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Inland
Diether Posser: Der beharrliche Lebensweg eines früheren Spitzenpolitikers
Der Pianospieler
Von Alexander Goeb

Am Samstag, 9.Januar, ist der Essener SPD-Politiker Diether Posser mit 87 Jahren in einem Pflegeheim gestorben. Groß wahrgenommen wurde das in deutschen Medien nicht, obwohl er drei NRW-Landesregierungen als Minister angehörte und Ende der siebziger Jahre beinahe Ministerpräsident geworden wäre. Unser Autor begleitete ihn auf seiner letzten Tournee – als Pianospieler auf den Spuren von in der Nazizeit verfolgten Künstlern. – Die Redaktion

Dieter Posser 1976 auf dem SPD-Parteitag 
in Dortmund
Quelle: Bundesarchiv
Der Vortragsreisende heißt Diether Posser. Er legt seine Aktentasche ab. Sortiert diverse Spickzettel. Umrundet interessiert das Klavier, das ihm fremd ist. Schlägt zur Probe ein paar Akkorde an. Klopft sich ein paar Stäubchen vom seriösen Dreiteiler. Blickt auf die Uhr. Pünktlichkeit ist ihm wichtig. "Meine sehr verehrten Damen und Herren", sagt er in der Essener Alten Synagoge, "während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur sind auch Künstler und Künstlerinnen in Deutschland aus sogenannten rassischen und politischen Gründen bedrängt, verfolgt und getötet worden. Ich möchte Ihnen heute nachmittag über einige dieser Schicksale berichten und Ihnen charakteristische Musikstücke dazu vorspielen."

Diether Posser spricht: freundlich distanziert, keine Allüren, keine Eitelkeiten, eine milde Erzählstimme, nicht schneidend wie Erler oder Wehner, nicht rostig wie Kühn oder Brandt, nicht pastoral wie Rau und nicht ölig wie Barzel. Der Mann war 20 Jahre Minister in NRW, Superminister für Justiz und Finanzen, als Kandidat für den Chefposten des Ministerpräsidenten nur um sechs Stimmen dem späteren Bundespräsidenten Johannes Rau unterlegen, bis ihn 1988 die Diabetes in Pension gehen ließ.

 
Diether Posser auf der Trauerfeier für Fritz Heine 2002 in der Friedrich-Ebert-Stiftung
Quelle: library.fes.de/
 
Posser kennt keine Skandale, kein Nachtreten gegen politische Gegner, keine Korruptionsvorwürfe, keinen Mißbrauch der Flugbereitschaft, keine Badeszenen am Pool oder am Baldeney-See. Ist der Mann hoffnungslos langweilig? Still und bescheiden zieht er seit Jahren durch das Land, hält Vorträge und spielt auf dem Klavier, im kleinen Kreis, vor hundert, zweihundert Leuten in jüdischen Gemeinden, SPD-Ortsvereinen, in Altenheimen, vor Mitgliedern von Initiativen und Organisationen in Dachau und Plauen, in Bonn und Essen, in Düsseldorf, Solingen und anderswo. Mal mit dem Auto, mal mit der Bahn unterwegs, weit über hundertmal ist der Pianospieler Dr. Diether Posser aufgetreten. "Die meisten Musikstücke, die ich spielen werde", Posser wendet sich an sein Publikum, "sind Ihnen wahrscheinlich bekannt. Soweit Sie die Melodien kennen, können Sie die gerne mitsummen oder mitsingen. Das stört überhaupt nicht...Aus dem Ufa-Film ’Die Drei von der Tankstelle’ spiele ich ’Liebling, mein Herz läßt dich grüßen’." Und dann erzählt er von den Stars von damals, von Brigitte Horney, die Angehörige verfolgter Künstler unterstützte, bis sie selbst nur noch 69 Mark auf dem Konto hatte.
 
Wie kommt jemand, der zwanzig Jahre Minister war, alle Weihen eines privilegierten Politikers erhalten hatte, ein hochgeschätzter Jurist zumal, dazu, am Klavier "Liebling, mein Herz läßt dich grüßen" zu spielen?
 
"Ich las im Vorwärts, sagt der Pianospieler, "daß der Verfasser des Liedes ’Heimat deine Sterne’ Erich Knauf hieß. Der Name sagte mir überhaupt nichts. Aufgrund einer Denunziation war er zusammen mit seinem Freund Erich Ohser vor dem Volksgerichtshof angeklagt worden." - Posser recherchiert, Erich Ohser habe sich in seiner Zelle in der Nacht vor der Hauptverhandlung erhängt. Und Freisler, der berüchtigte Volksgerichtshofpräsident, habe mit großer Freude und auf Drängen von Goebbels Erich Knauf zum Tode verurteilt. Alle Versuche von Heinz Rühmann und anderen Künstlern ihn zu retten, seien vergeblich gewesen.
 
"Heimat Deine Sterne"
 
"Ich habe immer mehr gelesen, so an die 50 Bücher. Dann habe ich gesagt, das verwerte ich jetzt mal." - So wurde Posser, zehn Jahre nach seinem Rücktritt vom Ministeramt, Vortragsreisender. "Heimat Deine Sterne", erinnert der ehemalige Leutnant der Luftwaffe, "war das Lieblingslied meiner Staffel. Und wir haben damals viel gesungen beim Militär. Wir wußten natürlich nicht, daß der Verfasser einer der überzeugtesten Gegner des Nationalsozialismus war. Denn als die Nazis Knauf hinrichteten, da war sein Lied seit vielen Wochen das am meisten gewünschte Lieder der Soldaten."
 
Mit Mühe, Mut und Glück überstand Posser das Ende des Krieges. Erfahrungen machte er mit den Russen: die einen wollten ihn hinrichten, andere redeten freundlich auf ihn ein, es müssen endlich Frieden sein.
 
Alle sprachen damals vom Frieden. Die Siegermächte, Truman, Stalin, Churchill. Und der Verlierer, Nazi-Deutschland. Das Land war verwüstet. Hunger und Not herrschten. Aufbauhelfer waren gesucht. Diether Posser, der junge Jurist, wollte in den Diplomatischen Dienst, ein krisensicherer Job in einem neuen, friedlichen Deutschland. Das Völkerrecht interessierte ihn, und Sprachen konnte er auch.
 
Schnell war Deutschland in West und Ost geteilt. Die Zeichen standen auf Trennung. Alte Nazis wurden amnestiert oder kamen mit geringen Strafen davon. Im Westen tagte der Parlamentarische Rat, der eine neue, westdeutsche Verfassung ausarbeiten sollte. Das Programm des neuen Bundeskanzlers Konrad Adenauer: Westbindung und Wiederbewaffnung. In der Bundesrepublik formierte sich der Widerstand. Der CDU-Politiker Gustav Heinemann, Innenminister im ersten Kabinett Adenauer, trat aus der CDU aus. Posser lernte Gustav Heinemann kennen.
 
Gesamtdeutsche Volkspartei
 
Wie war das damals? "Heinemann gründete mit anderen, Johannes Rau war dabei, Helene Wessel, die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), eine erfolglose Unternehmung, wie sich bei den Bundestagswahlen im Jahre 1953 zeigen sollte. Die GVP erhielt nur 1,2 Prozent der Stimmen und wurde wenig später aufgelöst. Aber damit war der Kampf gegen den neuen Militarismus und gegen die von Adenauer propagierte Wiederaufrüstung nicht passé. Der neue Geheimdienst, mit dem ehemaligen Nazi-Oberagenten Gehlen an der Spitze, machte mächtig mobil."
 
1951 gründeten Heinemann und Posser die Notgemeinschaft für den Frieden Europas. Sogar CSU-Leute waren dabei. Posser: "Der Geheimdienst berichtete wilde Sache über uns. Wir würden die Bundesrepublik den Russen ausliefern. Das war natürlich dummes Zeug Aber es wirkte damals. Die Russenfurcht war groß und wurde bewußt geschürt."
 
Posser wird Sozius in der Essener Anwaltskanzlei Gustav Heinemann. Die Anwaltskanzlei Heinemann / Posser bekam unvermutet viel Arbeit. Die vor allem von Heinemann erwarteten lukrativen Aufträge aus den Reihen der Großindustrie blieben allerdings aus. Die Klientel kam aus einer weniger gut betuchten Ecke. Posser erklärte das. Geschichtsstunde: "1951 war ein Gesetz gemacht worden, das in der Öffentlichkeit lange Zeit völlig unbeachtet blieb, ein erstes Strafrechtsänderungsgesetz. Das führte Strafrechtstatbestände gegen Landesverrat an. Da hatten wir nichts dagegen. Und Hochverrat, also Versuche des gewaltsamen Umsturzes. Das hielten wir auch für in Ordnung. Aber der Hauptabschnitt war sogenannte Staatsgefährdung. Das war Unfug. Da war die Meinungsfreiheit tangiert, da wurden normale, ganz normale Sachverhalte unter Strafe gestellt. Da wurden Vereinigungen als verfassungsfeindliche Vereinigungen bezeichnet, die z.B. für Verständigung eintraten. Das war eine ganz, ganz wilde Zeit."
 
Anwalt im Kalten Krieg
 
Es begann das denkwürdige Engagement des ehemaligen Luftwaffenoffiziers Diether Posser als Anwalt im Kalten Krieg. Zu den ersten Klienten, die in die Mühlen der Polit-Strafgesetze gerieten, gehörte der ehemalige KPD-Bundestagsabgeordnete Heinz Renner. Posser erinnert sich: "Dem Heinz Renner hat man einmal vorgeworfen, daß er in der KPD vor dem Verbot eine führende Rolle gespielt hat, was zutraf. Aber diesen dicken Brocken konnten wir aus dem Weg räumen, weil wir erfolgreich waren mit einer Verfassungsbeschwerde. Wir haben gesagt, es ist unerträglich, daß eine Partei zunächst zugelassen ist, Abgeordnete in den Parlamenten hat, denen der Staat Diäten zahlt, deren Versammlungen vor Angriffen von politischen Gegnern geschützt werden müssen, und jetzt nachträglich wird das als von Anfang an gesetzwidrig gehalten."
 
Hinzu kam: Heinz Renner war nicht nur Kommunist, sondern auch Humanist. Die Menschen in Essen, der Ruhrgebietsmetropole, konnten sich noch gut erinnern, wer ihnen geholfen hatte, als es ihnen besonders schlecht ging. Ein Emigrant, zurückgekehrt nach Deutschland, hatte in Nacht- und Nebelaktionen dafür gesorgt, daß die Menschen wenigstens mit den Notwendigsten versorgt waren. In Essen war das damals ein merkwürdiges Gespann: der "Kapitalist" Gustav Heinemann als ehemaliges Vorstandsmitglied der Rheinischen Stahlwerke und der KPD-Funktionär Heinz Renner. Von den Alliierten war Renner nach dem Krieg als OB von Essen eingesetzt worden, ehe ihn nach den ersten Kommunalwahlen der CDU-Kandidat Gustav Heinemann ablöste.
 
Posser tritt anno 2001 wieder ans Podium, diesmal im Alten Rathaus von Bonn: "Der Wind hat mir sein Lied erzählt, das war 1938 der größte Plattenerfolg für Zarah Leander, denn man konnte damals noch beliebig viele Schallplatten kaufen. Im Kriege, die Älteren werden sich erinnern, konnte man nur neue Schallplatten kaufen, wenn man zwei alte abgab."
 
130- bis 140 000 Ermittlungsverfahren wegen Staatsgefährdung
 
Klara Marie Faßbinder, die Bonner Pädagogik-Professorin, war auch Klientin Possers. "Die Klara Marie Faßbinder war eine Pazifistin. Ursprünglich kam sie aus einem sehr deutschnational eingestellten Elternhaus. Hat sich im Krieg sofort an die Front gemeldet, um dort Wehrkundeunterricht zu geben. Im besetzten Gebiet lernte sie dann Französinnen und Belgierinnen kennen und merkte, was der Krieg für ein Wahnsinn ist. Und sie hat angefangen, den Krieg zu hassen und wurde Pazifistin. Die kriegte sehr viel Ärger mit der Polizei." Auf "Friedensklärchen", wie sie genannt wurde, setzte die politische Justiz Polizisten, Agenten und Denunzianten an. Als Folge mußte die Professorin ihren Lehrstuhl an der Bonner Hochschule räumen. Spitzel beschatteten sie, als sie im Auftrag der katholischen Bischöfe nach Moskau reiste, und der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke verhinderte die Auszeichnung mit einem hohen französischen Orden, den Klara Marie Faßbinder für eine Übersetzung von Texten Paul Claudels bekommen sollte. In Frankreich verstand das niemand. Entsprechend war das Echo in der Öffentlichkeit. Possers Resümee der Adenauerschen Polit-Hatz: "Insgesamt sind 130- bis 140 000 Ermittlungsverfahren wegen Staatsgefährdung durchgeführt worden. Die Zahl der Verurteilungen lag bei etlichen tausend."
 
Eine Ära ging zu Ende. Die CDU hatte abgewirtschaftet. Als Übergang kam die große Koalition, Gustav Heinemann wurde Justizminister. Seine erste Amtshandlung war die Abschaffung des politischen Strafrechts. Am Wochenende ging Posser mit Heinemann spazieren. "Der wollte mich für das Bundesverfassungsgericht vorschlagen Das wäre sicher eine interessante Tätigkeit gewesen, aber hätte Ausscheiden aus dem aktiven politischen Leben bedeutet." Stattdessen ging Posser in die Politik, in die Landespolitik, wurde Abgeordneter in NRW. "Der Heinz Kühn kam auf mich zu und sagte: "Sag mal, willst du Minister für Bundesangelegenheiten werden?" Das ist nach dem Ministerpräsidenten mit weitem Abstand das Interessanteste in der Regierung, weil man nicht nur Mitglied des Landtages ist, sondern man ist Mitglied des Bundesorgans Bundesrat. Das ist eine einzigartige Kombination. Das hat mir viel Spaß gemacht. Ich habe zu allen Ostverträgen gesprochen, das war für mich besonders attraktiv" 20 Jahre war Posser Minister. Er bekam Diabetes und verabschiedete sich mit 66 vom Stress.
 
Immer wieder erzählt Posser von Bruno Balz. Balz war der Textdichter, der in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die meisten Liedtexte geschrieben hat, über 1400:  "Dieser arme Bruno Balz war dauernd von Einweisungen in ein KZ bedroht, weil er eine homosexuelle Veranlagung hatte, und für die hatten die Nazis ein besonderes Programm entwickelt - Vernichtung durch Arbeit."
 
Der "Fall Haas"
 
Rund 30 Jahre nach dem Ausstieg als Anwalt im Kalten Krieg und nach der Abschaffung des politischen Strafrechts erhielt Posser einen Brief. Die Humanistische Union fragte an, ob er bereit sei, über den "Fall Haas" etwas zu schreiben. Der "Fall Haas", der dann vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt wurde, war für Posser kein Begriff. Es ging dabei um die Verurteilung der Frankfurterin Monika Haas wegen Beteiligung an der Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" 1979. Von der Anklage wurde wie unter dem politischen Strafrecht in den 50er Jahren "Zeugen vom Hörensaqen" präsentiert. Posser, gerade von einem Herzinfarkt genesen, griff ein. Er informierte bekannte Juristen und schrieb mehrere Artikel zu dem brisanten Thema, einen für die Zeitschrift der Humanistischen Union:
 
„Es ist unzulässig, daß derselbe Staat, einmal durch seine vollziehende und zum anderen durch seine rechtsprechende Gewalt handelnd, sich mit sich in Widerspruch setzt und sein eigenes, in der Aussageverweigerung liegendes Beweisverbot einseitig dadurch umgeht, daß er künstliche „Zeugen“ einführt, die fragmentarisch bekunden, was sie hörten, aber das Wesentliche verschweigen müssen, von wem sie es hörten. Dadurch macht der als Einheit aufzufassende Staat einen Teil seines Vorgehens zu einem Geheimverfahren“. Bis heute ist das aktuell.
 
Erst Ende 2001 ist Diether Posser vom Amt des Vorsitzenden der Bundesschiedskommission der SPD zurückgetreten. Gerade erst hat er seinen Sitz im Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ aufgegeben.
 
"Ich möchte Ihnen noch eins spielen", sagt Posser am Ende einer seiner letzten Aufführungen. "Da kann man nämlich ne Menge daraus lernen, und das heißt: „Auf der Heide blühen die letzten Rosen“. Der Komponist war Robert Stolz, auch einer der vielen hochbegabten jüdischen Komponisten und dazu schrieb Bruno Balz, der Textdichter." - Posser zitiert:
 
"Auf der Heide blühen die letzten Rosen
Braune Blätter fallen müd vom Baum
Und der Herbstwind küßt die Herbstzeitlosen
Mit dem Sommer flieht manch Jugendtraum
Möchte einmal noch ein Mädel kosen
Möchte vom Frühling träumen und vom Glück.“
 
“Sehr schöne Verse“ sagt er, "wenn Sie sich das vorstellen, da ist Poesie. 1935 bekam das Lied auf einem internationalen Wettbewerb die höchste Auszeichnung. Vor einiger Zeit war wieder so ein Wettbewerb. Der deutsche Beitrag bestand darin, daß da einer sang: „Waddehaddedudeda“. Meine Damen und Herren, das ist die reine Wahrheit, so weit sind wir gekommen, Waddehaddedudeda. Das hatte den vorletzten Platz bekommen." Zum Abschied möchte ich Ihnen nun das Lied von Bruno Balz vorspielen." (PK)

 
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Alexander Goeb hat gerade das Buch „Atemlos - Mehr als ein Reportagebuch“ veröffentlicht:
240 Seiten, € 16,80, Pro BUSINESS Verlag, ISBN: 978-3-86805-572-6

 

Online-Flyer Nr. 233  vom 20.01.2010

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