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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Glossen
Für die Frühverrentung eines Raubritters zu Nürrenberg:
Heinrich ist zu Alt!
Von Markus Omar Braun

In der Schule lernt man - gute BRD-Sitte - allenthalben, der Manchester-Kapitalismus sei out. Heinrich Alt von der Arbeitsagentur ist da anderer Meinung. Nicht offen "brauner Soze" (Oliver Welke) wie Sarrazin, sondern eher blau-gelb angehaucht, ist er nicht nur neo-liberal, sondern darin ein ganz harter Hund. Das "neo" ist natürlich geflunkert, solche un-freundlichen Gesellen unterscheiden sich nur in "sozialen" Flötentönen von ihren Vorgängern im neunzehnten Jahrhundert. Damals wie heute steht die geforderte "Freiheit der Märkte" für nichts als das Recht des Kapitals auf den "way of the plunderer", dem Weg des Plünderers (1). Höchste Zeit für die Rente für Heinrich Alt, das Fossil vom Arbeitsamt!


Heinrich Alt (links), Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, und Matthias Pannes, Verband Deutscher Musikschulen, unterzeichnen in Anwesenheit von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen eine Kooperationsvereinbarung zum Bildungspaket.
Quelle: http://www.bmas.de/portal, Foto: Christian Plambeck
 
 
Fachmann beim Abschätzen von Menschen
 
Blöd nur für deutsche Arbeitslose, dass solche "Fachleute" der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften nicht mehr nur bei CDU/CSU und FDP, nicht mehr nur bei BDI und anderen Lobbys der Oligarchie zu finden sind. Dank einer "modernen" SPD haben sie auch in der Leitung der Bundes-Arbeitsagentur höchstes "sozial-demokratisches" Sagen. Noch blöder für Langzeitarbeitslose und andere Hartz-IV-Opfer: Heinrich Alt ist als Ober-Hartzler vom Amt für das ganze Zwangssystem oberzuständig. Da kann ja nichts mehr anbrennen, wenn er dann noch solche Weisheiten auf der Pfanne hat: "Jeder, der in Beschäftigung bleibt, ist wertvoller als der, der arbeitslos ist." (2) Ganz gleichgültig, wie er das gemeint zu haben meint oder mit seiner Arbeitsvermittler-Sozialpolitiker-Tour verschwafeln möchte: Der Mann redet unverfroren vom "Wert" von Menschen und erkennt im Arbeitsmarkt ein Instrument zu dessen Messung! Da sollten Arbeit"nehmer", Erwerbslose und andere Normalmenschen doch schnell erkennen, dass dieser Mann für seine "Kunden" nicht bloß wertlos, sondern schlicht schädlich ist. In einem Satz: Heinrich ab aufs Altenteil!
 
Herr Alt würdigt "Lebenskünstler"
 
Dieser Fachmann fürs Grobe spricht nur eine Sprache – und verdient mindestens die fristlose Kündigung. Vielleicht würde er endlich diese als Signal verstehen, mit seinen endlosen Angriffen auf die Schwächsten der Gesellschaft aufzuhören. In diesem Jahr gab es gleich einen Doppelschlag – bis Juni einschließlich, also mit sechs Monaten Zeit für weitere Bosheiten in 2011! Am 29. April brachte der Tagesspiegel aus Berlin ein Interview mit Heinrich Alt. (3) Viele Betroffene haben sich über das darin enthaltene Eingeständnis von Alt gefreut, dass der Regelsatz wohl kaum zum Leben reiche: "Nur Lebenskünstler können auf Dauer von 364 Euro im Monat leben." Eine für die Sozialbehörden gefährliche Aussage, die wohl bei der nächsten Klage gegen die aktuelle Höhe besagten Regelsatzes vor dem Verfassungsgericht als Beweis zitierte werden sollte. Nur: Herr Alt hat es gar nicht als Eingeständnis, etwas falsch gemacht zu haben, gemeint. Vielmehr wollte er damit nur wieder seinen Albtraum eines Zwangsarbeitssystems als Billiglohnsektor auf Staatskosten mit Elendsbedingungen für die Betroffenen belobhudelt wissen.
 
"Unpraktische" Idee der Grundsicherung
 
Wenn er weiter zu bemerken meint: "Deswegen sollten wir daraus [d.h. Leben mit Hartz IV] auch keinen Dauerzustand werden lassen.", so kann dies nur das offensive Nachdenken über das Abschieben der Menschen in noch üblere Existenzformen bedeuten. Dafür, den Regelsatz für Einzelfälle aufzustocken, ist Alt nämlich – völlig gegen seine oben zitierte Einlassung – gar nicht zu haben: "Wir neigen in Deutschland dazu, jedem Einzelfall gerecht werden zu wollen.", sagt er und: "Daher sollten wir versuchen, zu der ursprünglichen Idee von Hartz IV zurückzukehren. Mehr Pauschalierung, weniger Einzelfallgerechtigkeit." Er will also nichts geringeres, als das Urteil des Verfassungsgerichtes vom Februar 2010 politisch und behördlich auszuhöhlen und für die Betroffenen praktisch zu entwerten. "Grundsicherung für Erwerbslose – damit sehen diese bei Heinrich Alt aus!", so seine unmissverständliche Botschaft. Wer wie er auf Pauschalierungen herumhackt, will eben überhaupt keine nachprüfbare Grundsicherung mehr, so einfach ist das.
 
Mindestlohn: Wenn er schön niedrig ist
 
Wenn man sich mit dem, was dieser unfeine Herr verzapft, befasst, merkt man schnell: Der redet so byzantinisch, weil er wie die Kaiser und Minister des mittelalterlichen Ostroms dauernd nur Grausamkeiten vorhat. Beim Heinrich Alt gehen die allerdings nie gegen Konkurrenten, sondern nur gegen das arme (Arbeits-)Volk. Er gibt dem Tagesspiegel die zweifelhafte Erfolgsmeldung: "Im Jahr 2010 haben immerhin eine Million Menschen in Ausbildung und Arbeit gefunden – mehr als in den Jahren davor. Das zeigt: Es gibt einen Ausweg aus dem System." Damit meint er natürlich nicht das Lohndrücker- und Niedriglohnsystem, Verzeihung: den deutschen "reformierten" "Arbeitsmarkt". Löhne, von denen man normal leben oder gar eine Familie ernähren kann, sind nach Heinrich Alt im reichen Deutschland für jedermann einfach gar nicht vorgesehen: "Aber bei vielen Familien müsste der Mindestlohn unrealistisch hoch sein, damit sie nicht mehr auf Hartz IV angewiesen sind." Auch einmal eine Botschaft!
 
Hier darf nur einer "optimieren"!
 
Den Betroffenen dieser Armutsverwaltung wäre einmal ziemlich recht, wenn sie über mehrere Monate verlässlich den Regelsatz überhaupt bekämen oder irgendjemand im Hartz-Amt versuchte, ihrem "Einzelfall … gerecht [zu] werden". Das ist für viele Betroffene auch mithilfe des Vollzeitjobs "Verkehr mit dem Jobcenter" nicht möglich. Heinrich Alt stellt diese Verhältnisse einfach frech auf den Kopf und legt den Aktenvermehrungswahn seiner Untergebenen noch den Betroffenen als Sozialschmarotzerei zur Last: "Für alles gibt es Einzelzuschläge. Wenn die Leute sich darauf konzentrieren, ihr Einkommen und ihre Wohnverhältnisse zu optimieren, lenkt das von der Jobsuche ab." Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gegen den puren Sozialdarwinismus im Jobcenter ist so manches Survival-Training und Dschungelcamp das reinste Zuckerschlecken. Blöd gelaufen nur für jene Mitbürger, die aus Krankheitsgründen, Unwissen, Vertrauensseligkeit oder anderen Schwächen schlechte Karten gegen die Trickser und Schlitzohren vom Jobcenter haben.
 
Und noch eine Sau durchs Dorf...
 
Das Draufhauen auf die Hartz-Bezieher machte so nun viel Spaß, dass es den Herren vom Amt zum Nachtreten reizte. Wofür bekommt er schließlich das schöne Gehalt aus Transferzahlungen! Dieses vorerst letzte Mal hat er sich als alter Sozi einen schönen Trick ausgedacht: Mobilisieren wir doch einmal den Sozialneid vieler Lohnbezieher gegen Selbständige und Unternehmer! Und so waren am 14. Juni dieses Jahres die Selbständigen unter den Hartz IV-Beziehern an der Reihe mit summarischer Kriminalisierung und Unterstellung der Sozialschmarotzerei. (4) Nach dem Motto: Die hatten wir schon lange nicht mehr, und wenn es klappt, das Gesetz für sie zu ändern, haben wir schön gespart. Dass Alts Untergebene offensichtlich unwillig und unfähig sind, die Fälle von Selbständigen zu bearbeiten, erscheint bei ihm als das Gegenteil, nämlich die Chance der Selbständigen, zu betrügen. Weder sagt er, wieviele das wirklich mit welchem Schaden tun, noch will er das. Er will sie ja bloß loswerden, die bedürftigen Selbständigen, und dabei noch zu den Schuldigen erklären. Wann hat der Mann eigentlich sein Volontariat in der Bild-Redaktion abgeleistet? Oder reicht für das Erlernen solcher Künste heute lebenslange Tätigkeit in Arbeitsämtern plus Parteiarbeit in der SPD?
 
Schluss mit dem "Optimierer" in Nürnberg
 
Im März 2010 stieß Alts Sparvorschlag der Pauschalierung der Wohnkosten (was schert auch ihn, dass Wohnungen immer teurer und auch für Lohnempfänger immer unbezahlbarer werden!) auf wenig Gegenliebe. Zur Antwort und Verteidigung kam ein Altscher Artikel in hoch-byzantinischem Stil, was sonst. (5) Heinrich Alt verrät uns hier seine zentrale Lüge einer "Arbeitsgesellschaft", in die sein Zwangssystem die "schwierige Integration der Menschen" vornehmen wolle. Nur dass wir gar nicht, wie er behauptet, in einer Arbeits-, sondern einer spätkapitalistischen "Rationalisierungsgesellschaft" mit Billiglohnkolonien bis nach China leben.
 
Ja, wenn er sich nur an den Rat halten wollte, den er im gleichen Artikel onkelhaft austeilt: "Vielleicht liegt ja auch ein Teil des Missverständnisses darin, dass die Zweidrittelgesellschaft reichlich über die Betroffenen, aber nicht mit den Betroffenen redet." Er könnte im Gespräch mit den "Betroffenen" merken, dass nicht die Langzeitarbeitslosen integrationsfaul sind, sondern er selber. Oder in seinen weisen, unnachahmlichen Worten: "Der ... Erkenntniszuwachs wäre beachtlich." Da er in seinem Amte zu diesem innigen Kontakt mit seiner "Kundschaft" anscheinend nicht in der Lage ist, könnte man diesem Herrn vom Mars durch seine Verrentung die Möglichkeit verschaffen, endlich die soziale Wirklichkeit der Erde, Abtlg. BRDistan, kennenzulernen! (PK)
 
 
(1) Ray Anderson, Gründer von Interface Inc., im sehr sehenswerten Film "The Corporation". Vgl. die Besprechung des Films: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16619 .
 
(2) Das Zitat nach Wikiquote: http://de.wikiquote.org/wiki/Heinrich_Alt .
 
(3) Das Interview auf der Website des Tagesspiegel:
http://www.tagesspiegel.de/politik/nur-lebenskuenstler-koennen-von-364-euro-leben/4111018.html .
 
(4) Die erste Meldung der Ungeheuerlichkeit, im Artikel der Süddeutschen:
http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/hartz-iv-fuer-selbstaendige-arm-gerechnet-1.1108053 .
 
(5) Der Artikel auf der Website der Frankfurter Rundschau:
http://www.fr-online.de/politik/ein-stueck-freiheit-fuer-hartz-iv-empfaenger/-/1472596/3131120/-/index.html .
 
 
Der Autor, Jg. '67, Muslim seit 1999 (praktizierend), Dipl.Math., lebt zur Zeit in Frankfurt am Main


Online-Flyer Nr. 308  vom 29.06.2011

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