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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Medien
PHOENIX - Ehrenretter der öffentlich-rechtlichen TV-Sender
"Klägliches Versagen von ARD und ZDF"
Von Volker Bräutigam

ARD-Tagesschau und ZDF-heute versagten als aktuelle und informative Quellen von Nachrichten über die Revolte in der arabischen Welt. "Klägliches Versagen von ARD und ZDF im Fall Ägypten“, kritisierte z.B. das Medien-Online-Magazin DWDL.de. Viel zu lange hätten Tagesschau, Tagesthemen, heute und heute-journal das Geschehen in der arabischen Welt dilatorisch (hinhaltend, d.Red.) behandelt, erst eine Woche nach dem Übergreifen der Unruhen von Tunesien auf Ägypten mit "ARD-Brennpunkt“ und "ZDF-spezial“ reagiert.
 

PHOENIX – Sendezentrum in Bonn
Quelle: phoenix.de/unternehmen/
Unsere Ergänzung: Längere Sondersendungen folgten sogar erst 17 Tage danach, am 10. Februar, in Erwartung von Mubaraks Rücktritt, und tags darauf, als der Präsident – nun plötzlich "Diktator“ geheißen - sich aus dem Staub machte. Kritik kam aber auch aus anderen Zeitung: Frankfurter Allgemeine: "Mitreißendes, Ungeheuerliches passiert in der Welt, die jetzt Ägypten heißt ... und man antwortet darauf mit dem pflichtgemäßen Füllen der normalen Nachrichten-Formate." junge Welt: "Was die Nachrichten- und Spezialsendungen am Abend abliefern, ist ein nachrichtenjournalistischer Witz.“ Die Redaktionen von ARD und ZDF, ansonsten gern mit dem Hinweis gefällig, "weitere Informationen“ zu ihren Nachrichten gebe es im Internet (auf heute.de bzw. tagesschau.de), unterließen es, auf ihren "Ereigniskanal“ PHOENIX hinzuweisen, obwohl das Tochterunternehmen von Anbeginn der arabischen Revolte umfassend berichtete, zeitweise rund um die Uhr, und dabei auch die Protestaktionen in Algerien, Jemen, Syrien und Jordanien beachtete.
 
Sauberer Journalismus
 
PHOENIX zeigte viele ausführliche Korrespondentenberichte, brachte aktuelle Bilder arabischer Sender wie Al Jazeera, Al Manar oder Al Arabiya und (vergleichend) des zensierten ägyptischen Staatssenders ERTU sowie Nachrichtenfilme vieler freier TV-Teams und arabischer Internet-Anbieter. Wichtige Ansprachen (Mubarak, Suleiman, General Tantawi) übertrug der Sender live, simultan übersetzt.
 
Moderatoren wie Hans-Ulrich Stelter - sein Name stehe hier für alle seine Kollegen - prakti-zierten in vielen täglichen Sendestunden guten, um Erkenntnisvermittlung bemühten TV-Journalismus. Sie interviewten, führten Schaltgespräche mit Korrespondenten vor Ort und ließen kommentieren, sie gaben sowohl ägyptischen Fachleuten wie Hamadi El-Aouini, Ibra-him Mohamad und Nabil Chbib als auch deutschen Kennern wie Peter Scholl-Latour, Werner Ruf und Marcel Pott das Wort.
 
PHOENIX mochte anstrengen, belohnte aber mit informativen Einblicken: in die ägyptische Klassengesellschaft, in die sozialen Ursachen des Aufstands, in die Kumpanei des Regimes mit dem Westen, in die ökonomischen und geostrategischen Interessen hinter der Unterdrückung der Araber, in die Funktion Israels als regionale Hegemonialmacht und in die noch kaum verstandene Bewegung der Moslembrüder - und in die verbrecherische Systematik, mit der die Mubarak-Plutokratie sich jahrzehntelang an der Macht hielt.
Das PHOENIX -Programm, bescheidener Restbestand aus dem kleinen Regal für anspruchsvolle Angebote des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wurde von den berufsmäßigen Medienkritikern glatt übersehen.
 
Volksverblödung satt
 
Derweil trieben die anderen TV-Sender, auch ARD und ZDF, unbekümmerte Volksverblödung. ARD-Nachrichten-Beispiele: Korrespondent Richard Schneider schwadronierte über Israels Befürchtung, dass die „...radikal-islamische Moslembruderschaft“ (sic!) das Ruder in Kairo übernehme und der Nahe Osten "instabil" werde. Swantje v. Massenbach beschrieb Washingtons vorgebliche Sorge im Hinblick auf die "radikalfundamentalistische“ (sic!) Moslembruderschaft. EU-Berichterstatter Rolf Dieter Krause, Brüssel, behauptete, Europa "...betreibt keine Machtpolitik. Das machen die USA.“
Hannolore Fischer fragte im ARD-Mittagsmagazin den Vorsitzenden des Bundes ägyptischer Akademiker in Deutschland, Aly Hassanein: "Glauben Sie, dass Ihre Gefühle denen ähneln, die die Deutschen hatten, 1989?“ und unterstellte damit eine Vergleichbarkeit der Mubarak-Diktatur mit der DDR. Als ob es in Leipzig 400 Tote, mehr als 1000 Schwerverletzte, ungezählte "Verschwundene“ und Folteropfer gegeben hätte.
 
Albernheiten statt Aktuellem
 
Merkel-Niveau: Wie die Kanzlerin meinten viele Journalisten und Politiker, an die letzten Tage der DDR zu erinnern zu müssen: Klaus Kleber (ZDF-Moderator) zum Beispiel oder Gregor Gysi (PDL). In der Verblödungsoper fehlte nur noch die Frage, wann die Ägypter ihre 100 DM Begrüßungsgeld erhielten und wer die Bananenfrachter nach Alexandria abfertige. Am kritischen 10. Februar - PHOENIX sendete seit Stunden wieder live - zeigte die ARD ab 20.15 Uhr ihr "Starquiz mit Kai Pflaume“ und unterbrach die Albernheiten erst nach 21 Uhr mit mehreren Sondersendungen der Tagesthemen. Das ZDF brachte abends die Schnulze "Der Bergdoktor“, ehe es endlich zu aktuellen Berichten überging.
 
"Jasmin-Revolution“ (Tunesien) und "Revolution der Facebook-Generation“ (Ägypten), flöteten unsere Leit- und Konzernmedien und wiederholten dazu das Eigenschaftswort "friedlich“ bis zum Erbrechen (die CIA hatte diesmal offenkundig nicht schnell genug orangefarbene bzw. grüne Schals, Mützen und Luftballons bereitstellen können). Sie zitierten Obamas Phrasen und verschwiegen seine Marschbefehle an US-Kriegsschiffe im Mittelmeer und im Roten Meer. Sie sendeten Merkels Blech und ließen die deutschen Waffenexporte nach Ägypten außen vor.
 
Unverschämter Opportunismus
 
Politik und Medien folgten dem kapitalistischem Drehbuch: "Chaos verhindern“ und "geordneten Übergang zur Demokratie sichern“, was im Fall Ägypten die Absicherung eines der weltweit übelsten plutokratischen Ausbeutersysteme bedeutet. Freilich, in Ägypten stehen mehr als eine halbe Milliarde Euro Investitionen allein der deutschen Wirtschaft auf dem Spiel. Zu schweigen von millionenschweren Waffenkäufen.
 
Noch auf der NATO-"Sicherheitskonferenz“ in München hatten Merkel und US-Außenministerin Clinton vor überstürztem Wandel wegen eines sonst drohenden "Machtvakuums“ in Kairo gewarnt. Nur sechs Tage später – flutsch! - entdeckte Merkel sich "an der Seite der Menschen in Ägypten“ und sah "in deren Augen, welche Kraft die Freiheit entfalten kann“. Keine Nachrichtenstation verzichtete darauf, Merkels unverschämten Opportunismus im Original zu senden bzw. zu zitieren. Und keiner der Sender, leider auch PHOENIX nicht, ging der Frage nach, wie es denn zu erklären sei, dass Obama, Merkel & Co., allesamt politische Handlanger der Kapitaleliten, sich dermaßen lobend über die "Revolutionen“ in Tunesien und Ägypten äußerten.
 
Postdemokratisch gleichgeschaltet
 
Stattdessen die Demonstration postdemokratischer, gleichgeschalteter Medienmacht. Tagesschau, 13. Februar: "Angesichts der Ereignisse in Tunesien und Ägypten hat Kanzlerin Merkel versprochen, bei Menschenrechten keine Kompromisse mehr (sic!) machen zu wollen.“ Wie denn, was denn, wo denn? Ach so, bei der NATO-Sicherheitskonferenz in München! Und keine Kompromisse "mehr“: Ab sofort wird zurückgeschossen?
 
Die sarkastische Frage gründet auf faktischer kapitalistischer Gewaltherrschaft: Deutschland, die EU und die USA brauchen Länder wie Ägypten als Lieferanten billiger Rohstoffe bzw. Arbeitskraft. Deshalb halten sie sich dortige despotische Regimes, hätscheln sie mit massiven Waffenlieferungen, mit diplomatischer Unterstützung, mit diskretem Schmiergeld und noch diskreteren Nummernkonten in diversen europäischen und US-amerikanischen "Oasen“.
 
Mubarak ist weg, statt seiner garantieren den USA und der "westlichen Wertegemeinschaft“ nun fünf Generäle Vasallentreue und Kontinuität in Ägypten. Übergang zur Demokratie – mit diesem Personal? Wer ’s glaubt! Das ägyptische Volk hat sich zu früh gefreut. Die eigentliche, die große Revolution kommt erst noch.
 
Um uns von entsprechenden politischen Schlüssen abzulenken, wird in den verlotterten "Nachrichten“ von ARD und ZDF nächstens häufiger das Stichwort "Stabilität“ fallen. Ganz recht: BASF, BMW, Leoni und METRO lassen in Kairo bereits wieder arbeiten. Was interessiert sie das 38 Euro-Monatsgehalt eines ägyptischen Lehrers angesichts der Hungerlöhne, die sie selber ihren Arbeitern zahlen. Der - seit 1984 unveränderte - ägyptische Mindestlohn beträgt umgerechnet 10 Euro.(1) Im Monat! Bald fliegen TUI, Neckermann & Co. neue Urlauberscharen ans Rote Meer. Auf nach Ägypten, es wird gerade demokratisch lackiert. (PK)

(1) Der 2003 gegründete „Nationalrat für Lohnfragen“ einigte sich nicht über den Mindest-lohn. Die Gewerkschaften forderten 1200 ägypt Pfund = 149,3 Euro, die Unternehmer boten 400 ägypt. Pfund = € 49,80. Die Angaben über die gegenwärtig tatsächlich gezahlten nied-rigsten Löhne schwanken zwischen 38 ägypt. Pfund = US $ 6,50 = € 4,80 und 105 ägypt. Pfund = US $ 17,70 = € 13,10)

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Politikzeitschrift Ossietzky; die dortige Erstveröffentlichung wurde für die NRhZ erweitert.
 
Volker Bräutigam war ursprünglich Tageszeitungs-Redakteur, später TV-Nachrichtenredakteur - u.a. für die Tagesschau (ARD) - in Hamburg. In den 1990er Jahren arbeitete er als ARD-Korrespondent in Taiwan. Durch zahlreiche Veröffentlichungen zu sozial-, medien- und umweltpolitischen Themen sowie zu Fragen der internationalen Politik wurde  er als Publizist bekannt.


Online-Flyer Nr. 290  vom 23.02.2011

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