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Globales
Die Situation in der Türkei nach den Parlamentswahlen 2011 – Teil 5
Langer Weg zum Frieden mit den Kurden?
Von Martin Dolzer

Die Politik der BDP und des basisdemokratischen kurdischen Dachverbands, dem Demokratischen Gesellschaftskongress (DTK), wie auch des „Wahlblocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ ist emanzipatorisch, ökologisch und sozialistisch geprägt. Orientiert wird auf basisdemokratische Regionalstrukturen, soziale Gleichheit, eine starke Frauenbewegung, Frauengleichberechtigung, die Überwindung feudalistisch-patriarchaler Strukturen, die Durchsetzung der Rechte sämtlicher Minderheiten und Bevölkerungsgruppen, sowie eine starke zivilgesellschaftliche Organisierung und internationalistische Inhalte.
 

Abdullah Öcalan – immer noch im Gefängnis
NRhZ-Archiv
Es geht der BDP (Barış ve Demokrasi Partisi, deutsch: Partei des Friedens und der Demokratie), die 20 Abgeordnete im Parlament hat und damit Fraktionsstärke besitzt, und dem DTK dabei nicht um einen eigenen kurdischen Staat, sondern um die Etablierung regionaler, föderalistischer Strukturen und einer Art Rätedemokratie inner- halb der bestehenden Grenzen. (1) In der Kommunalpolitik, in der die BDP und ihre Vorgängerparteien seit der Jahrtausendwende stark verankert sind, werden dementsprechend für die und mit den Menschen sichtbare Verbesserungen umgesetzt und/oder Räume zur Entfaltung geschaffen, z.B. in der Gesundheitsversorgung, der Kanalisation, der Infrastruktur, bei der Aufarbeitung von gesellschaftlichen und Kriegstraumata, in Bezug auf die Situation der mehreren Millionen InlandsmigrantInnen, bei den Freizeitmöglichkeiten, der Frauenarbeit, der Kultur und Kunst, der Selbstorganisation, wie auch bei der Überwindung von materieller und finanzieller Knappheit (in Form der Selbstermächtigung statt in Form des Karitativen). Die entsprechenden Entwicklungen werden tatsächlich basisdemokratisch in Stadtteilräten entwickelt und abgesichert.
 
Diese Kommunalpolitik ist sehr erfolgreich und vor allem dynamisch, obwohl die AKP versucht, sie nicht nur auf juristische und gewaltförmige Weise, sondern auch über die Finanzhoheit der Gouverneure über kommunale Belange, die europäischen Kriterien zuwider läuft, zu verhindern.
 
Hauptsächlich durch die politischen Interventionen von Abdullah Öcalan, u.a. in Form von Verteidigungsschriften (als Buch erschienen mit dem Titel "Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“) und einer detaillierten "Roadmap für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage“ (siehe NRhZ Nr. 278  vom 1.12.2010), sowie durch die Parlamentsarbeit der Demokratischen Gesellschaftspartei (DTP) bis zu ihrem Verbot und danach, seit 2007, der BDP, hat sich der Diskurs zur kurdischen Frage in der Türkei stark verändert. Auch das Selbstbewusstsein und das politische Bewusstsein eines großen Teils der kurdischen Bevölkerung sind durch die beschriebenen Entwicklungen, gerade in den letzten Jahren, immens gewachsen.
 
Dementsprechend hoch ist die Unterstützung der Bevölkerung für die BDP und den DTK (in Diyarbakir zwischen 60% und 70%, in Hakkari über 80%, beim Verfassungsreferendum über 90%). Die gesellschaftliche Dynamik und der Grad der Partizipation an politischen Prozessen, sowie die Entschlossenheit der Menschen, sind mit hiesigen Maßstäben kaum vorstellbar.
Ein wichtiger Aspekt in Zusammenhang mit Lösungsansätzen in Bezug auf die kurdische Frage ist, dass ein Grossteil der Menschen Verwandte hat, die bei der Guerilla sind. Zudem sind die Menschen auch durch gefallene, verwandte Guerillas und die unzähligen Verschwundenen und Folteropfer mit der Befreiungsbewegung verbunden. Sie sehen die Guerilla u.a. als ihren Schutz vor noch gröberen Menschenrechtsverletzungen und der Ausrottung der eigenen Kultur. Auch der Völkerrechtler und ehemalige MdB der Linken, Prof. Norman Paech, kommt in einer Analyse der historischen Entwicklungen zu dem Schluss, dass ohne die politische Intervention der PKK seit 1984, die kurdische Kultur vernichtet worden wäre. (2) 
 
Seit 1 ½ Jahren wird der gesellschaftliche Diskurs über eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage, Stück für Stück auch in den türkischen Medien, in der Öffentlichkeit, auf wissenschaftlicher Basis und im politischen Alltag, geführt. Zu diesem Diskurs gehört, dass sämtliche politischen Akteure, einschließlich der PKK und Abdullah Öcalan, als für einen Friedensprozess zu berücksichtigende Akteure anerkannt werden. Auch im wissenschaftlichen Bereich und seitens liberaler wissenschaftlicher Stiftungen, wie u.a. der Türkischen Stiftung für Wirtschaftliche und Soziale Studien TESEV, wurden in Publikationen und Studien ein ernst gemeinter Dialog, zwischen dem Türkischen Staat und sämtlichen am Konflikt beteiligten Akteuren eingefordert und mögliche Komponenten von Lösungswegen skizziert. (3) Einseitige Negativzuschreibungen, gegenüber der PKK und Abdullah Öcalan als Terrororganisation bzw. Terrorist, finden in diesem Rahmen kaum noch Platz.
 
In den soziologischen Studien und im genannten Diskurs wird sich, von den jeweiligen Standpunkten aus, der Realität angenähert, dass die politisierte kurdische Bevölkerung nicht gewillt ist, sich weiterhin autokratischen und durch militärische Besatzung und psychologische Kriegsführung geprägten Strukturen unterzuordnen. Benannt wird auch, dass ein Großteil der Menschen die PKK als ihren Schutz und Abdullah Öcalan als ihren wesentlichen politischen Vertreter sieht. Positiv werten WissenschaftlerInnen den seit gut 10 Jahren seitens der kurdischen Akteure bekundeten Willen zum Frieden, der unter anderem in einer Vielzahl einseitiger Waffenstillstände seitens der PKK seinen Ausdruck findet.
 
Das starre Festhalten der Regierung an Kriminalisierungspolitik, Militäroperationen und die zunehmende Feindbildrhetorik R.T. Erdogans wird überwiegend kritisiert. Das Verwehren legaler, demokratischer, politischer Partizipationsmöglichkeiten und einseitige Schuldzuschreibungen hätten ausschließlich den Konflikt verschärfende negative Folgen. Dazu gehöre auch, dass Menschen im Westen der Türkei unnötig verängstigt und zu nationalen Chauvinismus ermutigt werden. Das führe zu erneuten Angriffen auf kurdische InlandsmigrantInnen im Westen des Landes. (4) Diese Einschätzung bestätigte sich nach der erneuten Zuspitzung des militärischen Vorgehens durch die türkische Armee im Juli 2011 und entsprechender Gegenwehr der Guerilla. In vielen Städten im Westen des Landes wurden kurdische MigrantInnen oder Büros der BDP von Lynchmobs angegriffen.
 
Dem genannten Diskurs und den Kräfteverhältnissen zufolge - die militärische und sicherheitspolitische Vernichtung der kurdischen Bewegung ist nicht möglich - finden seit geraumer Zeit auch Verhandlungen zwischen der Türkischen Regierung und Abdullah Öcalan, sowie der PKK, teilweise mit Protokoll, statt. Fraglich und von mehreren Komponenten abhängig ist, inwieweit diese Verhandlungen seitens der Regierung ernst gemeint sind und positive Früchte tragen werden. Sicher ist, dass das Ergebnis der Parlamentswahlen 2011 von einem weiten Spektrum der türkischen Gesellschaft als klare Aufforderung zu einer friedlichen Entwicklung gesehen wird.
 
Aufgrund der dazu im Widerspruch stehenden, zunehmend aggressiven staatlichen Repression, den auch nach den Wahlen anhaltenden Militäroperationen und der eskalierenden Rhetorik R.T. Erdogans, sowie dem Bewusstsein der eigenen Stärke, verliert ein Großteil der kurdischen Bevölkerung zunehmend die Geduld, die andauernden staatlichen Erniedrigungs- und Vernichtungsversuche weiter kampflos zu erdulden. Die polizeistaatliche und militärische Besatzung der kurdischen Provinzen, wird besonders in den ländlichen Regionen, wo der Aspekt der psychologischen Kriegsführung allgegenwärtig ist, als faschistoid wahrgenommen. Im Rahmen der Unterstützung einer internationalen Solidaritätskampagne für Hatip Dicle, analysierte die Rechtsanwältin Margaret Owen demzufolge: „Die Kurden haben jeden erdenklichen Weg beschritten, um einen gewaltlosen und friedlichen Dialog mit der AKP zu ermöglichen. Wenn ihren rechtmäßigen und legitimen Forderungen nicht entgegen gekommen wird, ist der Türkische Staat für jede weitere Gewalt verantwortlich, die in einen Bürgerkrieg münden könnte.“ (PK)
 
 
(1) Wahlprogramm des „Wahlbündnisses für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ u.a. auf: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/Wahlen2011/index.htm
(2) im Vorwort zu Abdullah Öcalan "Gilgameschs Erben", Band 1, Atlantik Verlag, Bremen 2003
(3) u.a.; http://www.tesev.org.tr/default.asp?PG=ANATR
(4) ebd.
 
Martin Dolzer, geb. 1966 in Kiel, Diplom Soziologe, ist Öffentlichkeitsreferent in einem Anwaltsbüro, Autor des Buches "Der türkisch-kurdische Konflikt“ und freier Journalist.
Seit 10 Jahren intensive Beschäftigung mit dem Thema Türkei und Kurdistanpolitik. Teilnehmer an Menschenrechtsdelegation- und Forschungsreisen in die Türkei, die kurdischen Provinzen des Landes und in den Irak, u.a. im Rahmen wissenschaftlicher Mitarbeit für die Bundestagsabgeordneten Norman Paech und Andrej Hunko, Die Linke.
 
 
Im 6. Teil der Serie werden die gesellschaftlichen Auswirkungen der bisher skizzierten Politik auf die Bevölkerungsgruppen beschrieben und ein Fazit gezogen.


Online-Flyer Nr. 319  vom 14.09.2011

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