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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Literatur
Eine gesellschaftskritische Zukunftsnovelle in Fortsetzung – Teil 7
„Navigator“
Von Norman Liebold

„Navigator“ ist die Geschichte eines jungen Mannes etwa zu Mitte des 21. Jahrhunderts, der durch ein plötzliches Ereignis von seinem vorgefertigten Weg abkommt und eine unerwartete Realität um sich herum entdeckt – eine von ihm unerwartete: Es sind deutliche Tendenzen in der heutigen Gesellschaft absehbar. So bleibt zu hoffen, dass nicht alles, wie Liebold es in seiner „dystopischen Novelle“ beschreibt, am Ende so eintrifft. Denn, noch ist die Zukunft nicht geschrieben – die Redaktion.

Fortsetzung aus der NRhZ, Ausgabe 199.
   

"Navigator" Kompass Windrose eine Novelle von Norman Liebold
                                                                                    
4. Kapitel (Fortsetzung)

Mit einem weiteren Rumpeln und Metall-Kreischen rollte der Wagen weiter. Am Rand der Straße hatten sich Leute versammelt, Leute in alten Klamotten, die nicht richtig passten und billig aussahen. Die Männer hatten die Hände tief in die Taschen gerammt, die Frauen die Arme vor der Brust verschränkt. Sie sahen primitiv aus, die grobschlächtigen Gesichter waren in der Überzahl. Kevin hatte noch nie so viele hässliche Menschen auf einmal gesehen. Gesichter wie aus einem Klotz gehauen, die meisten aufgedunsen, fettleibig, kränklich blass mit dunklen Schatten unter den Augen. Und wie sie angezogen waren! Das war mehr als schlechter Geschmack, Kevin ekelte sich geradezu: über Pantoletten aus pinkem Kunststoff hautenge Leggins, die Fettwülste in absonderlichste Beulen quetschten. Darüber viel zu weite Pullover und im grell geschminkten Maul mit mehr Lücken als Zähnen: Zigaretten kleben. Karikaturen, dachte Kevin. Das können nur völlig übertriebene Karikaturen sein!

Die Karikaturen am Straßenrand wurden immer mehr. Sie – Kevin kam das Wort in den Kopf – rotteten sich. Die Art, wie sie die Köpfe leicht zwischen die Schultern gezogen hatten und in seine Richtung starrten, sie war – so krass, so seltsam, so abstoßend absurd sie auch sein mochte – beängstigend. Bedrohlich. Sie starrten und rauchten. Starrten und rotteten sich. In Gruppen kamen sie vom Gehsteig auf die Straße, während Kevin nicht schneller als Schritt fahren konnte. Sie gingen neben ihm her, weitere stießen hinzu. Sie kamen wie Ratten aus ihren Löchern. In Leggins und ausgebeulten Jeans und alten Pullovern. Unrasiert, aufdringlich grell geschminkt. Mit Löchern im Maul. Jetzt waren sie neben dem Auto.

Mit vor Hass verzerrtem Mund starrte ein Mann durch das Fenster. Ohne jede Vorwarnung schoss seine Hand nach vorn. Die Knöchel seiner Faust prallten gegen die Scheibe, ein dumpfes Geräusch, laut und brutal. Gleich darauf schlug ein anderer vorn gegen die Windschutzscheibe. Blechern knallte es gegen die Türen, auf das Dach.

Das musste ein Albtraum sein, etwas anderes war nicht denkbar!

Einer der Männer hatte plötzlich eine Metallstange in der Hand, ein Brecheisen oder ein Stahlrohr. Kevin sah im Rückspiegel, wie er sie zum Schlag hob. Er gab Gas, die Schlaglöcher waren egal. Der Wagen beschleunigte, ruckte nach vorn. Im Spiegel sah er, wie der Mann mit dem Brecheisen zuschlug. Ein heftiger Knall vom Kofferraum. Der Schlag hätte mit Sicherheit die Heckscheibe zertrümmert. Vor seinem inneren Auge sah Kevin sich von haarigen Händen gepackt und durch das zersplitterte Fenster gezerrt. Der Hass in den Augen würde überlaufen und zu Tritten werden. Zu Schlägen. Er sah sich neben dem Wagen auf dem rissigen Asphalt liegen. Aus einer klaffenden Wunde in seinem Schädel pulste sein Leben heraus und färbte das Wasser in den Schlaglöchern rot.

Zeichnung Comicstyle „Mob“ - Illustration: Björn „The Hoink” Zutt
Illustration: Björn „The Hoink” Zutt  

Er raste die Straße hinunter, die Leute blieben zurück, schrieen und schüttelten Fäuste. Noch zweimal knallten dumpf Steine gegen Scheibe und Blech. Der Wagen sprang und hüpfte, ratterte und polterte. Einmal war ein Schlagloch so tief, dass er mit der Schnauze funkensprühend aufsetzte und nur durch den Schwung der beschleunigten Masse wieder herausgeschleudert wurde. Dann waren die Straßen wieder leer, er irrte weiter, kreuz und quer durch verfallene Straßenzüge. Geschäfte sah er keine, nur an der einen oder anderen Straßenecke etwas, das wir Heutigen Kiosk nennen würden. Männer mit Flaschen in der Hand standen davor, im Mundwinkel qualmende Zigaretten. Ihre Gesichter waren aufgedunsen. Der Blick träge und stier. Und in jeder Falte, auf jedem Stoppel der Gesichter saß wie zäher Staub, wie grau-schmieriger Schleim die Hoffnungslosigkeit.

Kevin wusste nicht zu sagen, wie lange er über diese zerstörten Straßen fuhr. Er konnte nicht einschätzen, wie groß dieses Viertel, dieses Gebiet, diese Welt war – es kam ihm vor, als ob er durch irgendein schwarzes Loch in eine andere Wirklichkeit gefallen war, in ein Paralleluniversum, in eine kaputte, kranke Version seiner Welt. Eine Version, in der die Wirtschaft sich nicht erholt und den Menschen keinen allgemeinen Wohlstand gebracht hatte. In der die Technik nicht über Armut und Krankheit gesiegt hatte. Eine Wirklichkeit, die noch nach dem Kohlenstaub des neunzehnten Jahrhunderts stank, nach Massenarbeitslosigkeit und Verzweiflung.

Er bog willkürlich in Straßen ein. Er hatte keine Ahnung, wo er war, er wusste nicht, wohin er musste, noch nicht einmal die grobe Richtung. Vielleicht hätte er, wenn er in eines der Häuser gegangen und bis zum Dach hinauf gestiegen wäre, den Dom sehen können, den Rhein, irgend etwas anderes, das er einordnen konnte. Aber er traute sich nicht, stehen zu bleiben und auszusteigen. Aus den Fenstern schauten Gesichter, Gardinen bewegten sich, wenn er vorüber fuhr. Er hörte schon das zornige Rufen, sah geschüttelte Fäuste, fliegende Steine.

Ihm war nur noch die absurde, nach Verzweiflung schmeckende Hoffnung geblieben, dass er, wenn er weiter und weiter fuhr, irgendwann aus diesem Albtraum heraus kam, in irgendeine Straße einbog und der Asphalt keine Löcher mehr hatte und keine Risse, dass die Häuser nicht mehr aussahen, als stünden sie kurz vor dem Abriss mit eingeworfenen Scheiben, zugenagelten Fenstern.


Und so fuhr er und fuhr, nahm wahllos Abzweigungen und sah den Füllstand des Wasserstoffs immer weiter sinken. Er wusste nicht, was er tun sollte, wenn die Anzeige erst in den roten Bereich geraten und dann der Wagen stehen bleiben würde. Er hatte noch zu deutlich das Bild vor seinem inneren Auge, wie man ihn durch die zerschlagene Heckscheibe nach draußen zerren könnte und die aufgebrachten Menschen ihn traten und schlugen.

Lesen Sie auch in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Norman Liebolds Novelle!



"Navigator" von Norman Liebold Amator Veritas Verlag Cover
                                           



„Navigator

Dystopische Novelle

von Norman Liebold
Amator Veritas Buch XLIV, Dez. 2008
84 Seiten, Paperback broschürt. Format 128×210mm
8,60 Euro (keine Versandkosten)
ISBN-10: 3-937330-29-7
ISBN-13: 978-3-937330-30-3

 

Norman Liebold, Foto Vera Walterscheid
Liebold | Foto: Vera Walterscheid
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) geboren, kann mit gutem Gewissen als „Universalkünstler“ bezeichnet werden. Der Grafiker, Schauspieler, Fotograf, Webdesigner, jedoch nach eigener Auskunft „in erster Linie Autor“, hat in nur wenigen Jahren 18 Bücher veröffentlicht. Neben epischer Dichtung, Theaterstücken, Kunstmärchen und sozialkritischen Novellen zeichnen die von ihm ins Leben gerufenen „Siebengebirgskrimis“ den bei Königswinter lebenden Autor aus. Doch allen Werken Liebolds gemein ist ihr gesellschaftskritischer Charakter.
Weitere Informationen auf der umfangreichen Webseite des Autors. (CH)


Online-Flyer Nr. 200  vom 03.06.2009

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