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Aktueller Online-Flyer vom 20. April 2024  

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Aktuelles
Zahltag-Aktivisten im Hochsicherheitstrakt
ARGE-Anklage eingestellt, Bußgeld an die Polizei
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

Nein,  es wurde nicht gegen die RAF verhandelt. Derlei hätte man vermuten können, angesichts einer Polizeiinvasion rund um und im Justizpalast an der Luxemburger Straße. Der Prozeß, zu dem die Öffentlichkeit erst nach zwei Eingangskontrollen schärfster Sorte Einlaß fand, richtete sich gegen zwei sozial engagierte Aktivisten der Erwerbslosen-Selbsthilfeaktion „Zahltag". Zum Schluß wurde das Verfahren eingestellt - gegen ein Bußgeld, zu zahlen von den zwei angeklagten Polizeiopfern ausgerechnet an ein Sozialwerk der Polizei. Einblicke in Saal 210 des Kölner Amtsgerichts von unserem Gerichtskorrespondenten. Die Redaktion.



Aufklärung in der ARGE kommt ungelegen: Kölner Erwerbslose in Aktion, die wie drei Viertel der Bevölkerung Hartz IV weghaben wollen

Delikt: Kundgebung für soziale Rechte

Am 1. Oktober 2007 hatte die „Agenturschluß"-Initiative  einen ersten „Zahltag" vor und in der Kölner ARGE organisiert, als Protest gegen tägliche Entrechtung, Antragsverschleppung, Demütigung der angeblich zu betreuenden Klientel. Und als Versuch, das im Sozialgesetzbuch 10 eingeräumte Recht auf Begleitung zu ARGE-Terminen auch gegen die Rechtsverweigerung der Kölner ARGE durchzusetzen. Und natürlich als Protest gegen das Hartz-System überhaupt.

Hausverbot für Sozialbeistand

Dem Herrn Picker, das ist einer der drei Geschäftsführer der Regionaldirektion der sogenannten Bundesagentur für Arbeit, die ihre Räumlichkeiten an die ARGE vermietet, an der sie gleichzeitig selbst beteiligt ist, paßte die ganze Richtung nicht. Schon garnicht, daß die Aktivisten mit Sang und Klang im Innenbereich, in der sogenannten Empfangszone, ihre Informationstische aufstellten und dabei so schreckliche Worte wie „Begleitungsrecht" von sich gaben. Als angeblicher Hausrechtsinhaber erteilte Herr Picker ein Hausverbot und holte auch gleich die Polizei. Die pickte sich einen der beiden später Angeklagten als angeblichen Rädelsführer heraus, um ihn aus dem Gebäude zu werfen und damit zugleich die Veranstaltung zu beenden. Der andere Angeklagte soll versucht haben, ihn aus dem polizeilichen Griff zu entfernen, und wurde von handfesten Jungpolizisten „zu Boden verbracht“. Daß er, auf dem Bauche liegend, wie es die bei polizeilicher Kommunikation mit dem Bürger bevorzugte Demutsposition gebietet, nicht sofort seine Hände freigab, um sich ordnungsgemäß fesseln zu lassen, wurde ihm per Anklage als „Widerstand" ausgelegt.

Geschichten, die das Leben schreibt

Soweit in Kürze die Vorgeschichte. Am 15. Juni standen nun die beiden Aktivisten vor Gericht, die bei dem Versuch, unter anderem gesetzliche Rechte gegen die - verfassungswidrige -  ARGE zu reklamieren, zu Opfern eines mit höchster Wahrscheinlichkeit rechtswidrig erteilten Hausverbotes und des darauf beruhenden, gleichermaßen „rechtmäßigen", Polizeieinsatzes geworden waren. Allein dieser Tatbestand ist so klischeehaft, daß er von keinem Kabarettisten oder Kapitalismuskritiker erfunden werden könnte. Solche Konstellationen erfindet der real existierende Kapitalismus täglich selber, aus den selbst geschaffenen Zuständen heraus.-

Verdachtsgrund Prozeßbesuch

Die Prozeßoperette vom 15. Juni in der Hochsicherheitszone des Kölner Amtsgerichts allerdings setzte den schrillen, grotesken Schlußakkord zum voraufgegangenen ARGE-Drama. Die häßliche Ouvertüre hierzu lieferte schon der Publikumseinlaß. In diesem subventionierten Theater ist das Publikum der potentielle Feind, und bei dieser „Vorstellung" erst recht. Ohne auch nur Rechtsanwalt Detlef Hartmann, den Verteidiger der beiden Angeklagten, als Verfahrensbeteiligten vorab zu informieren, hatten die Justizgewaltigen sogenannte „sitzungspolizeiliche Maßnahmen" angeordnet, die das Gerichtsgebäude und den Verhandlungssaal in einen polizeilich besetzten Sperrbezirk verwandelten.  Es herrschten Zutrittsbedingungen, nicht unähnlich der Eingangszone zu einer Justizvollzugsanstalt: Zweifache Kontrollschleusen, verbunden u.a. mit Zwangsabgabe sämtlicher, etwa auch der Mitschriftnotiz dienlicher, Gegenstände, von Handys bis zu harmlosen USB-Sticks.

Exzessive Sicherheitsparanoia

Auf Protest stieß die Maßnahme, sämtliche Personalausweise beidseitig zu kopieren. Zwar wurden die Ausweiskopien nach dem Verfahren wieder zurückgegeben, doch Teile des interessierten Publikums mutmaßten hierin den Versuch, die Gelegenheit dieses Prozesses werde mal eben zu einer ausgedehnten Datensammlung über potentielle „Sympathisanten" der „Zahltag"-Aktionen ausgenutzt. Selbst, wenn solche Befürchtungen unbegründet sein sollten, so erregte doch schon das gegenüber dem Publikum diskrimierende, ja kriminalisierende, Vorfeld des Verfahrens unvermeidlich Mißtrauen. Jedenfalls bei den Teilen der Prozeßbesucher, die nicht, offen oder getarnt, zur Polizei gehörten.


Wegen zwei Protestierern ARGE und Amtsgericht zum Hochsicherheitstrakt
gemacht
: Stammheim light

Stammheim light

Wer die Hochsicherheitsschleusen passiert hatte, durfte dann endlich, lückenlos observiert durch ein Spalier Polizei, den eigentlichen Theatersaal betreten. Dessen „Bühnenausstattung" war denn auch passend: Ein Besucher wähnte sich spontan in Stuttgart-Stammheim. Man hätte angesichts der Abtrennung des Zuschauerraums durch eine dicke Panzerglasscheibe aber auch an einen italienischen Mafiaprozeß denken können.

Abschreckung der Öffentlichkeit

Was für die Justiz angeblich erforderliche Sicherheitsmaßnahmen gegen in Aufrufen angeblich angekündigte Randale waren, sah Rechtsanwalt Detlef Hartmann allerdings vollkommen anders. Der jungen Amtsrichterin, die für diese Maßnahmen nicht verantwortlich war, sie aber zu vertreten hatte, hielt er den hohen verfassungsrechtlichen Rang der Öffentlichkeit im Gerichtsverfahren entgegen, als Instanz öffentlicher Machtkontrolle auch gegenüber der Justiz. „Durch diese Maßnahmen wird Öffentlichkeit jedoch eingeschüchtert und abgeschreckt", kritisierte Hartmann.


Offenbar hat man was voneinander
Fotos: gesichter zei(ch/g)en

Diskriminierendes Signal


Welches Signal durch den diskriminierenden Kontrollexzeß gesetzt worden sei, versuchte Detlef Hartmann mit folgendem Hinweis zu vermitteln: Man müsse bedenken, daß ein Teil der Öffentlichkeit in diesem Saal aus Personen bestehe, die als Arbeitslose ohnehin täglich „dem brutalen Regime der ARGE" unterworfen seien und nun wiederum durch Maßnahmen der Stigmatisierung erlebten, daß sie suspekt seien, nicht dazugehörten, daß sie „exkludiert", ausgeschlossen, werden sollten. Man darf freilich bezweifeln, daß solche Erläuterungen in die beengte Begriffswelt von Justiz-geschweige denn ARGE-Verantwortlichen überhaupt Eingang finden. Die Richterin versuche gleichwohl atmosphärische Schadensbegrenzung. Sie betonte  angelegentlich, man habe doch den - mit etwa 150 Plätzen -  größten Saal im Hause zur Verfügung gestellt und sich insofern „nichts vorzuwerfen". Auch bemühte sie sich, durch Mikrophonbeschallung, das Verfahren auch im abgetrennten Zuschauerraum hörbar zu machen. Vorher hatte es schon Proteste gegen einen weiteren, akustischen, „Ausschluß der Öffentlichkeit" gegeben. Mühelos hörbar waren allerdings Bravorufe und Beifall für die beiden Angeklagten.

Alleine hast du keine Chance

In seiner Prozeßerklärung betonte Zahltag-Aktivist Guido Arnold die Berechtigung der Aktion vom 1. Oktober 2007.  Es gehe letztlich um tägliche Angriffe auf die Menschenwürde durch das System von Hartz IV. „Allein", so Arnold, „haben die Leute keine Chance.. Das Auskegeln selbst aus menschenunwürdig niedrigen ARGE-Leistungen ist System. Ebenso das Bestreiten und Beschneiden von Begleitungsrechten." Darauf habe der Zahltag aufmerksam wollen, damals mit seiner ersten Aktion im Oktober 2007. Seither hätten sich die Zahltage als Mittel erfolgreicher Durchsetzung wenigstens der elementaren gesetzlichen Ansprüche erwiesen. Für Arnold und seine Mitstreiter ist gleichwohl klar: „Wir wollen kein ’besseres’ Hartz IV, sondern dessen Abschaffung. Wir setzen uns nicht an ’runde Tische’. Wir nehmen nicht an ’Optimierungen’ dieses Systems teil." Sein Resümee: „Was ist ein ’gebrochener Hausfriede’ der ARGE gegen täglich gebrochene Menschenwürde durch die ARGE?" Beifall vom immer "interaktiv" mitgehenden Publikum.

Zeuge  Picker - überfragt

Auftritt des Zeugen Picker, durch seine Strafanzeige Urheber dieses Hochsicherheits-Prozesses. Der hochqualifizierte Herr Agentur-Geschäftsführer mußte auf so manche Frage passen, die doch sein engstes Arbeitsfeld betraf - vor allem aber seine Berechtigung, überhaupt ein Hausverbot in der ARGE zu erlassen und für diese Strafanzeigen zu stellen. Auf der Grundlage fragiler, dem Herrn Picker selbst nur bruchstückhaft bekannter, Rechtskonstruktionen fungiert seine Arbeitsagentur einerseits als Vermieterin für die ARGE und andererseits als Dienstleisterin für deren Zwecke. Hatte Herr Picker, darauf spitzten sich stundenlange, seminarreife, Erörterungen und Haarspaltereien mit dem freilich vollkommen überforderten Herrn Picker  zu, hatte Herr Picker damals und hat er überhaupt ein rechtlich mit notwendiger Bestimmtheit festgelegtes, wirksames Hausrecht, infolge dessen er ein Hausverbot aussprechen konnte?

Rechtsmängel evident

War er nicht berechtigt, das Hausverbot auszusprechen, so war auch das Hausverbot unwirksam. Und daraus folgend war womöglich auch der Polizeieinsatz zur Durchsetzung eines unberechtigten Hausverbotes unberechtigt. Hier drohten Gefahren nicht nur im Hinblick auf die Machtbefugnisse von Agentur-, ARGE- und Polizeigewaltigen, sondern mehr noch im Hinblick auf die rechtliche Existenz der ARGE. Die ja bekanntlich vom Bundesverfassungsgericht, bezogen auf die Gesetzeskonstruktion ARGE an sich, als verfassungswidrig erkannt und nur noch für eine Schonzeit bis 2010 geduldet wird.

Nichts Genaues weiß er nicht

So  bohrte Detlef Hartmann immer wieder in schmerzende Wunden: Handelt es sich bei der ARGE überhaupt um eine handlungsberechtigte juristische Person? Für die man insofern irgendwelche Vertretungsrechte wahrnehmen könne? Ach je, das will der Herr Geschäftsführer gar nicht beantworten. Er flüchtet sich in die Abwehrschanze aller, die nichts Genaues wissen: Darum gehe es doch garnicht. Der Anwalt hingegen ist bekanntermaßen ein Freund der Genauigkeit und drückt unaufhörlich auf Schmerzpunkten herum wie: Ja, was ist denn exakt an die ARGE vermietet? Gehört der Eingangsbereich mit den Warteschaltern dazu, und wer ist da der „Hausrechts-Berechtigte"? Herr Picker als Urheber des Hausverbots bleibt schwammig, konzediert aber immerhin, daß es sich um ein „öffentliches Gebäude" handelt. Also eben nicht um ein Privatareal, in dem jeder eingebildete Inhaber irgendeiner vermeintlichen Hausmacht schalten und walten kann, wie er gerade mal lustig ist. Zu diesem öffentlichen Gebäude bestehe denn auch allgemeines Zutrittsrecht, räumt Herr Picker ein, „solange der Geschäftsbetrieb nicht gestört wird". Ob das überhaupt der Fall war, darüber gingen die Meinungen im Gerichtssaal freilich weit auseinander. Es scheint notwendig, in unserer nächsten Ausgabe weiter darüber zu berichten, weil einiges nicht mit rechten Dingen zuging. (HDH)

Lesen Sie dazu auch den Beitrag ARGE - Polizeieinsatz gegen Selbsthilfegruppe


"Rheinhören" in die NRhZ 
  und hören Sie Jochen Lubig (KEAs) zum ARGE-Zwischenfall



Online-Flyer Nr. 202  vom 17.06.2009

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