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Aktueller Online-Flyer vom 23. April 2024  

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Inland
Nach der Niederlage bei der Stuttgart 21-Schlichtungsfarce weiter kämpfen!
Von Geißler über den Tisch gezogen
Von Winfried Wolf

Das Ergebnis der letzten Runde der Schlichtung zu »Stuttgart 21« (»S21«) stellt eine schwere Niederlage für die Bewegung gegen dieses, die baden-württembergische Landeshauptstadt und den Bahnverkehr im Stuttgarter Raum zerstörende Großprojekt dar. Die Bahn AG, die CDU und die Landesregierung in Stuttgart sind die Sieger. Bahn-Chef Rüdiger Grube und Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) wußten, warum sie in der Schlichterrunde Präsenz zeigen konnten. In Verkennung der Realitäten versucht das Aktionsbündnis »K21« (für Kopfbahnhof 21) die Niederlage als einen Teilerfolg zu verkaufen Die ersten Sätze der Erklärung des Aktionsbündnisses vom 30.11.2010 lauten: »Wir haben es geschafft zu beweisen, daß ›K21‹ im ganzen Land als die bessere Alternative erkennbar wurde. Unser Konzept ist leistungsfähiger, ökologischer und finanzierbar.« Warum bloß hat man dann dem Schlichterspruch, der eben nicht »K21«, sondern »S21« als Grundlage hat, weitgehend zugestimmt?


Während des Schlichtungsverfahrens: Geißler mit den beiden S21-Gegnern Gangolf Stocker und Hannes Rockenbauch
Foto: Stadt.Plan-Redaktion
 
Der Schlichterspruch von Heiner Geißler (CDU) lautet: »S21« wird gebaut – als »S21 plus«. Das heißt, daß der Bau des Architekten Paul Bonatz weiter zerstört wird, daß der Kopfbahnhof aufgegeben wird, daß zehn Jahre lang ein neuer Bahnhof sieben Meter unter der Erde und bis zu 60 Kilometer Zulaufgleise mit Tunneln gebaut werden. Auf diese Grundaussage haben sich nach außen beide Seiten geeinigt. Indem die Vertreter des Aktionsbündnisses den Nachbesserungen zustimmten, stimmen sie dieser Grundaussage zu. Nimmt man einmal an, alle zur Debatte stehenden Nachbesserungen an »S21« würden realisiert, wäre »S21 plus« trotzdem nie und nimmer ein sinnvolles Projekt. Es wäre in zweierlei Hinsicht sogar noch problematischer: Die Bauzeit wird sich deutlich verlängern, und die Kosten liegen erheblich höher; das Unternehmen wird noch unwirtschaftlicher – und für andere Schienenverkehrsprojekte im Land ist noch weniger Geld da. Es gibt für Unternehmen den betriebswirtschaftlichen Grundsatz der »Sunk costs« (»versunkenen Kosten«): Wenn erkennbar ist, daß sich ein Projekt nicht rechnet, daß man am Ende deutlich mehr neues Geld investieren muß, als die Alternative kostet, dann müssen vorausgegangene Ausgaben als verloren, als »Sunk costs« verstanden werden. Originellerweise rechnen so kühl nur private Kapitalisten. Die öffentliche Hand und der Schlichter hingegen führen immer wieder die bereits hohen Ausgaben für die bisherigen »S21«-Planungen und die hohen Kosten im Fall der Beendigung des Projekts als »Argument« an – und zwar für ein »Weiter so«.
 
Wahrzeichen der Landeshauptstadt erhalten
 
Die grundsätzlichen Argumente gegen »S21« bestanden für die Bewegung der Kritiker nie darin, daß im Untergrund zwei Gleise fehlen. Wir sagten: Die Menschen sind keine Kellerkinder. Der Bonatzbau ist ein zu erhaltendes und in Gänze wieder zu rekonstruierendes Wahrzeichen der Landeshauptstadt. Der Kopfbahnhof hat bewiesene nichtgenutzte Kapazitäten von zusätzlichen 30 Prozent. Vor allem argumentierten wir: Warum muß etwas, was seit fast einem Jahrhundert funktioniert, zerstört werden, und etwas, was voraussichtlich nicht funktioniert und sündhaft teuer ist, zehn Jahre lang gebaut werden?
 
Das DB-Vorstandsmitglied Volker Kefer erklärte noch am Abend nach dem Schlichterspruch: »Wir werden natürlich nicht morgen wieder die Bagger rollen lassen, aber wir werden weiterbauen, sobald uns das sinnvoll erscheint.« In dieser entscheidenden Frage gibt es seitens des Schlichters Heiner Geißler und seitens der »S21«-Betreiber die klare Ansage: Nachbesserungen hin oder her – es gibt keinen Baustopp. Auch in diesem Punkt stimmen die Vertreter des Aktionsbündnisses dem Schlichtungsergebnis faktisch zu. In der Erklärung des Aktionsbündnisses vom 30.11.2010 heißt es: »Wir bedauern sehr, daß die Angst vor einer Bauunterbrechung die Befürworter von ›S21‹ dazu bewogen hat, die grundlegenden Erkenntnisse der Schlichtung zu ignorieren.« Im Grunde meint der Satz: »Wir bedauern sehr, daß die Angst vor einer Bauunterbrechung die Befürworter von ›S21‹ dazu bewogen hat, den Bau nicht zu unterbrechen.« Wenn die Nachbesserungen irgendeinen Sinn machen sollten und wenn die Zustimmung der »S21«-Gegner dazu als eine besonders raffinierte Taktik (im Sinne des Grünen-Politikers Boris Palmer: Es wird immer teurer und unbezahlbar; man benötigt neue Planfeststellungsverfahren usw.) sein soll, dann müßte das mit einem Baustopp verbunden sein. Ist es aber erklärtermaßen nicht.
 
Übrigens: Es war doch klar, daß Grube, Mappus und Co weiterbauen wollten. Mappus sagte immer, er werde alle möglichen Kompromisse mittragen »unterhalb der Schwelle eines Baustopps«. Es ist Geißler, der explizit erklärte, daß es keinen Baustopp geben werde – und der damit Partei ergriff für diese entscheidende Position der Landesregierung und der Bahn.
 
Die Wirkung der absehbaren Aufnahme der Baumaßnahmen – möglicherweise erst im kommenden Jahr, möglicherweise zunächst nicht in spektakulärer Form (noch kein Abriß des Südflügels) – dürfte für die Bewegung demoralisierend sein. Zumal die Haltung des Bündnisses auch in dieser Frage ausgesprochen zweideutig ist.
 
Nachbesserungen wertlos
 
Die geforderten Nachbesserungen sind vor dem Hintergrund der ersten zwei Bestandteile des Schlichterspruchs – Grundlage von allem weiteren ist »S21«; es gibt keinen Baustopp – kosmetischer Art. Nehmen wir nur die Formulierung von Geißler »›S21‹ muß behindertenfreundlicher werden«: Wie soll das bei einem grundsätzlich behindertenfeindlichen Projekt funktionieren? Im Grunde zeigte Geißler an diesem Punkt (der im Übrigen in der Kommentierung des Schlichterspruchs nirgendwo erwähnt wird), wie zynisch er und die Veranstaltung ist, für die er Verantwortung übernahm. Vergleichbares gilt für Geißlers Aussage: »›S21 plus‹ muß ökologischer werden«. »S21« ist Stadtzerstörung pur. Eine Bebauung des Gleisfeldes oder größerer Teile desselben muß das Stadtklima im Kessel verschlechtern – so steht es noch in der »K21«-Broschüre, in der, dokumentiert mit Infrarotaufnahmen, verdeutlicht wird, daß das Gleisfeld in heißen Sommern nachts kühlend wirkt und daß jede zusätzliche Bebauung in dieser Kessellage die Stadt weiter aufheizt. Überhaupt: Warum soll es neue Bebauungen geben – nunmehr im Schlichterspruch noch sozial garniert: »... auch für untere Einkommensgruppen« – wenn die Stadt Jahr für Jahr Tausende Einwohner verliert? Seit 1965 waren es rund 80.000 – unter anderem weil das Stadtklima im Zentrum kritisch ist. Weitere Bebauungen wären mit einem Mehr an Autoverkehr verbunden. Die bisherigen Planungen sahen bereits mindestens 2.000 zusätzliche Pkw-Stellplätze vor.
 
Und was sagt das Aktionsbündnis dazu? In der zitierten ersten Erklärung zum Schlichterspruch heißt es: »Die Baugebiete müssen ökologisch und sozial mit Beteiligung der Bürgerschaft entwickelt werden. Die Frischluftschneise für die Stuttgarter Innenstadt wird nicht bebaut werden.« Auch hier folgt man der fatalen Linie »halb zog sie ihn, halb sank er hin«: Irgendwie will man mitbebauen. Die Tatsache, daß das gesamte Gleisfeld für das Stadtklima stabilisierend wirkt, taucht nicht mehr auf. Man wagt nicht, die naheliegende Forderung zu formulieren: Was an Gleisen wegfällt – und bei »K21« würden ja auch 70 Hektar mit bisherigen Gleisanlagen zu frei verfügbaren Flächen – muß in erster Linie zu Stadtgrün, zu Park- und Erholungsanlagen werden.
 
Insgesamt gilt: Die geforderten Nachbesserungen sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Eben weil die Punkte 1 (»S21« ist die weitere Grundlage) und 2 (es gibt keinen Baustopp) entscheidend sind. Bahn-Chef Grube äußerte sich in diesem Sinn. Man werde in den nächsten Tagen »einen Streßtest machen«, um zu belegen, daß der unterirdische Bahnhof 30 Prozent mehr Leistung bringe. Im Klartext: Es wird eine weitere Computersimulation geben, die »belegt«, daß die Forderungen aus dem Schlichterspruch irgendwie zu erfüllen sind. Und es wird dann keine Chance geben, öffentlichkeitswirksam darzulegen, daß diese Computersimulation praxisfremd und Schönrechnerei ist.
 
Der Verweis darauf, daß das unabhängige Schweizer Beratungsunternehmen SMA AG den Streßtest der Bahn kontrollieren soll, hat ebenfalls wenig Wert. Die SMA hatte in einer streng geheimen Prüfung zwar das Betriebskonzept für »S21« als kaum praxistauglich verworfen. Doch als dies publik gemacht wurde, mußte sie eine Stellungnahme nachschieben, die im Sinne der Bahn interpretiert werden konnte. Die SMA ist, wie nahezu sämtliche Unternehmen in diesem Bereich, von der DB AG und von anderen europäischen Bahnkonzernen, die sich fast alle auf Privatisierungskurs befinden, finanziell abhängig.
 
Kein Volksentscheid
 
Es soll keinen Volksentscheid, keine Befragung der Bürgerinnen und Bürger geben. So der Schlichterspruch. Das Aktionsbündnis dazu: »Wir lehnen es ab, daß die Landesregierung keinen Weg akzeptiert hat, die Bürger in eine neue Entscheidungsfindung einzubeziehen. Wir setzen uns weiter für eine entscheidungsrelevante Bürgerbefragung ein.« Die gewundene Formulierung ist Ausdruck des Unwohlseins oder besser: des Gefangenseins in einer Grundhaltung des faulen Kompromisses. Es geht doch nicht um »die Landesregierung«. Es geht darum, daß der Schlichter Geißler einen Volksentscheid ablehnt und daß im Schlichterspruch, für den man mitverantwortlich ist, keinerlei direkte Demokratie vorgesehen ist. Wenn Geißler sagt, es gebe für einen Volksentscheid »keine Chance der Realisierung« und »die Landesverfassung gibt das nicht her«, dann ist das schlicht die Unwahrheit. Oder auch Tricky business. Die Stadt Stuttgart kann die Bürgerinnen und Bürger zu »S21« befragen – und vorab erklären, daß sie sich an das Ergebnis halten und einen entsprechenden Beschluß im Gemeinderat fassen wird. Vergleichbares könnte, so das dann noch ansteht, zum Thema Neubaustrecke in ganz Baden-Württemberg und dann im Landtag gemacht werden. Es ist sogar wahrscheinlich oder zumindest im Bereich des Möglichen, daß es nach dem 27.März 2011 eine neue Mehrheit im Stuttgarter Landtag gibt, bestehend aus zwei Parteien, die eine solche de facto direkte Entscheidung der Bevölkerung fordern.
 
Geißler schiebt die Schuld am Fehlen direkter Demokratie auf »die Verfassung«. Das Aktionsbündnis sieht die Verantwortung bei »der Landesregierung«. Es ist aber der Schlichter selbst, der die realen Möglichkeiten für eine solche Entscheidung der Betroffenen negiert und die Möglichkeit direkter Demokratie blockiert.
 
Aktionsbündnis in der Falle
 
Nein, ich bin nicht der Meinung, daß das Ja der »S21«-Gegner zum Prozeß der Mediation falsch war. Wenn das Aktionsbündnis (oder dessen Mehrheit) Anfang Oktober »Nein« dazu gesagt hätte, dann wäre das in der breiteren Bevölkerung kaum vermittelbar gewesen. Die Schlichtung als solche ist auch über weite Strecken als Errungenschaft und als positiv zu werten. Mit ihr konnten nicht nur Hunderttausende Menschen in Baden-Württemberg in die Debatte zu »S21« einbezogen und ihnen die Argumente des Widerstands dargelegt werden. Vor allem wurden im Verlauf der Schlichtung viele neue Gründe gegen »S21« vorgebracht oder bereits kursierende Argumente untersetzt und erhärtet: z.B. die tatsächliche Kapazität des Kopfbahnhofs Ende der 1960er Jahre; das Gefälle im »S21«-Tiefbahnhof; dessen Behindertenfeindlichkeit; das Nichtfunktionieren des Betriebsprogramms. Die Kritik am Schlichtungsprozeß aus meiner Sicht betrifft zwei Aspekte. Erstens ließ man sich oft zu sehr auf die Ebene ein, die die »S21«-Befürworter bevorzugen: man will irgendwie doch frei werdende Flächen bebauen – mit einer »Green city«; man will doch irgendwie auch schneller und mittels einer Neubaustrecke über die Alb; man will irgendwie doch den Flughafen auch noch stärker an die Schiene anbinden. Zweitens fehlte oft der politische Kontext, in dem »S21« und die Neubaustrecke (NBS) Wendlingen–Ulm zu sehen sind.
 
»S21« ist Teil des Projektes Bahn-Privatisierung (und wurde daher vier Monate nach der Bahn-Reform vom Dezember 1993 erstmals präsentiert); im Zentrum der Bahn-Privatisierung jedoch steht die Vermarktung Tausender Hektar von Bahn-Flächen zur privaten Gewinnerzielung einzelner. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsprogramm festgelegt, daß sie an der Bahn-Privatisierung festhält. Es gibt auch einen bis heute gültigen Bundestagsbeschluß vom Mai 2008, wonach so bald als möglich 24,9 Prozent der DB ML (Deutsche Bahn Mobility Logistics, das sind Nahverkehr, Fernverkehr, Güterverkehr der Bahn und die gesamte weltweite Logistik) an private Investoren zu verkaufen sind. Das gesamte Projekt »S21« wird sich völlig anders darstellen, wenn diese im Detail bereits vorbereitete Privatisierung vollzogen wird. Weil dann die privaten Investoren als Anteilseigner an der DB ML an den Eigentümer des »S21«-Bahnhofs, der Tunnelanlagen und der NBS Wendlingen–Ulm immense Nachforderungen werden stellen können– unter Verweise auf zu hohe Kosten und zu niedrige Rendite bei der Nutzung von »S21« und NBS.
 
Diese Kritik am Schlichtungsverfahren ist aktuell nicht entscheidend. Allerdings gab es einen Punkt, an dem die Schlichtung sich als Manöver, als parteiliche Veranstaltung erwies und an dem der Schlichter erkennbar nicht mehr als ehrlicher Makler agierte: Das war der Zeitpunkt am vergangenen Freitag, dem 26. November 2010, als Geißler über die Frankfurter Allgemeine Zeitung kundtat, wie sein Spruch ausfallen werde. Geißler wählte bewußt diese Form eines Versuchsballons. Im Grunde sagte er dort, was er auch am Dienstag im Schlichterspruch formulierte. Als er sah, daß die »S21«-Gegner trotz seiner absehbar klaren Parteinahme für »S21« als Grundprojekt keine Konsequenzen ziehen und nicht aus der Schlichtungsrunde ausscheiden würden, arbeitete er in den folgenden Tagen daran, aus einer einsamen Entscheidung eines Schlichters, der seine Kompetenzen überschreitet, einen weitgehend von beiden Seiten getragenen Schlichterspruch zu formulieren.

Gut getarntes Trojanisches Pferd
 
Geißler taktierte dabei erfolgreich. Der Spiegel: Jetzt hat das umstrittene Bahnhofsprojekt von Mappus »das Siegel des Edelvermittlers (...) Diese Schlichterrunde war ein ungemein gut getarntes Trojanisches Pferd, das Mappus hinein in die Reihen seiner Kontrahenten geschoben hat (...) Schlichtung kommt auch von schlicht: Und schlicht und ergreifend ist es nun so, daß die Boris Palmer und andere nun nicht mehr Sturm laufen können gegen ein modifiziertes Stuttgart 21, das durch die Geißler-Schlichtung politisch veredelt wurde.« (Spiegel online; 30.11.2010). Am Tag zuvor konnte man bereits der Financial Times Deutschland entnehmen: »Heimliche Sieger in Geißlers Schlichtungsshow: Heiner Geißler hat die CDU gerettet.« (FTD vom 29.11.2010).
 
Es gab mehrere Punkte in der Schlichtung, an denen es gerechtfertigt gewesen wäre, wenn die Vertreter des Aktionsbündnisses die Schlichtung verlassen hätten – oder sie hätten ultimativ Forderungen aufstellen müssen. Viele für den Bau von »S21« entscheidende Dokumente blieben geheim – da galt dann nicht »alle Fakten auf den Tisch«. Man ließ die Lüge durchgehen, im BAST-Dokument (streng geheimgehaltenes Papier zur »betrieblichen Aufgabenstellung zur Umsetzung der Konzeption Netz 21«) der DB AG von Ende 2002 habe es einen Vertipper gegeben; damals sei man noch nicht, wie geschrieben, von »4,2 Milliarden Euro«, sondern tatsächlich von »4,2 Milliarden DM« ausgegangen (alle anderen Summen in der BAST sind in Euro angegeben). Die im Stern während der Schlichtung erstmals publizierte Enthüllung belegte, daß die DB AG acht Jahre lang die Öffentlichkeit über die wahren Kosten täuschte – und diese also heute nicht auf dem Niveau von 2002 liegen können, sondern deutlich höher sein müssen.
 
Schließlich der Start des Geißlerschen Versuchsballons vom vergangenen Freitag, wonach Grundlage seines Schlichterspruchs der Bau von »S21« sein werde. Spätestens dies hätte Anlaß sein müssen, klarzumachen, daß es keinerlei Konsens geben werde und man zurückkehrt auf den Stand von Anfang Oktober 2010 – und zur breiten Mobilisierung gegen »S21«.
 
Geißlers Zustimmung zu »S21« als dem zu realisierenden Projekt muß als zynisch, machtpolitisch und sachlich nicht begründet bezeichnet werden. Es gab im Verlauf der gesamten Schlichtung objektiv keinerlei sachlichen Grund dafür festzustellen, daß der Bau eines Kellerbahnhofs mit der weitgehenden Zerstörung des bestehenden Kopfbahnhofs das überzeugendere Projekt sei. Im Gegenteil – während der Schlichtung wurden immer neue Argumente gegen »S21« öffentlich gemacht. Es ist an dieser Stelle nicht entscheidend, darüber zu mutmaßen, welche Gründe es für die Geißlersche Entscheidung gibt. Sicher ist, daß er hier wieder zum unsachlichen Parteipolitiker wurde, der er jahrzehntelang war (obwohl viele, darunter auch ich, in den ersten Wochen der Schlichtung davon ausgegangen waren, daß er diese Periode hinter sich gelassen hat).
 
Wie bewertet das Aktionsbündnis die Arbeit Geißlers in der Endphase der Schlichtung? In der zitierten Erklärung heißt es in Verkennung der Situation: »Wir betrachten die Ergebnisse der Schlichtung als Fortschritt und danken Heiner Geißler für seine intensiven Bemühungen.«
 
Was nun?
 
Das Resultat ist eine schwere Niederlage für die Bewegung gegen »S21«. Das Wichtigste zunächst ist, das zu erkennen und es anzuerkennen. Jedes Schönreden verschlechtert die Situation. Jede weitere Orientierung auf die »Taktik«, »möglichst viele und teure Nachbesserungen bringen ›S21‹ vielleicht doch noch zu Fall«, führt tiefer in die Niederlage.
 
Wir müssen auch in Rechnung stellen, daß der Mißerfolg negative Folgen für die weitere Kampagne gegen »S21« haben wird. Vor allem gibt es nun eine realistische Gefahr der Spaltung – der Teil der Bewegung, der die Schlichtung bereits Anfang Oktober ablehnte, wird sich bestätigt fühlen. Die Rechtfertigung derjenigen, die als Vertreter des Aktionsbündnisses den Prozeß bis zum Ende mittrugen, man habe auch in der Endphase richtig gehandelt, wird die Gefahr der Spaltung erhöhen. Schließlich gibt es das Bestreben von Teilen des Aktionsbündnisses, die nach der Wahl vom 27. März kommenden Jahres auf ein Mitregieren im Land zu orientieren. Das geht nur entweder mit der SPD oder mit der CDU. Beide Parteien aber wollen grundsätzlich und mehrheitlich »S21« realisieren. Im Grunde wäre so etwas wie ein »Großer Ratschlag«, bei dem die Bewegung in der gesamten Breite zwei Tage lang Bilanz ziehen und sich gemeinsam auf das weitere Vorgehen verständigen würde, angesagt.
 
Und natürlich gilt: Es kommt in dieser Situation darauf an, den Protest auf der Straße wieder zu verstärken. Unter anderem durch eine breite Beteiligung an der bundesweiten Demonstration in Stuttgart am 11. Dezember.
 
Es waren in erster Linie die 15 Jahre währenden außerparlamentarischen Aktivitäten und die nun ein Jahr andauernden breiten Mobilisierungen auf den Straßen und im Schloßgarten, die den Erfolg – auch den Erfolg der öffentlichen Schlichtung – ermöglichten. (PK)
 
 
Winfried Wolf ist Journalist, Chefredakteur der Zeitschrift lunapark21, Politikwissenschaftler und ehemaliger PDS-Bundestagsabgeordneter. Im November erschien von ihm zusammen mit anderen das Buch: Stuttgart21 – oder: Wem gehört die Stadt, PapyRossa Verlag, Köln 2010. Sein Artikel wurde bereits in der jungen Welt veröffentlicht.


Online-Flyer Nr. 279  vom 08.12.2010

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