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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Ohrfeige nicht nur für Schwarz-Gelb sondern auch für Schröder/Fischer
Hartz IV endgültig gescheitert - aber...
Von Peter Kleinert

„Das Bundesverfassungsgericht hat über SPD und Grüne, aber auch über Union und FDP ein vernichtendes Urteil gefällt", erklärte Gregor Gysi zum gestrigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts. „Eine schallende Ohrfeige für die Initiatoren von Hartz IV" nannte der Präsident des Sozial- und Wohlfahrtsverbandes Volkssolidarität Prof. Gunnar Winkler das Urteil und war sich darin mit dem globalisierungskritische Netzwerk Attac einig, in dessen Pressemitteilung es hieß: „Die Richter haben deutlich gemacht, dass die geltenden Hartz-IV-Sätze in Widerspruch zu Artikel eins des Grundgesetzes stehen.“ Vor allem bei SPD und Grünen müsse nun endlich eine Debatte über die Agenda-Politik der Regierung Schröder/Fischer, über den eigenen Standort und die eigene Strategie beginnen, fordert der Fraktionsvorsitzende der LINKEN.


Protest des “Kölner Erwerbslose in Aktion“ e.V. gegen Hartz IV-Schikanen
NRhZ-Archiv

Mit diesem historischen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht wohl zum ersten Mal in der Geschichte der BRD festgestellt, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mit den von ihr initiierten und beschlossenen Hartz IV-Gesetzen die Menschenwürde verletzt und gegen das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verstoßen hat. Andrej Hunko, Aachener Bundestagsabgeordneter und Mitinitiator der Montagsdemos gegen Hartz IV meint erleichtert: „Dies ist ein wegweisender und lange überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Seit 2004 kämpfe ich gemeinsam mit Erwerbsloseninitiativen, Gewerkschaften und der Partei DIE LINKE gegen die unsozialen und willkürlichen Hartz-Gesetze. Das Urteil macht all den Menschen Mut, die seit Jahren durch Hartz-IV gedemütigt und unter das Existenzminimum gedrückt werden. Es ist zugleich eine schallende Ohrfeige für die ganz große Koalition von SPD, Grünen, CDU und FDP, die Hartz-IV in den Jahren 2003/2004 gegen breiten Widerstand der Bevölkerung durchsetzten.“

Verstoß gegen das Grundgesetz

Mit seinem klaren Bezug auf den Menschenwürdegrundsatz in Artikel 1 Grundgesetz und auf das  Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 habe das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, „dass es nicht ausreicht, die Höhe der Regelsätze “ins Blaue hinein“ zu bestimmen“, so Professor Winkler von der Volkssolidarität. Jetzt komme es darauf an, „bei der Neubestimmung der Regelsätze die lebensnotwendigen Bedarfe stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Statt sich auf die untersten 20 Prozent der Einkommen zu beziehen, muss eine realistische Betrachtung des Bedarfs von Erwachsenen und Kindern zugrunde gelegt werden. Das heißt z. B. gesunde Ernährung, Mobilität, Bildung und Kommunikation besser als bisher zu berücksichtigen. Bei Kindern muss es darum gehen, sie entsprechend der jeweiligen Altersstufe so zu fördern, dass sie die gleichen Chancen auf Bildung und Entwicklung haben wie jene, die nicht von Grundsicherungsleistungen abhängig sind. Daher stehen insbesondere bei den Kindern deutliche Verbesserungen auf der Tagesordnung."

Die Volkssolidarität begrüße auch, dass die Anpassung der Regelsätze auf der Grundlage des aktuellen Rentenwerts vom Bundesverfassungsgericht als ungeeignet verworfen wurde. "Grundlage für die jährliche Anpassung sollte die Teuerungsrate sein.“ Bei einer sachgerechten, am Bedarf orientierten Bestimmung der Regelsätze, die auch die Teuerung berücksichtigt, müssten nach Berechnungen des PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverbandes die Regelsätze je nach Altersgruppe um bis zu 20 Prozent angehoben werden: für Kinder unter 6 Jahren auf mindestens 254 Euro, für die 6- bis 13-Jährigen auf 297 Euro und für Jugendliche ab 14 Jahren auf 321 Euro, für einen Erwachsenen auf mindestens 440 Euro. Nur dann verdiene eine “Grundsicherung“ ansetzen, diesen Namen wirklich.

Hartz IV gehört abgeschafft!

Nach Ansicht von Dorothea Waldschmidt vom bundesweiten Attac-Rat ist es aber mit einer Erhöhung der Regelsätze allein nicht getan: „Das gesamte System Hartz IV hat versagt und gehört abgeschafft." Als „ersten Schritt in Richtung einer gerechten Gesellschaftsordnung, die jedem Menschen ein Leben in Würde ermöglicht“, fordert Attac die Einführung einer Kinder-Grundsicherung in Höhe von mindestens 500 Euroim Monat: „Das Anwachsen der Kinder- und Familienarmut seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze ist besonders skandalös. Nirgendwo hat die soziale Herkunft so starke Auswirkungen auf den Bildungsverlauf, wird soziale Benachteiligung so zementiert wie in Deutschland", sagte Dorothea Waldschmidt. Dabei wäre Deutschland als eines der reichsten Länder weltweit leicht in der Lage, Kinderarmut effektiv zu verhindern.

2,4 Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut, darunter 1,8 Millionen, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen. Mehr als jedes vierte Kind hier zu Lande ist arm. Besonders häufig betroffen sind dabei Kinder von Alleinerziehenden, MigrantInnen und Erwerbslosen sowie Kinder in den östlichen Bundesländern. Waldschmidt: „Dies ist ein weiterer Skandal: Armut in Deutschland hat eine rassistische und geografische Konnotation." Die Situation der enkommensschwachen Familien werde sich noch drastisch verschlimmern, wenn die Finanznot der Kommunen zur Erhöhung von Gebühren und zu Schließungen öffentlicher Einrichtungen führe.

Aktionen geplant

Mit Aktionen in mehreren ostdeutschen Städten will Attac Kinderarmut dort sichtbar machen, wo sie besonders dramatisch ist – etwa in Schwerin, das mit mehr als 40 Prozent eine der höchsten Kinderarmutsraten deutschlandweit aufweist. Dafür hat Attac gleichzeitig mit der Urteilsverkündigung am Dienstag in Mecklenburg-Vorpommern eine Volksinitiative gestartet, die ein kostenloses warmes Mittagessen für alle Kindergarten- und Grundschulkinder im Land fordert. Ziel der Initiative ist es, das Thema Kinderarmut in den Landtag und die öffentliche Diskussion zu tragen. René Zeitz, aktiv bei Attac Schwerin und Mitglied im bundesweiten Attac-Koordinierungskreis: „In unserer Stadt wird die Armut immer sichtbarer. Viele Kinder kommen hungrig in die Schule und erhalten kaum eine warme Mahlzeit pro Woche. Um gegen Kinderarmut anzugehen, brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Debatte um die Verteilung von Vermögen. Aber als erste Hilfe soll ein kostenloses Essen die Lebensqualität der Kinder verbessern."

Da sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung nicht befugt sieht, selbst einen bestimmten Leistungsbetrag für den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot festzusetzen, hat es den Gesetzgeber aufgefordert, das Verfahren zur Ermittlung der Leistungen an die verfassungsrechtlichen Erfordernissen anzupassen. Dies allerdings ist nach den bisherigen Erfahrungen und den aktuellen Reaktionen auf das Urteil weder von der schwarz-gelben Regierung noch von der rot-grünen Opposition zu erwarten. Da der Gesetzgeber eine Frist bis Ende des Jahres hat, eine grundlegende Korrektur zu realisieren, werden sich bis dahin die überlasteten Sozialgerichte warm anziehen müssen, weil die Einzelfallentscheidung weiter an ihnen hängen bleiben wird.


Nach Protesten gegen Hartz IV-Schikanen in Köln vor Gericht – die Kölner Clownsarmee
Foto:Hans-Dieter Hey

Den von der Schröder/Fischer- und der Merkel/Westerwelle-Politik Betroffenen wird deshalb wohl nichts anderes übrigbleiben, als mit ihren Kindern auf die Straße zu gehen und für die Überwindung der Folgen von prekärer Beschäftigung und Niedriglohn und für Steuergerechtigkeit und Mindestlohn zu kämpfen. Auf Unterstützung aus dem Bundestag rechnen können sie dabei offenbar nur von der LINKS-Partei, deren Abgeordneter Andrej Hunko in Aachen zu den Initiatoren der dort seit Jahren Montagsdemonstrationen zählt. Doch wie unser Beitrag über die “Montagsdemos am Beispiel Recklinghausen“ in dieser Ausgabe zeigt, gibt es genug Initiativen, Gewerkschaften und andere Organisationen, die für eine nachhaltige Verbesserung der sozialen Verhältnisse in einem der reichsten Länder der Welt Proteste organisieren und unteerstützen. Die aktuelle Überschrift der “Kölner Erwerbslose in Aktion“ e.V. (Die KEAs) zum Urteil aus Karlsruhe wäre dafür ein durchaus passendes Motto: „Auf die Plätze, Chaos los!“ (PK).

Kritik an der Haltung der Verfassungsrichter zur Höhe des aktuellen Regelsatzes finden Sie in dem Artikel "Was der Mensch braucht"

Online-Flyer Nr. 236  vom 10.02.2010

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