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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Wirtschaft und Umwelt
Handys und Mobilfunkmasten setzen Zellen unter Stress
Und lassen die Regierung lügen
Von Professor Karl Richter

Wie gefährlich sind Handys und Mobilfunkmasten wirklich? Fast alle lieben ihr Handy und die schöne kabellose Welt – und neigen dazu, die aufgeworfene Frage zu verdrängen. Die neue Broschüre “Zellen im Strahlenstress“ des Stuttgarter Vereins zum Schutz der Bevölkerung vor Elektrosmog e. V. beantwortet sie gleich in zweifacher Hinsicht. Sie handelt aus medizinisch-biowissenschaftlicher Perspektive von dem Zellgeschehen, das die elektromagnetischen Felder in Gang setzen. Aber sie ist auch eine Recherche über wissenschaftliche und politische Verhältnisse, die sich im Gefolge der jungen Kommunikationstechnologien mehr und mehr ausgebreitet haben.

Demonstration gegen den Bau von Handymasten in Stuttgart
Quelle: www.der-mast-muss-weg.de/
 
Biologische Mechanismen der Wirkung
 
Während Bundesregierung und Industrie gemeinsam behaupten, es gäbe keinerlei Forschungsergebnisse, die Risiken der Mobilfunktechnologie beweisen, erfährt man in dieser Publikation anderes. Sie bietet einen differenzierten Einblick in die biologischen Mechanismen der Wirkung. Den Ausgangspunkt bilden zwei unbestrittene Grundtatsachen: Zellvorgänge werden elektrisch und elektromagnetisch gesteuert; und Lebewesen brauchen dazu die ungestörte natürliche Strahlungsumgebung. Von da aus nimmt die Darstellung auch den Nichtbiologen auf eine spannende Reise in das Innere unserer Zellen mit. Sie zeigt, wie und warum die elektromagnetischen Felder des Mobilfunks das Zellgeschehen stören.
 
Ausführlich werden Forschungsergebnisse mitgeteilt, die nachweisen, dass die gepulste Mikrowellenstrahlung zellschädigende “Freie Radikale“ generiert und damit eine Reihe von Krankheiten auslösen kann. U. a. wird gezeigt, welche zellulären Prozesse unter dem Einfluss der Strahlung zu Kopfschmerzen, Erschöpfung, Spermienschädigungen oder Krebs führen können. Die oft sehr komplexen Prozesse werden mit Hilfe von Grafiken verständlicher gemacht. Materialreiche Fußnoten dokumentieren den internationalen Stand der Forschung und belegen auf überzeugender Grundlage, dass die These, man kenne noch keine Wirkmechanismen der Schädigung, eindeutig falsch ist.
 
Gesellschafts- und Wissenschaftskritik
 
Zu den Besonderheiten der Studie gehört, dass sie die biowissenschaftlichen Informationen in einen gesellschaftskritischen Kontext einbettet. Nach allgemeiner Auffassung hat der Staat die Aufgabe, seine Bürger vor den Wirkungen einer profitgierigen Industrie zu schützen. Hier erfährt man, auf welchen Wegen die Verstrickung des Staates in die Geschäfte der Mobilfunkindustrie diese Kontrollfunktion zugunsten einer Komplizenschaft aufgehoben hat. Gezeigt wird, was alles verschwiegen wird - etwa die Erkenntnisse einer besonderen Schädlichkeit der UMTS-Technologie. An den Gründen dieses Verschweigens wird kein Zweifel gelassen: „Einer staatlich geförderten unabhängigen Forschung müsste höchste Priorität eingeräumt werden. Aber 50 Milliarden Euro Lizenzgebühren definieren Gesundheit zur Gesundheit der Staatskasse um.“
 
Die Broschüre enthüllt an zahlreichen Beispielen die lobbyistische Unterwanderung von Politik und Gesellschaft, die sich nicht zuletzt im Festhalten an weit überhöhten Grenzwerten, aber auch z. B. in Gefälligkeitsgutachten äußert und in die Verharmlosungen durch das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm hineinreicht. Die 16-seitige Beilage “Von subtiler Fälschung zur Wissenschaftskriminalität“ dokumentiert, wie Wissenschaftler dem Staat und der Industrie behilflich sind, unbequeme Forschungsergebnisse zu zerreden oder zu verfälschen. Faktenreich wird belegt, wie Regierung, Bundesamt für Strahlenschutz und andere Behörden mit der Wahrheit umgehen und wichtige Errungenschaften demokratischer Kultur gegen die Wand gefahren werden. Die Beilage folgt der Analyse des Soziologen Ulrich Beck, der in seinem Buch “Weltrisikogesellschaft“ die betriebene Umweltpolitik als System „organisierter Unverantwortlichkeit“ beschreibt: Regierung und Behörden sind zu Legitimationsorganen der Industrie verkommen, auch die Medien an der Verleugnung der Wahrheit beteiligt. Die Gesellschaft wird als lobbyistischer Sumpf gesehen, in dem nur Bürgerbewegungen noch nach der Wahrheit streben.
 
Mancher Wissenschaftler, der mit Rücksicht auf seine Existenz nicht alles sagen kann, wird gut informierten Bürgerinitiativen diesen Mut zur Wahrheit danken, auch wenn die ungewöhnliche Deutlichkeit der Aussagen nicht immer der ihm vertrauten wissenschaftlichen “Dezenz“ (= Zurückhaltung, PK) entspricht. Die Schrift ist ein bemerkenswertes wissenschaftskritisches Dokument gerade auch deshalb, weil Bürger die deutliche Kritik formuliert haben.
 
Zwischen Anklage und Aufforderung zum Selbstschutz
 
Die Schrift formuliert von Anfang bis Ende eine herbe Anklage, die sich gleichermaßen gegen eine profitgierige Industrie, einen pflichtvergessenen Staat und eine Wissenschaft ohne Gewissen richtet. Lassen wir sie mit dem Schluss der Beilage am besten selbst sprechen:

„Die zunehmende Dichte und Stärke der elektromagnetischen Felder, die inzwischen das natürliche Vorkommen millionenfach übersteigen, stören heute schon das sensible Gleichgewicht in allen Lebensabläufen. Deshalb ordnet die Europäische Umweltagentur (EUA) den Mobilfunk in eine Gefahrenkategorie mit dem Klimawandel und den genveränderten Organismen (GVO) ein, als einen Bestandteil der Umweltkatastrophe. Das hat jetzt auch der BUND erkannt und lehnt diese Technik kategorisch ab.


Risiko Mobilfunk - BUND stellt 10 Punkte-Programm in Stuttgart vor
Quelle: www.der-mast-muss-weg.de/
 
Darauf zu vertrauen, dass die herrschende politische und wirtschaftliche Elite die Umweltfragen lösen werden, ist so, als würde man eine Gruppe von Alkoholikern bitten, eine Bar vernünftig zu leiten. Wie die gegenwärtige Wirtschaftskrise zeigt, macht die Gier nach Profit skrupellos und besoffen. Es geht nicht darum, die bürgerlichen Politiker zu überzeugen, ihnen liegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, sondern sie unter Druck zu setzen und politische Reformen zu verlangen. Die Studie der EUA zeigt deutlich, dass die Frage “Gesundheitsschutz oder Profit“ eine System- und Machtfrage ist. Die fortschrittliche Wissenschaft muss deshalb der Erkenntnis der Wahrheit und dem politischen Widerstand dienen.“
 
Aber das Wissen begründet im Verständnis dieser Schrift nicht nur die scharfe Kritik. Es will auch Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Denn wer das Gefahrenpotenzial kennt, kann sich und seine Kinder auch besser dagegen schützen!
 
Beteiligte Wissenschaftler aus gutem Grund nicht genannt
 
Für den Wissenschaftler ist es ungewohnt, auf dem Titelblatt nur ein Autorenkollektiv, keine Verfassernamen angegeben zu finden, womit es jedoch seine besondere Bewandtnis hat. Tatsächlich haben Wissenschaftler vor Ort mitgewirkt, die sich aber z. T. nicht nennen können, ohne ihre Stellung zu gefährden – so weit haben wir es mit unserer Demokratie immerhin gebracht! Aber die individuelle Leistung scheint hier auch beinahe nebensächlich gegenüber der gemeinschaftlich erarbeiteten Information, was man im Fall einer populärwissenschaftlichen Schrift auch leichter goutieren kann als in einer fachwissenschaftlichen Publikation.
 
Der Anspruch der Schrift ist in dieser Hinsicht nicht ganz einfach zu beurteilen. Sie zeigt ein wissenschaftliches Informationsniveau, das man manchem heutigen Politik-Berater nur wünschen würde. Sie ist im besten und anspruchsvollsten Sinne “Populärwissenschaft“, die ihre Aufgabe auch darin sieht, Erkenntnisse fachwissenschaftlicher Literatur dem Laien zu vermitteln und für ihn leichter lesbar zu machen. Und sie ist zugleich eine interdisziplinäre Schrift, die naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Orientierungen verbindet. Aber sie ist gerade auch in diesen Vermittlungen des zunächst Auseinanderliegenden ein bemerkenswertes Dokument, das zeigt, zu welchem wissenschaftlichen und ethischen Niveau, aber auch welcher politischen Bewusstheit es Bürgerinitiativen heute zuweilen gebracht haben! (PK)
 
"Zellen im Strahlenstress - Warum Mobilfunkstrahlung krank macht. - Eckpunkte internationaler Mobilfunkforschung“, Autorenteam Stuttgart, Hrsg.: Verein zum Schutz der Bevölkerung vor Elektrosmog e.V. Stuttgart, 52 Seiten, vierfarbig, 20 Bilder und Grafiken, Stuttgart, Mai 2009, 6.00 € zzgl. Porto und Versandkosten

 
Mehr über den Stuttgarter Verein zum Schutz der Bevölkerung vor Elektrosmog e. V. unter www.der-mast-muss-weg.de

 
Professor Dr. Karl Richter ist Mitbegründer der "Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie e.V." (www.kompetenzinitiative.de), einer international tätigen Organisation von namhaften Wissenschaftlern, Ärzten, Technikern, Professoren und umweltengagierten Vereinigungen. Vor seiner Emeritierung im Jahr 2002 war er Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft. Bekannt wurde er aber auch für seine interdisziplinären Arbeiten, die ihm auf anderer Ebene den Zugang zu Fragen der Kommunikationsfunktechnik und ihrer Wirkungen erleichtert haben.

Online-Flyer Nr. 202  vom 17.06.2009

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