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Buchkritik
"Ende der Nacht" und "Es macht die Seele kaputt"
Von Melanie Weidemüller und Peter Kleinert
Wie war das Ende der 60er Jahre in Swinging London, als Kunst, Musik, Lifestyle, fernöstliche Spiritualität und alle verfügbaren Drogen eine explosive Allianz eingingen und die lebenshungrigen Antispießer in ihren Bann zogen? Literatur ist prädestiniert, neben Historie das spezifische Lebensgefühl und den Geschmack einer bestimmten Zeit zu vermitteln. Ingrid Strobl versucht dies in ihrem neuen Roman »Ende der Nacht« - und sie hat eine kluge Erzählkonstruktion gewählt, um Nähe und Abstand zu wahren.
Sommer 1968: London, Hippies, Realismus
Während ihre politisierte Freundin Lotta in München demonstriert, wird die Protagonistin Anna als 17-jährige Austauschschülerin im Sommer 1968 von der Euphorie der neuen Londoner Hippiekultur mitgerissen. Sie zieht in eine Kommune am Hampstead Heath, tingelt durch Portobello, Galerien in Chelsea, Pubs in der Kings Road und Szenepartys, raucht ihre ersten Joints, wirft Trips. Sie findet kein Ende und merkt dies erst, als sie als zugedröhnter Heroinjunkie längst die Kontrolle über ihr Leben verloren hat: »Realistisch ist nur die Gier nach einem neuen Schuss«.
Persephone, Göttin der Unterwelt
Dreißig Jahre später führt Anna mit ihrem Freund Ben ein geordnetes Leben als Übersetzerin in Köln, bis die Lektüre der alten Briefe an Lotta die Vergangenheit zurückholt. Der jugendlichen Naivität wird so die reflektierende, aber niemals abgeklärte Perspektive der 53-Jährigen zur Seite gestellt, die sich erneut fragt: Was ist diese unheilbare dunkle Sehnsucht, die einen in Drogen, in spirituelle Grenzerfahrung wie zur Kunst treiben kann? Das Bild für diese Ambivalenz ist Persephone, unfreiwillig-freiwillige Göttin der Unterwelt und Wanderin zwischen den Welten, die Anna auf einer Darstellung Rosettis bis in die Kölner Wohnung begleitet hat.
Leises Buch für Nachgeborene
Nein, wir erfahren in »Ende der Nacht« nichts weltbewegend Neues über »1968« oder über Drogen, aber selten wurde so unprätentiös davon erzählt. Strobl vermeidet die abschreckende Moral wie den romantisierenden Szenereport. Wenn sie jene drogengesättigten Songzeilen von Morrison, Lou Reed, Velvet Underground, Marianne Faithfull oder den Stones zitiert, die eine ganze Generation mitgesummt hat, vermittelt sie die Faszination dieser Musik und entmythisiert sie gleichzeitig: Sie sind Kunst wie Ausdruck tödlicher, hässlicher Sucht. Es ist die gelassene (Erzähl-)Haltung, die dieses leise Buch für »Nachgeborene« sympathisch macht. Auch Strobls Generation tut sich ja sonst nicht leicht mit der ehrlichen Selbsterkundung im Erzählen von Biografien.
Nach dem Roman ein Sachbuch vom Straßenstrich
Nach Abschluss des Romans hat Ingrid Strobl sich monatelang in die reale Welt des Straßenstrich an der Geestemünder Straße in Köln begeben und 13 heroinabhängige Prostituierte ausführlich zu ihrem Leben befragt. Die Frauen berichten von traumatischen Kindheitserfahrungen, ihrem Leben als Treberinnen auf der Straße, vom Einstieg in die Welt der harten Drogen, den ersten beglückenden Highs und der zunehmenden Gefangenschaft in der Sucht. Sie erzählen vom Stress der Geldbeschaffung, von den ersten Erfahrungen mit Freiern, vom Alltag und dem Horror des Anschaffens, von missglückten Versuchen, clean zu werden, den Mühen des Methadonprogramms.
Eine spannende Lektüre nicht nur für Junkies
Die meisten Frauen, deren Geschichte die Autorin hier zählt, müssen immer noch anschaffen, einige haben aber auch den Ausstieg (vorläufig) geschafft. Ingrid Strobl zeichnet sensibel nach, wie diese Frauen ihre Liebesbeziehungen erleben, was ihnen ihre Kinder und ihre Träume bedeuten und wie sie um ihr Überleben kämpfen. Ihr Buch handelt nicht von Opfern oder "Fällen", sondern porträtiert reale Menschen mit Mut, Ängsten, Albträumen und Sehnsüchten. "Es macht die Seele kaputt - Junkiefrauen auf dem Strich" - ein Buch über Erfahrungen, die grundverschieden vom Leben und Erleben der Jugend in den späten 60er und früheren 70er Jahren sind. Eine spannende Lektüre nicht nur für Junkies, Sozialarbeiterinnen und Pädagogen, sondern auch für ein allgemeines Publikum, für Jugendliche von heute, ihre Eltern und für Veranstaltungen an Schulen.
Ingrid Strobl, 1952 in Innsbruck geboren, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie und lebt als freie Autorin in Köln. Sie schreibt Bücher, Hörfunkbeiträge und Kurzgeschichten, macht Dokumentarfilme und Fernsehfeatures. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Sag nie, du gehst den letzten Weg (Fischer Taschenbuch, 1989), Mir zeynen do - Der Ghettoaufstand und die jüdischen Partisaninnen von Bialystok (Dokfilm, KAOS-Team, 1992), Anna und das Anderle (Fischer, 1995), Die Angst kam erst danach (Fischer Taschenbuch, 1998), Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt (Krüger, 2000).
Ende der Nacht, der Roman, und "Es macht die Seele kaputt" - Junkiefrauen auf dem Strich, das Sachbuch, sind im Orlanda-Verlag "von Frauen, mit Frauen - für alle" erschienen. Mehr unter www.orlanda.de und www.ingrid-strobl.de. Aus ihrem Roman liest sie am 9. Mai ab 20 Uhr im Anderen Buchladen, Weyertal 32, 50937 Köln. Melanie Weidemüller hat den Roman für die Kölner StadtRevue besprochen. www.stadtrevue.de

"Ende der Nacht" - Roman
Buchcover

"Es macht die Seele kaputt" - Sachbuch
Buchcover
Online-Flyer Nr. 41 vom 25.04.2006
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Buchkritik
"Ende der Nacht" und "Es macht die Seele kaputt"
Von Melanie Weidemüller und Peter Kleinert
Wie war das Ende der 60er Jahre in Swinging London, als Kunst, Musik, Lifestyle, fernöstliche Spiritualität und alle verfügbaren Drogen eine explosive Allianz eingingen und die lebenshungrigen Antispießer in ihren Bann zogen? Literatur ist prädestiniert, neben Historie das spezifische Lebensgefühl und den Geschmack einer bestimmten Zeit zu vermitteln. Ingrid Strobl versucht dies in ihrem neuen Roman »Ende der Nacht« - und sie hat eine kluge Erzählkonstruktion gewählt, um Nähe und Abstand zu wahren.
Sommer 1968: London, Hippies, Realismus
Während ihre politisierte Freundin Lotta in München demonstriert, wird die Protagonistin Anna als 17-jährige Austauschschülerin im Sommer 1968 von der Euphorie der neuen Londoner Hippiekultur mitgerissen. Sie zieht in eine Kommune am Hampstead Heath, tingelt durch Portobello, Galerien in Chelsea, Pubs in der Kings Road und Szenepartys, raucht ihre ersten Joints, wirft Trips. Sie findet kein Ende und merkt dies erst, als sie als zugedröhnter Heroinjunkie längst die Kontrolle über ihr Leben verloren hat: »Realistisch ist nur die Gier nach einem neuen Schuss«.
Persephone, Göttin der Unterwelt
Dreißig Jahre später führt Anna mit ihrem Freund Ben ein geordnetes Leben als Übersetzerin in Köln, bis die Lektüre der alten Briefe an Lotta die Vergangenheit zurückholt. Der jugendlichen Naivität wird so die reflektierende, aber niemals abgeklärte Perspektive der 53-Jährigen zur Seite gestellt, die sich erneut fragt: Was ist diese unheilbare dunkle Sehnsucht, die einen in Drogen, in spirituelle Grenzerfahrung wie zur Kunst treiben kann? Das Bild für diese Ambivalenz ist Persephone, unfreiwillig-freiwillige Göttin der Unterwelt und Wanderin zwischen den Welten, die Anna auf einer Darstellung Rosettis bis in die Kölner Wohnung begleitet hat.
Leises Buch für Nachgeborene
Nein, wir erfahren in »Ende der Nacht« nichts weltbewegend Neues über »1968« oder über Drogen, aber selten wurde so unprätentiös davon erzählt. Strobl vermeidet die abschreckende Moral wie den romantisierenden Szenereport. Wenn sie jene drogengesättigten Songzeilen von Morrison, Lou Reed, Velvet Underground, Marianne Faithfull oder den Stones zitiert, die eine ganze Generation mitgesummt hat, vermittelt sie die Faszination dieser Musik und entmythisiert sie gleichzeitig: Sie sind Kunst wie Ausdruck tödlicher, hässlicher Sucht. Es ist die gelassene (Erzähl-)Haltung, die dieses leise Buch für »Nachgeborene« sympathisch macht. Auch Strobls Generation tut sich ja sonst nicht leicht mit der ehrlichen Selbsterkundung im Erzählen von Biografien.
Nach dem Roman ein Sachbuch vom Straßenstrich
Nach Abschluss des Romans hat Ingrid Strobl sich monatelang in die reale Welt des Straßenstrich an der Geestemünder Straße in Köln begeben und 13 heroinabhängige Prostituierte ausführlich zu ihrem Leben befragt. Die Frauen berichten von traumatischen Kindheitserfahrungen, ihrem Leben als Treberinnen auf der Straße, vom Einstieg in die Welt der harten Drogen, den ersten beglückenden Highs und der zunehmenden Gefangenschaft in der Sucht. Sie erzählen vom Stress der Geldbeschaffung, von den ersten Erfahrungen mit Freiern, vom Alltag und dem Horror des Anschaffens, von missglückten Versuchen, clean zu werden, den Mühen des Methadonprogramms.
Eine spannende Lektüre nicht nur für Junkies
Die meisten Frauen, deren Geschichte die Autorin hier zählt, müssen immer noch anschaffen, einige haben aber auch den Ausstieg (vorläufig) geschafft. Ingrid Strobl zeichnet sensibel nach, wie diese Frauen ihre Liebesbeziehungen erleben, was ihnen ihre Kinder und ihre Träume bedeuten und wie sie um ihr Überleben kämpfen. Ihr Buch handelt nicht von Opfern oder "Fällen", sondern porträtiert reale Menschen mit Mut, Ängsten, Albträumen und Sehnsüchten. "Es macht die Seele kaputt - Junkiefrauen auf dem Strich" - ein Buch über Erfahrungen, die grundverschieden vom Leben und Erleben der Jugend in den späten 60er und früheren 70er Jahren sind. Eine spannende Lektüre nicht nur für Junkies, Sozialarbeiterinnen und Pädagogen, sondern auch für ein allgemeines Publikum, für Jugendliche von heute, ihre Eltern und für Veranstaltungen an Schulen.

Ende der Nacht, der Roman, und "Es macht die Seele kaputt" - Junkiefrauen auf dem Strich, das Sachbuch, sind im Orlanda-Verlag "von Frauen, mit Frauen - für alle" erschienen. Mehr unter www.orlanda.de und www.ingrid-strobl.de. Aus ihrem Roman liest sie am 9. Mai ab 20 Uhr im Anderen Buchladen, Weyertal 32, 50937 Köln. Melanie Weidemüller hat den Roman für die Kölner StadtRevue besprochen. www.stadtrevue.de

"Ende der Nacht" - Roman
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