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Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2024  

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Globales
Das Erdbeben und der alltägliche Rassismus und Nationalismus in der Türkei
Werden Hilfsgüter zurückgehalten?
Von Claus Hübner

Das Erdbeben am vorletzten Sonntag mit der Stärke von 7,2 in der Osttürkei in der Region um Van forderte bisher fast 600 Tote. Diese Provinz wird überwiegend von Kurden bewohnt und ist eher eine arme Gegend. Erdbeben sind hier zwar keine Seltenheit, aber dieses Mal war es nach Angaben der Behörden das verheerendste Erdbeben der letzten 20 Jahre.

Quelle: Zaman

Dementsprechend groß sind das Leid und die Not der Bevölkerung vor Ort. Viele Tausend Wohnungen sind zerstört bzw. nicht mehr bewohnbar. Es naht der erste Schnee und die Menschen übernachten auf der Straße oder in Zelten, wenn sie nicht woanders untergekommen sind. Es fehlen nach Angaben der Hilfsorganisationen vor Ort weiter genügend Trinkwasser, Medizin und beheizbare Zelte.

Die Dorfvorsteher aus den Dörfern um Van, die bei den Gemeindeverwaltungen z.B. um mehr Zelte bitten, werden sehr oft mit der Bemerkung wieder zurück geschickt, die Stadt Van gehe vor, und man brauche dort die Mittel. Inwieweit dort Hilfsgüter zurückgehalten werden bzw. in dunkle Kanäle versickern, kann von hier aus nicht genau gesagt werden, aber genau dies wird von vielen Menschen vor Ort behauptet.
 
Zwei Damen aus dem türkischen TV
 
Als wäre diese menschlich tragische Situation nicht schon schlimm genug, müssen die leidgeplagten Kurden auch mal wieder landesweite Diffamierungen und Verhöhnungen in den Medien und der Öffentlichkeit ertragen. Dabei taten sich besonders zwei Damen aus dem türkischen TV unrühmlich hervor. Müge Anlı moderiert im Sender ATV eine Art Lebenshilfe oder Beratungsprogramm. Dort können Zuschauer anrufen und Psychologen und andere Experten versuchen, dann die Fragen zu beantworten. Am Sonntag ereiferte sich diese Dame und empörte sich darüber, dass die türkische Regierung Bergungs-trupps und Militär zur Hilfe in diese Region schickt. Sie vertrat vor laufender Kamera sichtlich aufgeregt die Ansicht, warum ausgerechnet Soldaten und Polizisten, die ansonsten mit Steinen beworfen werden, zur Hilfe zu den "Kurden“ geschickt werde. Das ginge ja wohl nicht, jetzt sei mal endlich Schluss. Ein anwesender Experte (Psychologe?) unterstützte sie mit dem Zwischenruf: ,„Genau, die Kurden sollen sich doch an die „KCK“ wenden!“ Am gleichen Tag moderierte Duygu Canbaş im Nachrichtensender „Habertürk“ eine Meldung über das Erdbeben mit der Bemerkung an: „Obwohl das Erdbeben in Van war, sind wir alle betroffen!“
 
„Gott hat die Kurden bestraft."
 
In den Printmedien und im Internet häuften sich Zuschriften wie „Gott hat die Kurden bestraft, es geschieht ihnen recht“ oder „Warum hat es nicht auch noch Diyarbakır erwischt?“ oder „Hoffentlich gibt es noch weitere Erdbeben dort, dann sind wir das Problem endlich los.“ usw usw. So reagiert nur ein jahrzehntelang durch Medien und Politik aufgehetztes Volk!
 
Da in der Region Van aber nicht nur Kurden sondern auch Türken leben und genauso Opfer des Erdbebens wurden und Menschen sowie Wohnungen verloren haben, gab es aber auch von denen Reaktionen. Auf Facebook z.B. konnte man lesen, das eine junge türkische Lehrerin, die jetzt ebenfalls obdachlos ist und nichts mehr hat als das, was sie am Körper trägt, sich bei der kurdischen Bevölkerung für die Schmähungen und Beleidigungen ihrer Landsleute schäme und sich dafür bei allen Kurden entschuldige. Mit der Bemerkung, dass sie fassungslos sei, dass in Anbetracht der vielen Toten sogar das Erdbeben zur Hetze gegen kurdische Mitbürger ausgenutzt werde, traf sie wohl den Nerv vieler Menschen die dort leben. Ähnlich äußerte sich auch der regionale kurdische Fernsehkanal.
 
Der Sender "Habertürk“ und Frau Canbaş entschuldigten sich am Montag wenigstens für die „missverständliche Formulierung“ und sagten, es hätte besser gesagt werden sollen: „Das Erdbeben war zwar in Van, erschüttert uns aber alle.“ Das klingt jetzt zwar auch nicht viel besser, aber die Absicht wird deutlich. Frau Canbaş sagte weiter, sie würde „nie zwischen Menschen trennen“.
 
Müge Anlı setzte aber unbeirrt am Montag ihre Schmähreden fort. Dies führte wiederum vor der Zentrale des Senders „ATV“ in Istanbul zur einer Kundge- bung die von der B.I.A. (Bagimsiz Iletisim Ağt) organisiert wurde, einer unabhängigen Vereinigung, die sich gegen diesen Rassismus wehrte und ankündigte, die Sender zu verklagen. Sie forderten die RTÜK, eine Art Senderaufsicht auf, den Fall zu verfolgen.
 
Erdoğan korrigiert seine Ablehnung internationaler Hilfe
 
Ministerpräsident Erdoğan lehnte am Tag des Erdbebens (aus nationalistischen Gründen?) das Hilfsangebot vieler Staaten ab mit dem Hinweis, dass die Türkei dies alleine schaffen könne. Es zeigte sich aber schnell, dass dies eine (kalkulierte?) Fehleinschätzung war und ihn seine Zuarbeiter wohl nicht korrekt beraten haben. Immerhin widerrief er seine Ablehnung am Mittwoch und bat um internationale Hilfe. Erdoğan selbst war am Abend des Unglücks mit seiner Frau und einen großen Teil der Regierung vor Ort eingeflogen, um sich zu informieren. Auch wenn dies nur ein politisches Symbol oder ein übliches Ritual darstellt, sollte dies als positives Signal der betroffenen Bevölkerung gegenüber verstanden werden. Er meldete sich außerdem nach zwei Tagen mit der Bemerkung zu Wort: „Einige Häuser sind zusammengebröselt wie Sand. Die Bauherren, die dies zu verantworten haben, sind Verbrecher.“ Damit sprach er drastisch die katastrophale und nicht erdbebengerechte Bausituation in der Erdbebenregion um Van an. Hoffentlich erinnert er sich daran, wenn er weiter überlegt, das erste Atomkraftwerk in der Türkei zu bauen.
 
Am 29.10. war in der Türkei der "Tag der Republik", ein Feiertag, der an die Republikgründung durch Atatürk vor 88 Jahren erinnern soll. Erdoğan hat alle Feierlichkeiten und die übliche Militärparade aus Gründen der Katastrophe in Van abgesagt. Auch dies ist mehr als nur ein Symbol.
 
CHP empört über Absage einer Militärparade!
 
Aber ausgerechnet die CHP, die größte der Oppositionsparteien im Parlament, die Mitglied der sozialistischen Internationale ist und sich als hartnäckige Kemalistin und "Wächter der Republik“ versteht, empörte sich gegen die Absage der Militärparade! Damit würden „die nationalen Ideen Atatürks untergraben“ und die Türkei im Innern und nach außen durch diese Absagen geschwächt. Die CHP, die sich in den meisten politischen Angelegenheiten der Türkei viel nationalistischer gibt als die AKP, zeigt hiermit zum wiederholten Mal, dass sie auf diese Art und Weise keine wirksame Opposition in der Türkei und kaum eine gemeinsame und vorwärtsgewandte politische Alternative für Türken und Kurden darstellt. (PK) 


Online-Flyer Nr. 326  vom 02.11.2011

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