischer Todesverachtung antrat: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Die 'Junge Freiheit' pries ihn daraufhin auch als neuen Luther beim Anschlag seiner Thesen“, so Weiß.
 
Nachdem das Buch von Volker Weiß bereits einige Monate auf dem Markt war, erschien am 7. Juli 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Text von Sarrazin, in dem er ein gegen seine Thesen gerichtetes Gutachten des Wissenschaftlers Klaus Bade kritisiert: „Der rührende Versuch von Bade und Kollegen, unangenehme Nachrichten von der Integrationsfront zu relativieren, erinnert an die Kriegsberichterstattung im Dritten Reich. Wer die Nachrichten in BBC hörte, um den wahren Frontverlauf zu hören, war kein Wahrheitssucher, sondern machte sich der Wehrkraftzersetzung schuldig.“
 
Dass Sarrazin so weit gehe, erschüttert Volker Weiß. „Zensur, Unterdrückung und Verfolgung ist schlicht und einfach etwas anderes. Und diese Analogie, sich in die Rolle des Widerstandskämpfers zu versetzen, ist eine glatte Unverschämtheit.“ Zur gegenwärtigen Diskussion um die Entwicklung nach Rechts, zu der auch wieder das Buch von Sarrazin diskutiert wird, passt nach Volker Weiß auch ein Artikel in der Zeitung Junge Freiheit vor zwei Wochen. Danach laufe die Diskussion auf „eine gesinnungsethische Endlösung“ hinaus. Dies sei nun die Steigerung auf Thilo Sarrazin. Das ähnele manchen Neonazis, die sich einen Judenstern auf die Jacke hefteten. Es werde von Rechten immer wieder versucht, sich in die Rolle der Verfolgten zu setzen.
 
Das Buch von Volker Weiß ist ein dringend notwendiges Buch zur Aufklärung in der gegenwärtigen Debatte um Rechts. Offenbar sitzen die Gegner von Demokratie, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit im Konservatismus von Schlips und Kragen in einer gefährlichen Nähe zum rechten Spektrum. Deutschland sollte wieder aufmerksam hinschauen. (PK)

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Verlag: Verlag Ferdinand Schöningh
1., Aufl. 2011 (9. März 2011)
141 Seiten, 16,90 Euro
ISBN-10: 3506771116
ISBN-13: 978-3506771117


Online-Flyer Nr. 331  vom 07.12.2011

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