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Globales
Unser kleiner Nachbar im Westen ist wieder mal schwer zu verstehen
Belgien steht Kopf
Von Huib Riethof

Was mit dem Sprachenstreit und der erneuten Regierungskrise in Belgien los ist, versteht in Deutschland kein Mensch. Die Sprachengruppen sind verfeindet, es geht um einen Wahlkreis… Mehr versteht man als deutscheR LeserIn nicht. Unser niederländischer, seit 20 Jahren im Brüssel wohnender Autor Huib Riethof bringt Licht in das Dunkel und schlägt vor, das Problem entspannt und mit Humor anzugehen. Den folgenden Text hat er in englischer Sprache in seinem mehrsprachigen Blogportal Huibslog veröffentlicht. – Die Redaktion


Belgien steht Kopf
Montage: Huib Riethof
 
Im surrealistisch gesinnten Belgien wird ein dummer Fehler zum klugen Kommentar. Der französische Fernsehkanal TF1 war dabei, seine Zuschauer gestern Abend über die aktuellen politischen Turbulenzen im Nachbarland zu informieren. Man brauchte eine Landkarte um zu zeigen, wo Belgien ist und wie es in drei Regionen geteilt ist. Hier drüber steht sie. Bitte suchen Sie die zwei GRÖSSTEN Fehler.
 
Sie haben sie gefunden! Die französischsprachigen Wallonen leben im Süden Belgiens, die niederländischsprachigen Flamen im Norden. Das ist der erste Fehler. Der zweite ist für Nicht-Belgier weniger offensichtlich. Die dritte Region Belgiens ist die Agglomeration Brüssel. Sie liegt nur ein paar Kilometer nördlich von Wallonien und keineswegs in der Mitte von Flandern. Ein gut informierter französischer Blogger jubilierte ironisch „Das ist die Lösung schlechthin für den belgischen Schlamassel: das französischsprachige Brüssel in der Mitte von Wallonien anstatt von frustrierten Flamen umgeben.“ Nur die gegenseitige ethnische Säuberung wäre einigermaßen beschwerlich…
 
Warum ist es so lustig, wenn die belgische Krise Kopf steht? Dazu sollten Sie wissen, daß die Teilung des Landes in Regionen sprachbasiert ist. Niederländisch sprechende Belgier wurden seit der Unabhängigkeit Belgiens (1830 von den Niederlanden) durch Französisch sprechende Eliten dominiert. Eine kulturelle, regionale und politische Erhebung der Flamen seit Ende des 19. Jahrhunderts zwang die Bourgeoisie von Brüssel und Wallonien, zunächst die Gleichwertigkeit beider Nationalsprachen zu akzeptieren und anschließend eine Serie von Staatsreformen, die Belgien so hinterließ, wie es jetzt ist: ein Land, regiert von zwei Haupt-(Sprach-)Regionen, deren jede eifersüchtig über ihre Vorrechte wacht. Sogar der internationale Handel wird zur Regionalangelegenheit! Stellen Sie sich die Chinesen vor, wie sie eine belgische Wirtschaftsdelegation empfangen, die zwischen Flamen, Wallonen und der separaten Region Brüssel gespalten ist, so geschehen vor einigen Jahren. Mir wurde erzählt, die Chinesen lachten immer noch…
 
Die meisten Grenzprobleme haben mit Asymmetrie zu tun. In Belgien gibt es eine Asymmetrie zwischen Sprache und Boden. Teilt man ein Land entlang sprachlicher Linien, so muss man berücksichtigen, daß es gemischtsprachige Gebiete gibt, die nicht in so ein Schema passen. Da kommt die Hauptstadt, Brüssel, ins Spiel.


Brüsseler Wappen
Quelle: gensgoesgent.blogspot.com
 
Vor langer Zeit war Brüssel eine flämische Stadt. Hier sprechen wir vom Mittelalter. Dann kamen die Burgunder und fügten die Niederen Lande (das aktuelle Benelux) ihrem machtvollen französischen Herzogtum hinzu. Das Französische wurde Hof- und Verwaltungssprache, die Kirche wurde französisch. Später wurden die spanischen Habsburger die Herren des Landes und auch sie sprachen Französisch. Noch später, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, kamen die österreichischen Habsburger, beschützten das Land gegen Niederländer, Franzosen und Engländer und führten auf seinem Boden viele Kriege. Den letzten Krieg des 18. Jahrhunderts, jenen gegen die Französische Revolution, verloren sie. Die französischen Sansculotten (1) eroberten Belgien und Brüssel. Napoleon I. machte Belgien sogar zum Bestandteil der französischen „Nation“ und teilte es in französische Departements auf. Der Wiener Kongress von 1815 (2) gab die Österreichischen Niederlande an den neuen holländischen König. Willem I. scherte sich nicht viel um Sprachen. Seine letzte Frau war ein Mitglied des französisch sprechenden belgischen Adels. Die belgische Revolution von 1830 wurde in Brüssel von der neuen, eng mit dem mächtigen Großbritannien verbundenen, oberen Mittelklasse der Händler und Industriellen gemacht.
 
Wenn Sie Brüssel für eine Ausnahme halten, so müssen Sie einräumen, daß es eine Ausnahme ist, die sehr groß ist. Die zweisprachige Region Brüssel hat 1,2 Millionen Einwohner, der Großraum Brüssel, die Agglomeration und ihre Umgebung, hat zwei Millionen Einwohner – von insgesamt 11 Millionen Belgiern.
 
Die Grenzen zwischen den Sprachregionen wurden 1962 festgelegt. Wie man sich vorstellen kann, ist es nach einem halben Jahrhundert zu einigen Änderungen in der Zusammensetzung einiger Gebiete in der Nähe der „Grenzen“ gekommen. Natürlich trifft das umso mehr auf die Agglomeration Brüssel zu. Um es kurz zu machen: Einige ländliche Gemeinwesen um Brüssel herum nehmen einen Zustrom französisch sprechender Einwohner auf, und, mit der Entwicklung der EU genauso viele Eurokraten, die vielleicht kein Französisch sprechen, aber sicherlich in den meisten Fällen überhaupt kein Niederländisch.
 
Als jemand, der vor 20 Jahren nach Brüssel eingewandert ist, bewundere ich die lockere Art und Weise mit der die Bewohner der Stadt genauso wie die des Umlandes im täglichen Leben mit den Sprachproblemen umgehen. „Les Belges se débrouillent“ – die Belgier finden eine Lösung. Ich denke, das ist das Ergebnis vieler Jahrhunderte Fremdherrschaft. Die Belgier lassen ihre Politiker machen und kommen miteinander auf ihre eigenen Lösungen. Was das betrifft, sehe ich keinen Unterschied zwischen Flamen, Wallonen und „Brüsselärn“.
 
Die Unnahbarkeit meiner neuen Landsleute hat ihre Verdienste. Doch sie ist auch verantwortlich für eine surrealistisch-komplizierte Regierung, die die Spielwiese für Regionalpolitiker ist, die unfähig sind, die Kompromisse zu schlucken, die für das Überleben des Apparates namens „Belgien“ notwendig sind.
 
Wie ich schon bei mehreren Gelegenheiten zuvor sagte: die verantwortungslose Politik von flämischen Separatisten und wallonischen Regionalisten ist dabei, die Stadt Brüssel zu ersticken, die aus eigener Kraft für 20% der wirtschaftlichen Stärke des Landes sorgt. Die letzte Rebellion der Bürger von Brüssel (gegen die burgundische Aristrokratie) war im Karneval 1511 (A.d.Ü.: als sie am Aschermittwoch beschlossen, es möge immer Karneval bleiben). Wird sich das 2011 wiederholen?
Ich muss gestehen: ich hoffe es. (PK)
 
(1) http://de.wikipedia.org/wiki/Sansculottes
(2) http://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kongress
 
Übersetzung von Dagmar Schatz


Online-Flyer Nr. 248  vom 05.05.2010

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