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Globales
Offener Brief an den belgischen Justizminister Stefaan De Clerck
Um das neue Schuljahr einzuläuten
Von Luk Vervaet

In vier Ausgaben vom März bis zum Juni dieses Jahres berichtete die NRhZ über das Berufsverbot gegen den belgischen Gefängnislehrer Luk Vervaet, der durch sein Engagement für Palästina, seinen Kampf gegen die migrantenfeindliche Hetze von Vlaams Belang und seine Versuche, die Zustände in den überbelegten seit 2006 in vermehrtem Maß mit Hochsicherheitstrakten ausgestatteten Gefängnissen zu verbessern, bekannt geworden war. Der belgische Staatsrat gab Vervaet in dieser monatelangen Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit zwar Recht. Bis heute darf er aber seinen Unterricht in Gefängnissen nicht fortsetzen. So schrieb er nun einen Offenen Brief an Justizminister De Clerck, dessen Text wir hier veröffentlichen.
 

Gefängnislehrer Luk Vervaedt
NRhZ-Archiv
Sehr geehrter (Herr) Minister,
ich kann das neue Schuljahr nicht in meiner Funktion als Nieder-ländisch-Lehrer im Gefängnis von Saint-Gilles beginnen. Ich schreibe ihnen nun, indem ich die Medien als Vermittler nutze, da Sie auf die Angelegenheit nicht eingehen und sich nicht mit mir treffen wollen, obwohl sie im letzten Jahr aus zwei unterschied-lichen Anlässen von einem belgischen Gericht aufgefordert worden sind, dies zu tun. 
 
Wir sind uns einmal begegnet. Das war im Mai 2009, als sie zusammen mit ihrem Kollegen, Herrn Minister Didier Reynders, einen besonderen Tag im Bozar in Brüssel für all die, die in Gefängnissen arbeiten, organisiert hatten. Komplett mit Abendessen und unter dem Titel „Prison Make“. Die Idee dahinter war, uns die Details ihres Gesamtentwurfs zum Bau neuer Gefängnisse vorzustellen. Sie haben das Publikum über ihren Plan, zwölf neue Gefängnisse zu bauen, sechs alte Gefängnisse zu schließen, und dabei 2208 zusätzliche Zellen zu schaffen, informiert. Die Gesamtkosten: 300 Millionen Euro.
 
Ich habe gegen die Teilnahme an diesem Tag und dagegen für die Einladung zu einem Tag, der einer neuen Sicht auf Kriminalität gewidmet wird, geworben. Als sich am Eingang vom Bozar unsere Wege kreuzten, sagte ich zu ihnen: „Ein Viertel der Brüsseler Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Menschen in Brüssel brauchen keine neuen Gefängnisse, sondern Schulen, Krankenhäuser und Arbeitsplätze.“ Sie haben schnell darauf reagiert, indem sie zu mir sagten: „Die Regierung arbeitet daran. Aber für die Frage der Beschäftigung bin nicht ich zuständig. Meine Aufgabe ist es, eine Lösung für die Überfüllung der Gefängnisse und den veralteten Zustand unserer Gefängnisse zu finden.“ Als ich ihnen vorschlug: „Ich kann ihnen sofort eine Liste mit 500 Gefangenen, die ihren Gefängnisdirektoren zufolge umgehend entlassen werden könnten, bereitstellen“, lächelten sie und reagierten, indem sie sagten: „ Ach ja. Das interessiert mich. Schicken sie mir diese Liste…“ Wir hatten nicht die Möglichkeit diese Diskussion, die nur auf einem kurzen Video für Youtube festgehalten wurde, fortzusetzen.
 

Justizminister Stefaan De Clerck
Quelle: wikimedia.org
Nach unserer Diskussion fragte ich mich, was von den Positionen, die Sie 1996 vertreten haben, übrig geblieben ist. Damals veröffentlichten sie einen Text mit dem Titel „Die Politik der Gefängnisstrafe“, in dem sie die Politik im Hinblick auf Haftstrafen kritisierten. Sie plädierten für eine Alternative zur Inhaftierung, indem sie die mangelnde Effektivität der Gefängnisse bei der Behandlung des Problems der Rückfälligkeit attackierten.
 
Rückblickend und mit dem Vorteil der nachträglichen Sicht darauf, finde ich, dass ich ihnen zum Thema des Tages „Prison Make“ nichts gesagt habe, was sie nicht auch ein Jahr später im Bericht des Rates der Europäischen Vereinigung zur Verhinderung von Folter (CPT) über die Situation der belgischen Gefängnisse hätten lesen können. (1) „Die Europäische Vereinigung zur Verhinderung von Folter betont, dass eine Vergrößerung der Gefängniskapazitäten alleine das Problem der Gefängnisüberfüllung nicht lösen kann. In vielen Ländern - inklusive Belgien - kann man feststellen, dass die Gefängnispopulation mit dem Anstieg der Gefängniskapazitäten zunimmt.“
 
Drei Monate nach unserem Treffen verbot mir der „Bundesdirektor der Gefängnisse“, Herr Meurisse, alle Gefängnisse in Belgien zu betreten. Aus „Sicherheitsgründen“. Mir wurde nicht die Möglichkeit gegeben, mich mit den „Gründen“ vertraut zu machen, da die Angelegenheit als eine der „nationalen Sicherheit, nationalen Verteidigung und öffentlichen Ordnung“ bezeichnet wurde. Nichts weniger. Meinen Anwälten wurde keine Einsicht in die „Verwaltungsakte“, die der Staat für alle Angestellten im öffentlichen Dienst führt, gewährt. Das wäre zum Lachen, wenn es dabei nicht um die Tatsache ginge, dass ich meine Aufgaben als Lehrer in Gefängnissen nicht mehr ausführen kann und nicht mehr die Möglichkeit habe, Inhaftierte zu besuchen.
 
Sie haben beschlossen die Erteilung dieses Berufsverbots vor Mitgliedern der „Mehrparteien- Justiz-Kommission des Parlaments“ abzudecken. Am 6. Oktober verkündeten Sie als Antwort auf eine Frage des Grünen-Abgeordneten Zoe Genot, dass „die Entscheidung, den Zutritt zu verwehren, wohl überlegt war, basierend auf einer gründlichen Überprüfung aller Informationen. Eine solche Maßnahme ist außergewöhnlich und würde nur auf der Grundlage von eindeutigen Beweisen getroffen. Die Entscheidung aus Sicherheitsgründen auszuschließen, ist auf der Grundlage einer Prüfung der Gesamtbilanz des Einzelnen getroffen und die Sicherheitsbedenken sind in sich selbst ausreichend, um den Ausschluss zu rechtfertigen.“
 
Sehen Sie nicht ein, dass eine solche Äußerung eines Polizeistaates würdig ist? Wie Rik van Cauwelaert in der flämischen Zeitschrift „Knack2“ schrieb: „Bei dem beruflichen Arbeitsverbot für Luk Vervaet, das auf der Grundlage von geheimen Beweisen ausgesprochen worden ist, geht es um nicht viel mehr als das Begleichen einer offenen Rechnung. Durch ein solches Verbot stiehlt der Staat die Arbeit eines Mannes, der in den letzten Jahren kein Geheimnis um die unmenschlichen Zustände, die er in den Gefängnissen erlebt hat, gemacht hat. Nur Schurkenstaaten verstecken sich hinter nationalem Interesse, um diejenigen, die anders denken, zum Schweigen zu bringen.“
 
Wenn Sie wirklich eine “gründliche Prüfung meiner Akte” vorgenommen haben sollten, dann haben sie in Erfahrung gebracht, dass meine berufliche Vergangenheit als Lehrer in Gefängnissen über jeden Vorwurf erhaben ist. Ihre Entscheidung beruhte auf einem Staatssicherheitbericht, den es uns endlich aufzutreiben gelang - aber nur dank einer undichten Stelle. Kurz gesagt, der Bericht behauptet: „ Luk Vervaet ist Mitglied der CLEA (Komitee für Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, le Comité pour Liberté d'Expression et d'Association) und Mitbegründer der Partei Egalité. Er ist Anti-Isreali und Pro-Palästinenser. Er ist gegen die Anti-Terrorgesetzgebung und verteidigt diejenigen, die er als Opfer der Gesetze sieht.“
 
Noch genauer: Der Staatsschutz beschuldigte mich, den “Terroristen“ Bahar Kimyongur verteidigt zu haben und gegen die Haftbedingungen des „Terroristen“ Nizar Trabelsi, ebenso wie gegen seine vorgesehene Auslieferung in die USA zu opponieren. Aber wenn Sie auf einer „gründlichen Auswertung“ meines Falles bestehen, sollten Sie auch aussagen, dass der so genannte „Terrorist“ Kimyongur seither von den Gerichten in allen ihm zur Last gelegten Anklagepunkten freigesprochen wurde.
 
Außerdem sollte Ihnen nicht entgangen sein, dass sich die CPT auf den Seiten 42 und 44 ihres Berichts Hans Meurisse, den Direktor für Gefängnisse, vorknöpft. Und zwar wegen des Einschließens von denen, die nach Terrorismusanklagen verurteilt wurden, in speziellen Isolationsabteilungen, die eindeutig nicht dafür konzipiert worden sind. Zitat: „Innerhalb der letzten achtzehn Monate wurden (in den Gefängnissen von Brügge und Lantin) Spezialabteilungen für die Behandlung von Häftlingen, die Anzeichen extremer Aggressivität zeigen, gebildet. Heute müssen wir feststellen, dass dieses Ziel komplett aufgegeben wurde. Von acht solchen Gefangenen, die in den Spezialabteilungen von Brügge festgehalten werden, haben nur drei die Kriterien erfüllt und in Latin haben sie ebenso von neun in der Abteilung Festgehaltenen nur drei erfüllt.“ Deshalb scheint es, dass die Mehrheit der Gefangenen, die in diesen Spezialabteilungen untergebracht sind, Gefangene sind, die psychisch krank oder Gefangene sind, die „ein hohes Sicherheitsrisiko“ darstellen (einschließlich denen, die wegen Terrorismus verurteilt sind), die nicht die Kriterien dieser Spezialabteilungen erfüllen. Dies ist ein Zustand, den ich seit einigen Monaten kritisiere. Die CPT appellierte an Sie „der Unterbringung in diesen Spezialabteilungen für diese beiden Gruppen ein sofortiges Ende zu setzen.“
 
Meine Frage: Hat die CPT die Befugnis zu sagen was sie will, weil Sie nichts unternehmen können, um sie davon abzuhalten und bringen Sie die Gefängnisangestellten in Belgien, die die gleiche Ansicht haben und die gleiche Kritik äußern, zum Schweigen?
 
Es fühlt sich an, als ob die belgischen Gefängnisse als Eigentum des Militärs gesehen werden: Niemand darf hineinsehen, Fragen dürfen nicht gestellt werden und Kritik ist verboten. Die Politik der von Herrn Meurisse genehmigten Inhaftierung ist keine Politik; es ist ein obsessives Gefahrenmanagement: gegen die Gefahr der Flucht, die Gefahr der Rückfälligkeit. Es ist meine Überzeugung, dass, solange die Verantwortlichen fortfahren die Gefängnispolitik auf der Grundlage von obsessivem Gefahrenmanagement zu gestalten, werden Sie nur die Unsicherheit, die Sie behaupten zu bekämpfen, anfachen.
 
Falls die Strafvollzugsbehörden, ebenso wie Sie selbst, wirklich höhere Sicherheit schaffen wollen, dann sollten Sie mir meinen Arbeitsplatz zurückgeben und mich meine Arbeit als Lehrer in Gefängnissen fortsetzen lassen. Die Empfehlung 1741 des Europarates, die sich mit der Rehabilitierung von Häftlingen beschäftigt, sieht vor, dass „das Recht auf Bildung ein Grundrecht ist. Deshalb sind die Strafvollzugsbehörden verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Bildung von Häftlingen zu ergreifen.“
 
Es gibt also nicht nur die Frage der Sicherheit, sondern auch eine der Bildung. Und was die Sicherheit betrifft: Die größte Sicherheit entsteht durch das Investieren in die Schaffung von Chancen für Menschen, die in der Vergangenheit ihrer Chancen beraubt worden sind. Um einen Einblick zu erhalten, was für eine Farce Bildung im belgischen Strafvollzug heute ist, braucht man nur auf die Ergebnisse einer kleinen Studie zu sehen. Diese Studie ergab, dass 75 Prozent der Gefängnisinsassen aus Familien stammen, in denen der Vater Arbeiter, arbeitslos oder unbekannt ist. 45 Prozent der Häftlinge haben keinen einfachen Grundschulabschluss und 30 Prozent haben überhaupt keine Qualifikation. Dies ist die Situation, der die Helfer und Lehrer in den Gefängnissen gegenüberstehen.
 
Die französische Community in Belgien hat 55 Vollzeitbeschäftigte um 5000 Häftlinge zu unterstützen. Falls es allen Lehrern und Helfern gelänge, zehn Prozent der Gefangenen in diesem Land zu erreichen, wäre das schon etwas. Es gibt einen gewaltigen Bedarf an Ausbildung und Unterricht, der einfach nicht verwirklicht werden kann, weil es weder genügend Lehrer, noch genügend Klassenzimmer gibt.
 
Ich schließe diesen Brief ab, indem ich Sie noch einmal auffordere, sich mit mir zu treffen und um ein Gespräch bitte. Unterbleibt dies, werde ich keine andere Wahl haben, als meinen Fall vor den Belgischen Staatsrat und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen.
 
Hochachtungsvoll,
Luk Vervaet
 
 
(1) Rapport au gouvernement de la Belgique relatif à la visite effectuée en Belgique par le Comité européen pour la prévention de la torture et des peines ou traitements inhumains ou dégradants (CPT) du 28 septembre au 7 octobre 2009, Strasbourg 23 juillet 2010
 
Wir danken S.G. für die Übersetzung dieses Briefes aus dem Englischen. (PK)


Online-Flyer Nr. 268  vom 22.09.2010

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