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Kultur und Wissen
Stéphane Hessel, 93jähriger Botschafter der Menschenwürde, Gast in Düsseldorf
"Wir sind diese Verwandler der Erde"
Von Anneliese Fikentscher

„Welch ein Leben! Welche Reise!“ So begrüßt Cornelis Canenbley, Präsident des deutsch-französischen Kreises den durch die Weltgeschichte weit gereisten 93jährigen Stéphane Hessel, Gast aus Paris, als „Botschafter der Menschenrechte und Kämpfer gegen die Ungerechtigkeiten in dieser Welt“ am 19. Mai im Industrie-Club in Düsseldorf. Auf beschwerlichen Umwegen ist er an diesem Tag angelangt: vor seinen Zug warf sich ein lebensmüder Mensch. Welche Begegnung!


Stéphane Hessel
Alle Fotos: Anneliese Fikentscher und
Andreas Neumann
Diplomatie ohne Ende

Eine ambivalente Aura umgibt den Ort des klangvollen Vortrags von Stéphane Hessel im Düsseldorfer Industrie-Club, weil Adolf Hitler 1932 vor dessen prominenten Mitgliedern für seine faschistische Ideologie geworben und Unterstützung gefunden hatte. Vor seinen Türen protestierte noch in diesem Jahrhundert der in der jungen BRD inhaftierte, 1924 (Hessels Jahr der Übersiedelung als Siebenjähriger von Berlin nach Paris) in Düsseldorf geborene Widerstandskämpfer Jupp Angenfort.

Dr. Lothar Schröder und Stéphane Hessel im Gespräch vor 300 Zuhörern im Düsseldorfer Industrie-Club

Nun ist der Raum gefüllt durch den weisen Diplomaten Hessel, ein höflicher, freundlicher, ehrerbietiger Diplomat, der klug argumentiert, um für seine bedeutenden Ideen weithin Ansprechpartner zu finden. Die Schrecken des 20. Jahrhunderts seien vorüber und auch das deutsche Volk habe sehr gelitten: „Dass hier damals Leute waren, die sich schlecht verhalten haben, darauf muß man jetzt nicht mehr zielen... Ich habe immer Verständnis dafür, dass gerade die jungen Deutschen all dies in ihrem Hintergrund haben.“

Das Gedächtnis bewahren und sich doch um die zukünftige Lösung von schwerwiegenden Problemen zu bemühen, hält ihn offen zum Gespräch - anders als eine verbreitete Position mancher sich undogmatisch nennender Dogmatiker und Gesprächsverweigerer im derzeitigen Deutschland. Dies ist die schlechteste Fortsetzung der deutschen Vergangenheit, die zum Schicksal aller Verfolgten schwieg. Hessel: „Wenn man in Weimar im KZ gesessen hat, weiß man, wie gefährlich der Mensch sein kann, wie gefährlich sogar ein kulturreiches Volk werden kann, wenn es nicht Abstand nimmt von dem Gefährlichen, was um uns herum immer vor sich geht. Wir brauchen das heute mehr als je.“

Wie brutal doch die Hoffnung ist...

Auf besondere Weise unentbehrlich geworden ist dem Autor auf seinem langen Lebensweg und insbesondere während seines Leidensweges im nur mit List überlebten KZ Buchenwald die Poesie, die er als Kind von den Eltern (Dichter und Malerin) mit der Nahrung gereicht bekam. „Wir sind diese Verwandler der Erde“ ist die Zeile aus einem Brief Rainer Maria Rilkes, der mit seiner Mutter Helen Grund eng befreundet war. Inzwischen hat er - beginnend mit sieben Jahren (mit Rilke) und bis ins hohe Lebensalter immer neue hinzufügend - hundert Gedichte auswendig gelernt, mit deren Vortrag er gerne - auch unbekannte - Menschen, in einem Restaurant z.B., beeindruckt - was ihm zu einem persönlichen Vergnügen gereicht.

Erschienen sind sie unlängst in der Sammlung "O ma mémoire - Gedichte, die mir unentbehrlich sind“ im Grupello Verlag. „Denn deiner Lieb Andenken macht mich so reich, / daß ich mein Los nicht tausch um Kron und Reich“, sind zwei aus einem Shakespeare-Sonett stammende Zeilen, in denen er die „Poetizität der Sonette“ erkennt: die Attacke! Beides führt der vehemente Liebhaber der poetischen Sprache zum reinen Gedanken der Gewaltlosigkeit zusammen. „Wie brutal doch die Hoffnung ist…“ dichtete der den Eltern freundschaftlich verbundene Guillaume Apollinaire.


Stéphane Hessel beim Vortrag von
Hyperions Schicksalslied von Friedrich
Hölderlin
Besonders stolz ist Hessel auf die Übersetzung in allein vier spanische Sprachen (spanisch, katalanisch, baskisch und galizisch) seiner nur knapp 30seitigen, in über 25 Sprachen übersetzten Schrift "Empört Euch“, mit der er zur allgemeinen Mitverantwortung aufruft und die nachträgliche Frage stellt. „Wie konnte der Faschismus so mächtig werden?“ Im Nachhinein wird vieles deutlicher. Heute ist - nach langer Anlaufphase - in Deutschland die Aufarbeitung weit fortgeschritten, aber viel zu wenig reflektiert. Immer noch sind auch die "Kulturmenschen“ in oft höchsten Regierungsämtern die Gefährlichen und nicht nur die auf der Straße marschierend gröhlenden Neo-Nazis.

Gestaltung statt Gleichgültigkeit

Karte von Stephane Hessel an der Kölner Klagemauer

Von den jungen Menschen und allen, die jünger sind als er, erwartet er die Überwindung der Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Vorgängen, die alle betreffen. Sogar sagt er: „das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit“. Ein "Ohne-mich“-Typ gibt nach Hessels Erwartung wesentliche Teile seines Menschseins freiwillig auf, nämlich sich über Unrecht zu empören und sich folgerichtig an der gesellschaftlichen Entwicklung zu beteiligen. Mut zum unbequemen Denken gehört - dem Namensgeber der Mitveranstalter-Organisationen, Heinrich Heine zufolge - wohl auch dazu. Hessel ruft auf zum „friedlichen Aufstand gegen die Massenkommunikationsmittel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und die maßlose Konkurrenz aller gegen alle“. Hessel geht es um die Versöhnung der Kulturen und nicht um deren (durch Huntington) beschworene Kollision.

Punctum

Von Roland Barthes - gesteht Stéphane Hessel - habe er das "Punctum“ kennen gelernt - den Ort wo im ganzen Geschehen die persönliche Berührung stattfindet und damit das Wesentliche sich zu erkennen gibt. „Es empört uns die enorme Ungerechtigkeit zwischen Armen und Reichen. Es empört uns noch viel genauer, dass die Werte der Demokratie, die damals gleich nach dem Zweiten Weltkrieg Fassung bekommen haben, und zwar vor allem die Fassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, an denen ich damals mitgearbeitet habe, heute in Frage gestellt sind. Und wenn das junge Menschen – oder auch ältere Menschen – irgendwie empfinden, dann haben sie eine Verantwortung, dagegen aufzubegehren und sich zu empören und in die Richtung zu zielen, wo diese Grundwerte immer noch ihre Rechtfertigung haben.“ Wenn - wie zu Beginn der Geschichte - die Frage auftaucht, was denn die Demokratie in Gefahr bringt, so ist seine Antwort entwaffnend: „Ich denke, das Wichtigste ist, dass man die Würde des einzelnen Menschen, des Mannes und der Frau, erkennt und respektiert.“ Damit meint er Flüchtlinge, Immigranten, Sinti und Roma und viele andere mehr - auch die innergesellschaftlich Stigmatisierten, die schlimmstenfalls Obdachlosen. Menschen könnten nicht einfach weggeworfen und weggebracht werden. „Das ist unerträglich.“


Der Stuhl im Düsseldorfer Industrie-Club,
auf dem Stéphane Hessel gesessen hat
Gibt es etwas, was er auf seinem beruflichen und persönlichen Lebensweg noch zu Ende bringen will? „Ich bin ja von halbjüdischer Abstammung. Mir sind die Juden ganz besonders lieb. Die großen Juden aller Generationen... Spinoza und Karl Marx und Einstein. Ich empfinde mich am nächsten mit den Israelis. Aber die Art und Weise, wie sie regiert worden sind in den letzten vierzig Jahren, ist eine Schande für den Namen Israels in der Welt. Für mich ist die Situation im Nahen Osten eines der Probleme, für die ich eine Lösung finden möchte. Die Lösung ist ganz klar. Sie steht in allen internationalen Texten: ein Zurückgehen von Israel auf die Grenzen von 1967 – das bedeutet immer noch 78 % für Israel. Aber die anderen 22 % für einen palästinensischen Staat. Dafür haben wir Europäer noch nicht den genügenden Druck ausgeübt.“(PK)

Online-Flyer Nr. 303  vom 25.05.2011

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