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Aktueller Online-Flyer vom 27. April 2024  

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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 8
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 200.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                      
5. Kapitel

Er bog um eine scharfe Kurve, und vor ihm öffnete sich eine weite Fläche. Zerbrochene Betonflächen zeigten, wo Lagerhallen gestanden haben mussten. Sträucher und junge Bäume wurzelten in Rissen und Spalten. An einigen Stellen waren sie zu kleinen Wäldchen aufgeschossen. Mitten durch das Gebiet, das sich – wahrscheinlich ein altes Industriegelände – gut und gerne acht- bis neunhundert Meter erstreckte, lief ein Bach. Wie mit der Schnur gezogen floss er durch ein längst zerborstenes Betonbett, die Weiden an seinem Rand waren schon stattliche Bäume. Wo er die Straße kreuzte, wölbte sich eine Brücke, und auf der Brüstung der Brücke saß ein Mann mit übergeschlagenen Beinen und angelte.

Das Gefühl, aus Versehen in eine fremde Welt katapultiert worden zu sein, verstärkte sich noch etwas mehr. Die Leute, die ihn angegriffen hatten, sie waren fremd gewesen, erschreckend – aber wenn er den Gedanken zuließ, dass es in seiner Welt doch Armut gab und Arbeitslosigkeit, dann könnten sie vielleicht so aussehen. Dieser Mann hier hatte mit seiner Welt gar nichts mehr zu tun. Er trug ein Schaffell als Jacke, die Beine steckten in einer geschnürten Lederhose. Auf dem Kopf saß ein gigantischer Filzhut, zerknautscht, verbeult mit riesiger Krempe, und darunter stieg der Rauch einer Pfeife hervor. Schlohweiße Haare flossen bis über seine Schultern hinab. Ein paar Jahrhunderte zurück, an einem einsamen See oder Flussufer, da hätte die Gestalt vielleicht gepasst.

Aber hier, auf dieser zerbröckelnden Betonbrüstung mitten in der Stadt, zumal in diesem Albtraum von einer Stadt, das wirkte mehr als nur fremdartig, es war surreal. Vor allem, weil dieser Mann etwas ausstrahlte, das Kevin nicht erfassen konnte, was ihm in einer nur schwer zu beschreibenden Weise fremd war und unbegreiflich. Es war eine gelassene Ruhe, die einfach da saß, über den Bach schaute und wahrscheinlich noch nicht einmal etwas dachte. Es war ein Bild, das Frieden ausstrahlte. Ein Bild, das die Angst in Kevin etwas besänftigte und zugleich eine eigenartige Sehnsucht wach rief.


Niemand war hier zu sehen bis auf den Mann, und durch die weite Fläche des abgerissenen Industriegeländes konnte Kevin die Straßen weit überblicken. Er hielt den Wagen auf der Brücke an und stieg aus. Er schloss die Tür absichtlich etwas geräuschvoller, um sich bemerkbar zu machen, aber der Angler drehte sich nicht um.

Kevin trat neben ihn an die Brüstung. Er hatte keine Ahnung, wie er ihn ansprechen sollte, ihm standen noch nicht einmal solche Floskeln wie „Schönes Wetter heute“ oder ein nonchalant hingeworfenes „Petri Heil“ zur Verfügung. So stellte er sich einfach hin und schaute über die weite Fläche mit den Büschen und Bäumen und den hier und da aufragenden Mauerresten, die etwas von Felsen in karger Landschaft hatten. Und etwas in Kevin wurde ruhig. Er stand und schaute und dachte nichts. Der Wind zauste in seinen Haaren, Regentropfen trafen kühl sein Gesicht, und ringsum war es gänzlich still. Mit einer gewissen Scheu schaute er auf den Mann neben sich.

"Navigator" Norman Liebold Illustration: Björn „The Hoink” Zutt
Illustration: Björn „The Hoink” Zutt                      
Unter der breiten Krempe des Filzhutes lag das älteste Gesicht, das Kevin jemals gesehen hatte. Es war verschrumpelt wie ein Bratapfel, der Mund zahnlos eingefallen. Aber aus der zerknitterten Landschaft schauten leuchtend hell und wasserblau zwei unglaublich wache und frische Augen heraus. Im faltigen Mundwinkel hing eine Pfeife, aus der ab und zu ein Wölkchen stieg. Der Alte schaute über Bach und Gelände hinweg zum Horizont, seine Hände lagen ruhig um den Schaft seiner Angel. Er wirkte, als würde er lauschen.

Kevin lauschte ebenfalls, und tatsächlich, kaum wahrnehmbar im Geräusch des Windes, war etwas wie ein Schreien oder Rufen, weit oben, in den Wolken. Kevin war sich nicht sicher, ob er es sich einbildete, aber es wurde lauter, und als er nach oben schaute, sah er sie: In großer Pfeilformation zogen Vögel über den Himmel. Der Alte lächelte und nickte. „Na endlich“, murmelte er mit tiefer, knarziger Stimme am Mundstück der Pfeife vorbei. „Die Kraniche. Wurde auch Zeit.“ Er drehte den Kopf und schaute Kevin an. Er lächelte nicht. Und er verzog auch sonst keine Miene. Er schaute ihm einfach in die Augen, dann, mit aller Gelassenheit der Welt, ließ er seinen Blick an ihm hoch und wieder hinunter wandern. Er ließ sich Zeit, er sagte nichts, er schaute nur. Dann nahm er die Pfeife aus dem Mund. „Falsch abgebogen, wie?“ Er grinste.


Kevin wollte den Mund öffnen und dem Alten erklären, dass falsch abgebogen wohl kaum angemessen war, wenn man vom Blitz getroffen wird und völlig orientierungslos Stunden um Stunden durch einen Albtraum irrt und alles, was man von der Welt wusste, plötzlich nicht mehr gilt. Aber die hellen, klaren Augen ihm gegenüber und das zahnlose Lächeln, sie wussten das alles. Das und noch mehr. Irgendwie war er falsch abgebogen. Und es dämmerte ihm, das seine Welt ein schmaler Grat war, ein Grat, von dem man nicht eine Haaresbreite abkommen durfte, weil rechts und links das Grauen wohnte. Der Alte holte seine Angel ein, zerlegte sie langsam mit einer gewissen Zärtlichkeit und verstaute sie in einem Köcher aus grünem Segeltuch.

„Das reicht für heute“, erklärte er. Er knotete ein Seil von einem verbogenen Stück Metall, das aus dem Beton ragte, und begann, etwas herauf zu hieven. Er keuchte hörbar. Plötzlich hielt er inne und schaute mit gerötetem Gesicht Kevin an. „Nun pack schon mit an!“ Er schüttete mit dem Kopf, während er weiter Hand über Hand das Seil nach oben zog. Kevin brauchte einen Moment, er musste sich überwinden, er wusste nicht, wie er anpacken sollte. Als er schließlich etwas unbeholfen nach dem Seil griff, war der Alte schon fast fertig.

Kevin fühlte sich auf eine seltsame Weise beschämt, er war noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dem Greis zur Hand zu gehen, obwohl der sich sichtlich mühen musste. Ihm fiel auf, dass er so gut wie nie mit alten Menschen zu tun hatte. Seine Eltern waren in einem Seniorenpark, und er kam nur selten dorthin. Es machte ihm ein unangenehmes Gefühl, dieser aseptische Geruch, die Dauerberieslung aus den Lautsprechern, die apathischen Gesichter. Und ansonsten kannte er keine Alten. Er hatte nie darüber nachgedacht. Jetzt, wo er Hand über Hand das Seil einholte und gleich neben ihm die tausend Runzeln und Fältchen des alten Anglers waren, fragte er sich, wo die ganzen alten Menschen waren – jeder wurde doch schließlich irgendwann alt.


Was wusste er überhaupt von dieser Welt?

Unter ihm am Seil schwang eine Art Korb hin und her, ein Kasten aus Weidengeflecht, in dem mehrere Fische wild hin und her schnellten und mit weit aufgerissenen Mäulern nach Atem rangen und glotzäugig starrten.

Jeden Morgen war er in seinen Wagen gestiegen, hatte sich die immerselbe Strecke bis ins Büro bringen lassen. Natürlich war er abends auch ausgegangen, natürlich hatte er ab und zu Urlaub gemacht. Aber war das nicht auch in so engen Bahnen gewesen, ohne rechts und links? Er kannte ja noch nicht einmal die Strecke, die er seit vier Jahren tagtäglich gefahren war, ein paar Hundert Meter vom gewohnten Gleis war er hilflos in eine fremde Welt geworfen.

Der Weidenkasten war oben, sie stellten ihn auf die Brüstung. Der Alte wickelte einen Draht ab und öffnete eine Klappe. Er griff hinein, holte einen Fisch heraus und schlug ihn mit dem Kopf kurz und hart gegen den Beton. Mit den anderen Fischen verfuhr er genauso, legte sie in den Kasten zurück und drückte ihn Kevin in die Hand. Dann schulterte er den Köcher mit der Angel und deutete auf die weite, leere Fläche des abgerissenen Industriegeländes hinaus. „Ich mach uns einen Tee“, erklärte er. „Und dann den Fisch zurecht. Du isst doch Fisch?“

Kevin nickte mit leichter Übelkeit. So seltsam das alles war, er war dem Alten dankbar, dass er die Führung übernahm. Er war gestrandet in dieser Welt. Er räusperte sich und fragte: „Können Sie mir sagen, wie ich ...“

Er stockte.

Was sollte er sagen? Nichts wollte recht passen. Sollte er fragen, wie er zu den Büros der European Bank kam?

Diogenes "Navigator" Norman Liebold  Illustration: Martin Welzel
Illustration von Martin Welzel. Er war von der „Angelszene" (zu Anfang des Kapitels) so angetan, dass er dieses Aquarell anfertigte und uns freundlicherweise zur Verfügung stellte.

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!


"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 201  vom 10.06.2009

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