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Medien
Abschreibjournalismus und die Bagatellisierung des Antisemitismus
Auch in der Berliner Zeitung
Von Sabine Schiffer

Aus medienkritischer Sicht ist es geboten, zu der von Anfang an durchschaubaren Kampagne gegen die einzige Antikriegspartei, die Linke, Stellung zu nehmen. Mit diesem offenen Brief bitte ich gleichzeitig den Presserat, ebenfalls tätig zu werden. Konkret geht es um einen "Leitartikel“ von Christian Bommarius in der Berliner Zeitung vom 22.06.2011 (1), die – wie die FR u.a. Zeitungen – zur der DuMont-Redaktionsgemeinschaft gehört. Der Text zeigt, wohin einen Emotionen tragen können und wovor ein Mindestmaß an journalistischer Sorgfalt einen hätte bewahren können.


Christian Bommarius – leitender Redakteur der Berliner Zeitung
Quelle: www.humanistische-union.de
 
Die mangelnde Sorgfalt beginnt mit dem Verweis auf Diskussionen in „einschlägigen Internetforen“ ohne auch nur ein einziges zu nennen. Den sehr lesenswerten Beitrag zum Thema von Albrecht Müller auf www.nachdenkseiten.de vom 21.06.11, den die NRhZ in dieser Ausgabe veröffentlicht, wird er vermutlich nicht gemeint haben. Bommarius liefert hier ein Meisterstück des Abschreibjournalismus mit schon vielfach heruntergebeteten Versatzstücken der letzten Wochen, die aber nur ohne Kontext als Label der Diffamierung funktionieren. Dies sei hier exemplarisch erläutert:
 
Ob die genannte Bundestagsabgeordnete „sich [aktiv] einen Schal umlegt“ (2) oder er ihr [passiv] “umgelegt wurde“ mag in Zeiten, wo Abiturabbrecher wie ein Jan Philipp Hein (ebenfalls an der Kampagne beteiligt) sich Journalist nennen dürfen, nicht mehr erschrecken. Aber nicht einmal die Grundtugend der (Gegen-)Recherche anzuwenden, wenn es um die Frage der Bedeutung des inkriminierten Schales geht, ist doch zu entlarvend: Bei den Karten von Israel und Palästina gibt es nicht nur auf beiden Seiten welche, die die Existenz des jeweils anderen ignorieren, es gibt auch Karten der Vergangenheitsbewältigung, die vor allem zum sog. Nakba-Tag ausgegeben werden und die die verloren gegangenen palästinensischen Ortsnamen verzeichnen. Ich weiß nicht, um was für einen Schal es sich handelte, aber er eignet sich solange auch nicht als Beweis für eine angeblich erträumte Israelvernichtung. Zu klären ist nach wie vor, ob es sich bei der Darstellung um eine Zukunftsvision handeln sollte oder ob sie der Vergangenheitsbewältigung diente.
 
Ähnlich suggestiv verfährt der Autor weiter, wenn er plakative Beispiele aneinander reiht, die das aussagen können, was er behauptet – aber nicht müssen. Es verletzt klare Grundsätze des Pressekodex (wahrheitsgemäß zu berichten etc.), wenn er beispielsweise unterschlägt, dass Shimon Peres in seiner Gedenkrede vor dem Bundestag nicht nur der Opfer des Holocaust gedachte, sondern diese Rede auch zum Zwecke der Kriegspropaganda gegen den Iran nutzte. Dies gehört weder vermischt, noch in den Bundestag, und wenn sich der Protest der sog. "Sitzenbleiber“ dagegen richtete, dann war das konsequent im Sinne des Völkerrechts. Auch dieses ließe sich erfragen und stünde einem Vertreter der Vierten Gewalt zudem besser. Eine Überprüfung aller angerissenen Themen in dem Text ist dringend geboten, sie wird weitere interessante Tatsachen oder Fragestellungen zu Tage fördern – für ein abschließendes Urteil, wer hier genau der Antisemit ist, ist es jedenfalls noch zu früh.
 
Nachdem wir schon so oft dasselbe haben lesen müssen, hätte es dem Autor doch gut gestanden, diesen Dingen endlich einmal auf den Grund zu gehen – und nicht, wie seine Matrizen, die Bagatellisierung des Antisemitismus mit zu betreiben. Das ist historisch und mit Blick auf die Zukunft unverantwortlich: Die Politik Israels als „jüdisch“ zu identifizieren/behaupten und die Kritik an dieser Politik dann als „Antisemitismus“ zu denunzieren, wie es die vermeintlichen „Israelfreunde“ tun, ist fahrlässig. 
 
Um der drohenden Beliebigkeit des Antisemitismus entgegenzuwirken, ist tatsächlich in jedem Einzelfall zu prüfen, aus welchem Motiv heraus gehandelt wurde. Ob Bommarius darum einen Fall von echtem Antisemitismus, für den er auf 1976 zurückgreifen muss, in den Text einwebt? Diese schlampige Aneinanderreihung von Behauptungen – Vorsatz will ich ihm nicht unterstellen – dient jedenfalls nicht der Antisemitismusbekämpfung, sondern einer Fetischisierung eines bestimmten Israelbildes, dem sich bestimmte Berufsopportunisten in Medien und Politik meinen bedienen zu können, und wogegen sich viele kritische Israelis zu recht wehren.
 
Im Moment zeichnet sich folgende Tendenz zur Umdefinition von Antisemitismus nach Bommarius und seinen Vorläufern von Spiegel über Frankfurter Rundschau bis Welt und Focus ab:
- Die Forderung nach der Einhaltung des Völkerrechts von allen, auch Israel.
- Die Einhaltung von EU-Gesetzen etwa in Bezug auf die Nichtsubventionierung von landwirtschaftlichen Produkten aus besetzten Gebieten.
- Das Eintreten für die gleichberechtigte Existenz von Israel UND Palästina.
 
Eigentlich könnte man aus journalistischer Sicht noch weiter gehen als es von „politisch-korrekten“ Opportunisten zu erwarten ist. Dass Hamas die Existenz Israels nicht anerkennen will, wird ja immerhin auch berichtet. Warum aber wird der Hinweis auf die vergleichbare programmatische Grundlage des Likud unterschlagen? Beide Parteiprogramme müssten dringend revidiert werden – und aus journalistischer Sicht müssten sie gleichwertig moniert werden. Da ist Herr Bommarius nun wieder in guter Gesellschaft, mit Einseitigkeitsvorwürfen um sich zu werfen, und gleichzeitig einseitiger kaum sein zu können. Von der Berliner Zeitung kennen wir auch andere Töne. (PK)
 
(1) www.berlinonline.de/berliner-zeitung/politik/ "Kostümierte Antisemiten"
(2) Zitat Bommarius: "Ist es also weiterhin kein Problem, wenn die Linke-Bundestagsabgeordnete Inge Höger sich einen Schal umlegt, der die Region mit und um Israel ohne Israel zeigt…"
 
Zur vertiefenden Lektüre empfohlen:
Kapitel 5 aus Schiffer/Wagner „Antisemitismus und Islamophobie“ HWK-Verlag, wo es um den neuralgischen Punkt Nahostkonflikt und die Instrumentalisierung von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit geht…
 
Dr. Sabine Schiffer ist Gründerin und Leiterin des Instituts für Medienverantwortung in Erlangen.


Online-Flyer Nr. 308  vom 29.06.2011

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